Verwaltungsrecht

Altersfeststellung für Inobhutnahme

Aktenzeichen  M 18 S7 16.2804

Datum:
7.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 7
SGB VIII SGB VIII § 42f

 

Leitsatz

Kann die Minderjährigkeit als Voraussetzung der Inobhutnahme durch das Jugendamt nicht durch Einsicht in die Ausweispapiere festgestellt werden, erfolgt sie durch qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamtes und nur in Zweifelsfällen durch ärztliche Untersuchung (§ 42f SGB VIII). (redaktioneller Leitsatz)
Ob ein Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen gerichtlichen Überprüfung. Allein die Behauptung des Betroffenen, minderjährig zu sein, begründet keinen Zweifelsfall, zumal, wenn er sonst widersprüchliche Angaben zu seinem Alter macht. Ein Zweifelsfall setzt voraus, dass die Altersschätzung durch das Jugendamt nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde, in sich widersprüchliche Angaben enthält oder Indizien für die Minderjährigkeit vorliegen. (redaktioneller Leitsatz)
Einer Tazkira (afghanisches Identitätsdokument) kommt bei der Altersfeststellung kein Beweiswert zu. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Beschluss des Gerichts vom 2. Mai 2016 (M 18 E 16.1267) wird aufgehoben. Der Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner zu verpflichten, ihn vorläufig in Obhut zu nehmen, wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Abänderungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller erhob durch seinen Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom … März 2016 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag, den Bescheid des Antragsgegners vom 18. Januar 2016, mit dem sein Antrag auf Inobhutnahme abgelehnt worden war, aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihn ärztlich untersuchen zu lassen. Die Klage ist unter dem Az. M 18 K 16.1266 noch anhängig.
Gleichzeitig beantragte der Antragsteller mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom … März 2016, den Antragsgegner zu verpflichten, ihn einstweilen in Obhut zu nehmen (M 18 E 16.1267).
Mit Beschluss vom 2. Mai 2016 verpflichtete das Gericht den Antragsgegner im Rahmen einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO, den Antragsteller vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen, da nach Auffassung des Gerichts bisher keine ordnungsgemäße Alterseinschätzung des Antragstellers durch den Antragsgegner durchgeführt worden war.
Mit Schriftsatz vom … Juni 2016 beantragten die Bevollmächtigten des Antragstellers, dem Antragsgegner gemäß § 172 VwGO eine Frist zur Erfüllung der Verpflichtung aus dem gerichtlichen Beschluss vom 2. Mai 2016 zu setzen, ein Zwangsgeld anzudrohen und nach fruchtlosem Fristablauf festzusetzen (M 18 V 16.2569).
Der Antragsgegner habe dem Beschluss des Verwaltungsgerichts nicht Folge geleistet, vielmehr am 3. Juni 2016 eine erneute Alterseinschätzung durchgeführt und aufgrund dieser den Antragsteller nicht in Obhut genommen.
Dieses Verfahren wurde vom Bevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom … Juli 2016 für erledigt erklärt, nachdem der Antragsgegner den Antragsteller aufgrund des Beschlusses vom 2. Mai 2016 am 27. Juni 2016 in einer Jugendhilfeeinrichtung unterbrachte.
Mit Schreiben vom 22. Juni 2016 beantragte der Antragsgegner,
den Beschluss des Verwaltungsgericht vom 2. Mai 2016 aufzuheben.
Eine entsprechend diesem Beschluss durchgeführte Altersfeststellung habe erneut die Volljährigkeit des Antragstellers ergeben, so dass seine Inobhutnahme rechtswidrig sei. Es werde gebeten, auch die Sicherung der Qualität der Jugendhilfe bei der Entscheidung zu berücksichtigen, da die Unterbringung eines Volljährigen in einer Jugendhilfeeinrichtung u. U. massive Probleme für die Einrichtung und die dort untergebrachten Jugendlichen bedeute.
Dem Antrag beigefügt war ein Schreiben an den Antragsteller vom 13. Juni 2016, in dem der Antragsteller darüber informiert wurde, dass aufgrund der am 3. Juni 2016 erfolgten Alterseinschätzung, die durch drei Mitarbeiter des Jugendamtes unter Zuhilfenahme eines Dolmetschers erfolgt sei, seine Volljährigkeit festgestellt worden sei. Es sei eine detaillierte Befragung durchgeführt worden, um einen umfassenden Gesamteindruck zu gewinnen. Äußeres Erscheinungsbild, Art und Ausdrucksweise und das Verhalten des Antragstellers seien in die Beurteilung miteingeflossen. Das äußere Erscheinungsbild sei durch eine tiefe Stimmlage, dichte Haare, ausgeprägte Stirnfalten und Bartwuchs, kantige Gesichtszüge und einen erwachsenen Körperbau, eine abgeschlossene körperliche Entwicklung, gekennzeichnet. Art und Ausdrucksweise seien während des Gesprächs bewusst und überlegt gewesen. So habe der Antragsteller erklärt, fünf Brüder und eine Schwester zu haben, zu deren Alter er keine genaueren Angaben machen könne. Der Antragsteller habe angegeben, seine Familie habe überwiegend von der Landwirtschaft gelebt, er selbst habe außer der Koranschule keine Schule besucht, aber ca. 3-4 Jahre in einer Autowerkstatt gearbeitet. Das Alter, das er angeblich von seiner Mutter erfahren habe, habe er mit 16 Jahren angegeben. Er habe während des Gesprächs sicher, gefasst und rational reagiert, auf genauere Nachfragen zur Biographie jedoch ausweichend geantwortet.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragte mit Schriftsatz vom … Juli 2016
den Antrag abzulehnen.
Die Volljährigkeit des Antragstellers sei nach wie vor nicht endgültig geklärt, so dass die vorläufige Inobhutnahme weiterhin sachgerecht sei. Käme es nur auf Zweifel des Jugendamtes an, hätte es dieses in der Hand, die Anträge des Minderjährigen oder des Vormunds einfach dadurch auszuhebeln, dass es erkläre, keine Zweifel zu haben. Es hätte damit ein Entscheidungsmonopol, was der Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt habe. Zweifel seien daher auch dann zu bejahen, wenn der Minderjährige oder sein Vormund auf seiner Altersangabe beharre und diese nicht aus objektiver Sicht wiederlegt werden könne. So käme eine Aufhebung des Beschlusses allenfalls nach Durchführung einer ärztlichen Untersuchung mit einem eindeutigen Ergebnis in Betracht.
Dem Antrag beigefügt war ein Beitrag aus dem „Sozialmagazin“ Sonderheft UMF zur Alterseinschätzung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Aufhebungsantrag hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft. Eine Abänderung bzw. Aufhebung einer Entscheidung gemäß § 123 VwGO ist bei Vorliegen der entsprechend anwendbaren Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 VwGO möglich (BayVGH, Beschluss vom 27.8.2010-11 A S 10.1650; Eyermann, VwGO, § 123, Rn. 77f).
Der Antrag des Antragsgegners auf Aufhebung des Beschlusses vom 2. Mai 2016 ist auch begründet, da sich die für die damalige Entscheidung maßgebliche Sachlage geändert hat. Aufgrund der vom Antragsgegner am 03. Juni 2016 durchgeführten Alterseinschätzung ist von der Volljährigkeit des Antragstellers auszugehen, so dass er nicht mehr in Obhut genommen werden kann und darf.
Im Rahmen des behördlichen Verfahrens zur Altersfeststellung hat das Jugendamt zunächst gemäß § 42 f Abs. 1 SGB VIII die Minderjährigkeit einer Person durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Nur wenn danach noch Zweifel bezüglich der Minderjährigkeit bestehen, kommt eine ärztliche Untersuchung des Betroffenen gemäß Abs. 2 der Vorschrift in Betracht. Ob ein Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der vollen, gerichtlichen Kontrolle.
Der Antragsteller verfügt über keine aussagekräftigen Ausweispapiere, die Rückschlüsse auf sein Alter ermöglichen würden. Die in den Akten enthaltene Ablichtung bzw. Fotografie einer Tazkira stellt kein Dokument mit Beweiswert dar (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29.9.2014-12B 923/14-juris).
Der Antragsteller war daher gehalten, eine Alterseinschätzung durch eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers, die eine Befragung einschließt, durchzuführen.
Aufgrund dieser Inaugenscheinnahme ist der Antragsgegner, für das Gericht, das sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kein eigenes Bild von dem Antragsteller machen kann, nachvollziehbar zu dem Ergebnis gekommen, dass der Antragsteller volljährig ist.
Der Antragsteller selbst hat wechselnde Angaben zu seinem Alter gemacht. Bei der Bundespolizei in … gab er sein Alter mit 15 Jahren an (entspr. Geburtsjahr 2000), gegenüber den Mitarbeitern der Sicherheitsfirma in der Gemeinschaftsunterkunft in … behauptete er, am 20. Januar 1999 geboren zu sein und im Antrag auf Inobhutnahme vom 12. Januar 2016 ist als Geburtsdatum der 1. Januar 1999 angegeben. Zum Alter seiner Geschwister konnte er dagegen in dem Alterseinschätzungsgespräch mit dem Antragsgegner keine genaueren Angaben machen. Auch anderen klaren Aussagen zu seiner Biographie, die Rückschlüsse auf sein Alter zulassen würden, wich der Antragsteller nach den Feststellungen des Antragsgegners aus. Dabei kann grundsätzlich von dem Betroffenen erwartet werden, dass er Angaben zu seinem Lebenslauf macht, die eine gewisse zeitliche Einordnung ermöglichen. Die wenigen Angaben des Antragstellers sind jedoch nicht geeignet, die ausreichend dokumentierten Feststellungen des Antragsgegners, dass der Antragsteller nach seinem äußeren Erscheinungsbild und seinem Verhalten volljährig sei, zu erschüttern.
Es liegt auch kein Zweifelsfall vor, der eine ärztliche Untersuchung des Antragstellers erfordern würde. Für die Annahme eines Zweifelsfalles ist es nicht ausreichend, dass der Antragsteller seine Minderjährigkeit nach wie vor behauptet. Ein Zweifelsfall setzt vielmehr voraus, dass die Alterseinschätzung des Jugendamtes nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, in sich widersprüchliche Angaben enthält oder tragfähige Indizien für die behauptete Minderjährigkeit vorgelegt werden. Wäre allein die Behauptung des Betroffenen ausreichend, würde das von seinem Bevollmächtigten behauptete „Entscheidungsmonopol des Jugendamtes“ in das Gegenteil verkehrt und zu einem Entscheidungsmonopol des Antragstellers. Würde das schlichte Behaupten der Minderjährigkeit für die Annahme eines Zweifelsfalls – und damit für eine vorläufige Inobhutnahme – ausreichen, bestünde, worauf nicht zuletzt der Antragsgegner mit dem Hinweis auf die Sicherung der Qualität der Jugendhilfe abzielt, die Gefahr, in erheblichem Umfang auch volljährige Personen in Einrichtungen unterbringen zu müssen, die für einen anderen, den besonders schutzwürdigen Personenkreis der Minderjährigen konzipiert sind. Möglicherweise würden damit sowohl den Sinn und Zweck dieser Einrichtungen gefährdet wie auch vorhandene Kapazitäten vorschnell erschöpft. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung oder Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42 f Abs. 3 SGB VIII zeigt, dass es ein besonderes Anliegen des Gesetzgebers war, für die besonders schutzbedürftigen minderjährigen Flüchtlinge ausreichende Kapazitäten bereit zu halten bzw. die Plätze bei unberechtigter Inanspruchnahme kurzfristig frei zu machen (vgl. BT-Drs. 18/6392, S.21).
Aufgrund der geänderten Sachlage nach der qualifizierten Alterseinschätzung des Antragsgegners waren daher dem Antrag auf Aufhebung des Gerichtsbeschlusses vom 2. Mai 2016 stattzugeben und den Antrag auf vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers abzulehnen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 188 VwGO.

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