Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für einen afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  Au 5 K 17.31376

Datum:
12.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2405
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Dem erst kürzlich volljährig gewordenen Kläger würde es bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht gelingen, sein Existenzminimum zu sichern, da er sich zuletzt als Zweijähriger in Afghanistan aufgehalten hat, einen erheblichen psychischen Reifungsrückstand sowie diverse psychische Erkrankungen aufweist, über keine Ausbildung verfügt und in Afghanistan keine Verwandten hat.  (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Der Bescheid der Beklagten vom 3. März 2017 wird Nrn. 4 bis 6 aufgehoben, soweit er dieser Feststellung entgegensteht.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 2/3, die Beklagte zu 1/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder in Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger Vorsicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG), konnte gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung über die Klage des Klägers entscheiden. Der Kläger hat sein Einverständnis mit einer solchen Entscheidung mit Schriftsatz vom 13. Februar 2018 wirksam erklärt. Das Einverständnis der Beklagten gilt aufgrund der allgemeinen Prozesserklärungen des Bundesamtes vom 27. Juni 2017 (Gz.: 234-7604/1.17) als erteilt. Eine hiervon abweichende Erklärung hat die Beklagte für das vorliegende Verfahren nicht beigebracht.
Der Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugrunde zu legen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 13. Februar 2018 zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nurmehr der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Die Klage ist mit dem mit Schriftsatz vom 13. Februar 2018 noch aufrecht erhaltenen Teil zulässig und begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte ein Anspruch auf Feststellung, dass ihm die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 3. März 2017 war daher in dessen Nrn. 4 bis 6 aufzuheben.
3. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) (BGBl 1952 II Seite 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt dabei voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13A B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen im Fall des Klägers vor. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre.
In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13A ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Insbesondere für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht in aller Regel die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Afghanistan aufzubauen (stRspr. des BayVGH, vgl. u.a. B.v. 30.7.2015 – 13A ZB 15.30031 – juris Rn. 10; U.v. 15.3.2012 – 13A B 11.30439 – juris Rn. 25). Ob jedoch wegen besonderer individueller Umstände des Ausländers eine Ausnahme vorliegt, lässt sich hingegen nicht allgemein beantworten.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund des Alters des Klägers, der gerade erst volljährig geworden ist und den Gesamtumständen seines bisherigen Lebens nach Überzeugung des Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben. Wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne Hilfe nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in eine existenzielle Notlage geraten würde.
Der Kläger hat sich seit seiner frühesten Kindheit, seit er etwa zwei Jahre alt war, nicht mehr in seinem Heimatland aufgehalten. Er ist daher mit den Lebensumständen in Afghanistan nicht vertraut. Zudem kann der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben im Verfahren nicht auf eine familiäre Unterstützung in Afghanistan zurückgreifen, da sich seine Familienangehörigen im Iran aufhalten. Über Verwandtschaft in Afghanistan verfügt der Kläger nicht.
Zwar ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs grundsätzlich davon auszugehen, dass ein spezielles „Vertrautsein“ mit den Verhältnissen in Afghanistan in der Regel nicht erforderlich ist und junge alleinstehende Männer auch ohne familiäre Unterstützung in der Lage sind, sich ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten (vgl. u.a. BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 13A ZB 16.30600 – juris Rn. 7). Es hängt jedoch wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab, wann allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot führen. Daher erfordert diese Beurteilung eine Prüfung der Umstände im konkreten Einzelfall. Anhand dieser Prüfungskriterien ist vorliegend in einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall vorliegt.
Vorliegend ist das Gericht aufgrund der im Verfahren gewonnen Erkenntnisse der Überzeugung, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen einer Gesamtscheu in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Überlegungen. Zum einen ist der Kläger gerade erst einmal 19 Jahre alt und erschwerend kommt für ihn hinzu, dass er seit seinem zweiten Lebensjahr ausschließlich im Iran gelebt hat. Darüber hinaus verfügt der Kläger über keinerlei Familienangehörige in Afghanistan mehr, die ihn finanziell oder in sonstiger Weise bei einer unterstellten Rückkehr unterstützen könnten. Auf eine solche Unterstützung dürfte der Kläger jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan zwingend angewiesen seien. Der Kläger hat darüber hinaus keinen Schulbesuch vorzuweisen. Auch nennenswert gearbeitet hat er im Iran nicht. Nach seinem eigenen Vortrag hat er lediglich geringfügige Hilfstätigkeiten für seinen Vater im Baugewerbe ausgeführt. Über eine weitergehende Berufsausbildung bzw. -erfahrung verfügt der Kläger nicht. Hinzu kommt, dass der Kläger sich nach wie vor in einer Jugendhilfeeinrichtung aufhält. Nach den im Verfahren vorgelegten fachärztlichen Berichten über den Kläger leidet dieser an erheblichen psychischen Reifungsrückständen, mit der Folge, dass seine emotionale Verfassung nicht seinem realen Alter entspricht. Die Jugendhilfebetreuung wurde für den Kläger über dessen Volljährigkeit hinaus fortgesetzt und deren Dauer ist derzeit nicht abschätzbar. Weiter liegen beim Kläger diverse psychische Erkrankungen, die fachärztlich bestätigt wurden, vor. Dass der Kläger bei dieser Sachlage zu einer eigenständigen Lebensführung in Afghanistan in der Lage sein könnte, ist für das Gericht nicht im Ansatz erkennbar.
Der Kläger wäre deshalb bei einer Rückkehr nach Afghanistan darauf angewiesen, im als gerichtsbekannt hart umkämpften Arbeitsmarkt als ungelernte Kraft sein Existenzminimum sicherzustellen. Dies dürfte im Hinblick auf die vermehrt schwierige Wohnungssituation und die Tatsache, dass es sich beim Kläger um eine ungelernte Kraft handeln würde, dem Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Als Volkszugehöriger der Hazara, der als solcher auch zu erkennen ist, dürfte der Kläger weitergehende Schwierigkeiten haben, eine angemessene Unterkunft zu finden bzw. auf dem Arbeitsmarkt, in den viele zurückkehrende Flüchtlinge drängen, Fuß zu fassen. Der Kläger entspricht daher nicht dem Regelfall des jungen, volljährigen und alleinstehenden Afghanen, dem eine Rückkehr zugemutet werden kann. In einer Gesamtschau der einzelnen Faktoren, die in der Person des Klägers vorliegen, ist davon auszugehen, dass ein Ausnahmefall gegeben ist.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger haben dürfte, überhaupt eine adäquate Unterbringung in Kabul zu finden bzw. als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die über dies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12. August 2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben des Klägers in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem Kläger nicht gelingen wird, sich in Afghanistan im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, um Wohnmöglichkeiten oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, die ihrerseits rücksichtslos für ihre eigenen Interessen kämpfen.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
4. Der Klage war daher, soweit sie im Schriftsatz vom 13. Februar 2018 noch aufrechterhalten wurde, stattzugeben. Nrn. 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes vom 3. März 2017 waren aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbotes war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des mit der Klage angegriffenen Bescheids aufzuheben, soweit dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde. Die Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung erweist sich im Hinblick auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als rechtswidrig (Vgl. BVerwGE, Urteil vom 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei der Tatsache, dass der Kläger mit dem aufrechterhaltenen Teil der Klage vollständig obsiegt hat und der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen