Aktenzeichen Au 5 K 17.31529
Leitsatz
1 Für besonders schutzbedürftige Rückkehrer, die aufgrund persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, kann sich in Kabul als regelmäßigem Zielort der Abschiebung, aber auch in allen anderen Landesteilen Afghanistans, eine extreme Gefahrenlage ergeben. Die zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die Gefährdungen weisen eine Intensität auf, bei der auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2 Grundsätzlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste. Alleinstehende junge arbeitsfähige Männer haben in der Regel die Möglichkeit, sich in Afghanistan eine neue Existenz aufzubauen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein alleinstehender Vater mit zwei kleinen Kindern würde in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, weil er wegen der Kinderbetreuung und fehlendem familiären Rückhalt eine existenzsichernden Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen könnte. Die Rückkehrhilfen wären nicht ausreichend, um ein dauerhaftes Überleben zu gewährleisten. (Rn. 30 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. März 2017 verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 5. Februar 2018 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Soweit der Kläger die Klage in Bezug auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 3 AsylG, und in Bezug auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, § 4 AsylG, zurückgenommen hat, wird das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.
2. Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie zulässig und begründet.
Der Kläger hat unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 2. März 2017 einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Wegen des unteilbaren Streitgegenstandes bezieht sich die Klage auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Schlechte humanitäre Bedingungen könne eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK führt. Das kommt angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in Betracht (BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212). Für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, kann sich in Kabul als regelmäßigen Zielort einer Abschiebung, aber auch in allen anderen Landesteilen Afghanistans eine extreme Gefahrenlage ergeben. Die in Afghanistan zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen dann eine Intensität auf, bei der auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen eine solche Gefahrenlage anzunehmen mit der Folge, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. Daran hat sich auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel nichts geändert (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris Rn. 15 ff. m.w.N.).
Gemessen an diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen im Fall des Klägers vor. Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass sein Existenzminimum nicht mehr gesichert wäre.
In der Gesamtschau der ins Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnismittel ist zwar nicht davon auszugehen, dass jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Afghanistan erleiden müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016 S. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5). Insbesondere für alleinstehende, junge und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen, besteht in aller Regel die Möglichkeit, sich eine neue Existenz in Afghanistan aufzubauen (stRspr. des BayVGH, vgl. u.a. B.v. 30.7.2015 – 13a ZB 15.30031 – juris Rn. 10; U.v. 15.3.2012 – 13a B 11.30439 – juris Rn. 25). Ob jedoch wegen besonderer individueller Umstände des Ausländers eine Ausnahme vorliegt, lässt sich hingegen nicht allgemein beantworten.
Im vorliegenden Fall ist aufgrund der familiären Situation des Klägers, die dieser in der mündlichen Verhandlung vom 5. Februar 2018 anschaulich und glaubwürdig geschildert hat, nach Überzeugung des Gerichts ein solcher Ausnahmefall gegeben. Wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan ist davon auszugehen, dass der Kläger ohne Hilfe nicht in der Lage sein wird, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen. Das Gericht ist aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine existenzielle Notlage geraten würde.
Der Kläger ist Vater von zwei Kleinkindern im Alter von 5 und 7 Jahren, die sich derzeit in Pakistan aufhalten. Die Ehefrau des Klägers ist nach dessen glaubwürdigen Angaben und der hierzu vorgelegten Dokumente beim Anschlag auf das Haus der Familie des Klägers in der Provinz … zu Tode gekommen. Die Eltern des Klägers sind ebenfalls beide bereits verstorben. Als Betreuungsperson für die Kinder des Klägers steht derzeit nur noch dessen jüngerer Bruder zur Verfügung, der jedoch nach den glaubwürdigen Angaben des Klägers in Pakistan lebt und derzeit ebenfalls ohne Arbeit ist. Der Unterhalt der minderjährigen Kinder des Klägers in Pakistan ist derzeit lediglich durch die vom Kläger überwiesenen Geldmittel sichergestellt.
Bei einer unterstellten Rückkehr des Klägers nach Afghanistan (Kabul) wäre der Kläger zum einen darauf angewiesen, eine adäquate Unterkunft für sich und seine minderjährigen Kinder zu finden. Um seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, müsste er zwangsläufig einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, um dergestalt die Existenz der Kleinfamilie zu sichern. Dies ist zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, jedoch bedarf es hierzu besonderer Anstrengungen. Andererseits ist der Kläger jedoch in Ermangelung von adäquaten Betreuungspersonen (Eltern und Ehefrau des Klägers sind bereits verstorben) die Kinderbetreuung sicherzustellen. Hierzu geeignete Personen sind nicht mehr vorhanden. Dem Kläger kann es aus Sicht des Gerichts nicht zugemutet werden, einerseits einer existenzsichernden Berufstätigkeit nachzugehen und andererseits die Betreuung seiner Kinder im Kleinkinderalter sicherzustellen. Dies übersteigt die Fähigkeiten des Klägers. Er ist deshalb auch nicht der Gruppe der Personen gleichzustellen, die als alleinstehende junge Männer nach Afghanistan zurückkehren, und denen eine Bemühung um eine Erwerbstätigkeit auf dem afghanischen Arbeitsmarkt durchaus zugemutet werden kann. Anderweitige familiäre Unterstützung ist für den Kläger im Verfahren ebenfalls nicht erkennbar geworden. Kontakte in seine Heimatregion bestehen nicht.
Deshalb ist das Gericht aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnen Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen einer Gesamtschau in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für den Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger haben dürfte, überhaupt eine adäquate Unterbringung in Kabul zu finden bzw. als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die über dies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12. August 2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben des Klägers in Afghanistan ohne familiären Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten.
Es ist daher davon auszugehen, dass es dem Kläger nicht gelingen wird, sich in Afghanistan im Kampf um die wenigen Arbeitsplätze, um Wohnmöglichkeiten oder beim Zugang zu Hilfeleistungen Dritter gegenüber denjenigen durchzusetzen, die ihrerseits rücksichtslos für ihre eigenen Interessen kämpfen. Dies allein aufgrund des Umstandes, dass der Kläger neben seinem Bemühen um eine erwerbssichernde Anstellung in Afghanistan darauf angewiesen wäre, auch die Betreuung seiner Kleinkinder adäquat sicherzustellen. Hierfür geeignete Betreuungspersonen sind jedoch aufgrund des glaubwürdigen Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 5. Februar 2018 nicht (mehr) vorhanden.
Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher zu Gunsten des Klägers vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
3. Der Klage war daher teilweise stattzugeben. Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheides war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamtes vom 2. März 2017 aufzuheben, soweit dem Kläger darin die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde. Die Bezeichnung des Zielstaats in der Abschiebungsandrohung erweist sich im Hinblick auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris) und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).Die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen bleibt hierdurch unberührt (§ 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Auch das in Nr. 6 des Bescheides der Beklagten verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot war entsprechend aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten sowie der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).