Insolvenzrecht

Örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts bei Strafhaft des Schuldners

Aktenzeichen  34 AR 77/16

Datum:
1.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ZInsO – 2016, 1702
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
InsO InsO § 3 Abs. 1, § 4
ZPO ZPO § 12, § 13, § 16, § 20, § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281

 

Leitsatz

1 Im Falle der Strafhaft des Schuldners bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts nach dem Haftort, wenn der Schuldner seinen bisherigen Wohnsitz aufgegeben hat. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Verweisungsbeschluss ist willkürlich und daher nicht bindend, wenn eine Vorschrift über den allgemeinen Gerichtsstand unvollständig erfasst und trotz entgegenstehender Anhaltspunkte ein nicht mehr vorhandener Wohnsitz unterstellt wird. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

403 IK 1148/16 2016-06-16 Bes AGLEIPZIG AG München

Tenor

Zuständig ist das Amtsgericht München (Insolvenzgericht).

Gründe

I. Das Verfahren betrifft den beim Amtsgericht München – Insolvenzgericht – am 11.3.2016 gestellten Antrag des Schuldners auf Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens mit Restschuldbefreiung (Az. 1500 IK 769/16). Der Schuldner befindet sich seit 2.6.2014 in Strafhaft in der örtlichen Justizvollzugsanstalt mit frühest möglichem Haftende am 30.9.2016 und voraussichtlichem Haftende am 1.12.2017. Seinen Angaben zufolge hatte er vor der Inhaftierung einen Wohnsitz in Leipzig.
Das Amtsgericht wies unter dem 4.5.2016 darauf hin, dass es sich nicht für örtlich zuständig erachte. Strafhaft begründe keinen Wohnsitz. Bei wohnsitzlosen Personen sei der letzte Wohnsitz maßgebend, und dieser habe sich in Leipzig befunden. Auf den angeregten Verweisungsantrag hat sich das Insolvenzgericht München am 23.5.2016 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren gemäß §§ 3, 4 InsO, § 281 ZPO an das Amtsgericht Leipzig verwiesen. Das Amtsgericht Leipzig hat sich seinerseits mit Beschluss vom 16.6.2016 für örtlich unzuständig erklärt, die Übernahme des Verfahrens abgelehnt und die Akten zur Gerichtsstandsbestimmung dem Oberlandesgericht München vorgelegt (Az. 403 IK 1148/16).
II. Auf die nach § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 37 ZPO i. V. m. § 4 InsO zulässige Vorlage durch das Amtsgericht Leipzig – eines Gesuchs von Verfahrensbeteiligten bedarf es im Fall der Nr. 6 nicht (Zöller/Vollkommer ZPO 31. Aufl. § 37 Rn. 2 m. w. N.) – ist die (örtliche) Zuständigkeit des Amtsgerichts München – Insolvenzgericht – auszusprechen.
1. Die Voraussetzungen für eine Bestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO durch das zuständige Oberlandesgericht liegen vor. Das Amtsgericht München hat grundsätzlich bindend (vgl. § 4 InsO i. V. m. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO) verwiesen, während das Amtsgericht Leipzig seinerseits durch seinen der Partei mitgeteilten Beschluss abschließend die eigene örtliche Zuständigkeit verneint und die Übernahme abgelehnt hat. Nach ständiger Rechtsprechung genügt dies, um zur Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu gelangen (vgl. BGHZ 102, 338/339 f.; BGH NJW 2006, 847 Rn. 8 f.).
2. Für das gegenständliche Insolvenzverfahren ist das Amtsgericht München zuständig.
a) Nach § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO ist das Amtsgericht als Insolvenzgericht sachlich und örtlich ausschließlich zuständig, in dessen Bezirk die natürliche Person ihren allgemeinen Gerichtsstand hat, mithin nach § 4 InsO, §§ 12, 13 ZPO ihren Wohnsitz oder in Ermangelung eines solchen nach § 4 InsO, § 16 ZPO ihren Aufenthaltsort. Eine Bestimmung der Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO, die derjenigen nach Satz 1 vorgeht (z. B. OLG Celle Beschluss vom 27.9.2011, 4 AR 51/11, juris Rn. 3), scheidet hier ersichtlich aus.
b) Der Senat folgt nicht der Ansicht des vorlegenden Gerichts, dass der Schuldner bereits mit dem Antritt der Strafhaft am 2.6.2014 seinen Wohnsitz von Leipzig nach München verlegt habe. Ein Domizilwille, der sich darin ausdrückt, dass der Schuldner mit dem Strafantritt in der Justizvollzugsanstalt M. seinen Wohnsitz i. S. v. § 7 Abs. 1 BGB in München begründet hätte, ist nämlich nicht erkennbar. Das folgt namentlich nicht schon daraus, dass nach der vom Amtsgericht Leipzig eingeholten Auskunft aus dem Sächsischen Melderegister das Einwohnermeldeamt Leipzig eine entsprechende Rückmeldung der Zuzugsbehörde erhalten hat, wonach als aktueller „Wohnsitz“ derjenige unter der Anschrift der Justizvollzugsanstalt bezeichnet sei. Ersichtlich haben die eingeholten Daten nur die Funktion, die neue „Wohnung“, das heißt den aktuellen und auf gewisse Dauer begründeten Aufenthaltsort, unter dem die Person erreichbar ist, zu bezeichnen.
c) Es mag – wie das vorlegende Gericht meint – zutreffen, dass im Gegensatz zu Untersuchungshaft oder auch Strafhaft von kürzerer Dauer, welche in der Regel eine Wohnsitzaufgabe oder einen -wechsel nicht auslösen, eine Strafhaft von längerer Dauer, wie sie hier in Rede steht, den Gerichtsstand des Aufenthaltsorts nach § 20 ZPO begründet (vgl. BGH NJW 1997, 1154; Hüßtege in Thomas/Putzo ZPO 37. Aufl. § 20 Rn. 1). Der Gerichtsstand des § 20 ZPO ist jedoch ein besonderer (dazu allgemein Zöller/Vollkommer § 20 Rn. 1 und § 12 Rn. 6 f.), der auf vermögensrechtliche Ansprüche beschränkt ist. Auf ihn kann schon deshalb nicht abgestellt werden, weil sich die örtliche Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht nach besonderen Gerichtsständen, sondern nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Schuldners richtet.
d) Vielmehr gilt Folgendes:
Der bloße Antritt von Strafhaft begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch keine Aufgabe des Wohnsitzes, den der Betroffene in diesem Zeitpunkt innehatte (BGH NJW-RR 1996, 1217). Ob ein unfreiwilliger Aufenthalt in einer Justizvollzugsanstalt überhaupt einen Wohnsitz zu begründen vermag, erscheint wegen des fehlenden Domizilwillens (vgl. Palandt/Ellenberger BGB 75. Aufl. § 7 Rn. 7) zweifelhaft.
Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an, weil der allgemeine Gerichtsstand des Schuldners sich hier nach § 16 ZPO bestimmt.
Nach § 16 ZPO wird der allgemeine Gerichtsstand einer Person, die keinen (weder im Inland noch im Ausland; Hüßtege in Thomas/Putzo § 16 Rn. 1) Wohnsitz hat, in erster Linie durch den Aufenthaltsort im Inland, nur wenn ein solcher nicht bekannt ist, durch den letzten inländischen Wohnsitz bestimmt. Anders als in der zitierten Entscheidung vom 19.6.1996 (BGH NJW-RR 1996, 1217) hat der Schuldner hier seinen vorhergehenden Wohnsitz in Leipzig – nach den Meldedaten dort ohnehin nur von verhältnismäßig kurzer Dauer – ersichtlich nicht beibehalten, sondern mit oder kurz nach seiner Inhaftierung aufgegeben (vgl. § 7 Abs. 3 BGB). Außer der sogenannten Auszugs- und Einzugsmeldung – die als solche nicht genügend aussagekräftig sind (vgl. Zöller/Vollkommer § 13 Rn. 4) – spricht hierfür die in der Schuldenliste erwähnte offensichtliche Wohnungsauflösung (in Leipzig) und die glaubhafte Erklärung, nach der Haftverbüßung im Hinblick auf das familiäre Umfeld und die erwartete Unterstützung in München bleiben, also nicht nach Leipzig zurückkehren zu wollen. Für ein Aufrechterhalten von Beziehungen zum früheren Wohnort (vgl. BGH JZ 1962, 119) ist nichts erkennbar.
Nach § 16 ZPO ist somit zunächst der Aufenthaltsort im Inland und erst in zweiter Linie der letzte Wohnsitz maßgeblich. Dass der Schuldner bei Antragstellung in München einen Aufenthaltsort – wenn auch derzeit gezwungenermaßen – hat (vgl. BGH NJW 1997, 1154), ist jedoch angesichts der Haftdaten eindeutig.
3. Der Verweisungsbeschluss vom 23.5.2016 bindet das Amtsgericht Leipzig entgegen § 4 InsO, § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO ausnahmsweise nicht. Die Bindungswirkung entfällt nämlich, wenn der Beschluss unter der Verletzung des rechtlichen Gehörs ergeht oder auf Willkür beruht. Ein Fall der Willkür liegt vor, wenn der Verweisungsbeschluss nicht nur inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist, sondern bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (z. B. BGH NJW 2003, 3201; NJW 2006, 847 Rn. 12; OLG Celle vom 27.9.21011, juris Rn. 3). Eine Verweisung kommt insbesondere nur dann in Betracht, wenn bei dem Gericht, bei dem die Sache rechtshängig ist, ein Gerichtsstand nicht eröffnet ist. Dabei sind im Rahmen eines Insolvenzverfahrens gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO die für dieses Verfahren bedeutsamen Umstände von Amts wegen zu ermitteln. Hierzu gehört die Ermittlung der Umstände, die die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts betreffen, insbesondere auch die umfassende Prüfung sämtlicher Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 InsO (BGH NJW 2006, 847; OLG Celle a. a. O.).
Vorliegend handelt es sich um eine willkürliche Entscheidung, weil das Amtsgericht München entgegen seiner Verpflichtung gemäß § 5 (Abs. 1) InsO den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt hat, um die eigene Unzuständigkeit zu begründen. Es hat zum einen den allgemeinen Gerichtsstand des § 16 ZPO ersichtlich unvollständig erfasst, indem es nur auf das subsidiäre Tatbestandsmerkmal des letzten Wohnsitzes abstellte, zum anderen hat es trotz entgegenstehender Anhaltspunkte in den Akten einen in Leipzig verbliebenen Wohnsitz unterstellt. Damit greift aber eine Argumentation, die nur auf die fehlende Begründung eines Wohnsitzes durch den Haftvollzug in München abstellt, ersichtlich zu kurz.

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