Aktenzeichen M 15 K 16.30406
AsylG AsylG § 24 Abs. 4, § 76 Abs. 1, § 77 Abs. 2, § 80 Abs. 1
GG GG Art. 16a Abs. 1
Leitsatz
1 Die permanente Arbeitsüberlastung, durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist kein sachlicher Grund im Sinne des § 75 S.1 VwGO. (VG Dresden BeckRS 2015, 42191). (redaktioneller Leitsatz)
2 Art. 16a Abs. 1 GG ist ein subjektiv-öffentlichen Recht, dem nur durch aktives staatliches Handeln Geltung verschafft werden kann, sodass eine Verletzung bereits durch reines Unterlassen möglich ist. (redaktioneller Leitsatz)
Gründe
Bayerisches Verwaltungsgericht München
M 15 K 16.30406
Im Namen des Volkes
Urteil
vom 6. Juni 2016
15. Kammer
Sachgebiets-Nr. 710
Hauptpunkte:
Asyl; Untätigkeitsklage ohne Antrag auf „Durchentscheiden; Herkunftsland Afghanistan; Reduzierung des Gegenstandswerts
Rechtsquellen:
In der Verwaltungsstreitsache
…
– Kläger –
bevollmächtigt: Rechtsanwälte …
gegen
Bundesrepublik Deutschland
vertreten durch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Außenstelle München, Boschetsrieder Str. 41, 81379 München,
– Beklagte –
beteiligt:
Regierung von Oberbayern
Vertreter des öffentlichen Interesses, Bayerstr. 30, 80335 München
wegen Vollzugs des Asylgesetzes (AsylG)
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht München, 15. Kammer, durch die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht … als Einzelrichterin ohne mündliche Verhandlung
am 6. Juni 2016
folgendes Urteil:
I.
Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzusetzen und über seinen Asylantrag vom 20. Mai 2015 zu entscheiden.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger ist am … in Afghanistan geboren und afghanischer Staatsangehöriger. Er hat am 20. Mai 2015 Asylantrag gestellt.
Am 22. Mai 2015 haben sich die Bevollmächtigten des Klägers für diesen bestellt und Akteneinsicht beantragt.
Mit Schreiben vom 11. November 2015 haben sie um Ladung zur persönlichen Anhörung des Klägers gebeten. Mit weiteren Schreiben vom 16. Dezember 2015 und vom 17. Dezember 2015 haben sie erneut um Ladung zur Anhörung des Klägers gebeten.
Am 2. März 2016 haben die Bevollmächtigten des Klägers Klage erhoben mit dem Antrag,
die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren fortzusetzen und über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden.
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass dem Kläger ein weiteres Zuwarten auf eine Entscheidung nicht zuzumuten sei. Es liege kein zureichender Grund dafür vor, dass noch nicht entschieden worden sei. Die steigenden Flüchtlingszahlen seien bekannt, doch seien auch Fälle bekannt, die wesentlich schneller bearbeitet würden. Prioritäten würden offensichtlich weder nach dem Herkunftsland noch nach dem Datum des Eingangs der Asylanträge gesetzt.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2016 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Entscheidungsgründe:
Über die Verwaltungsstreitsache kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Bevollmächtigten des Klägers in der Klageschrift auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Beklagte hat allgemein mit Schreiben an die Präsidentin des Verwaltungsgerichts München vom 24. Juni 2015 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Dieses gilt nach dem Schreiben des Vizepräsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 25. Februar 2016 weiter. Die Regierung von Oberbayern, die sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt, hat in den generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 darum gebeten, ihr ausschließlich die jeweilige Letzt- und Endentscheidung zu übersenden, und damit auch auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Soweit der Vizepräsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit Schreiben an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 25. Februar 2016 für alle Untätigkeitsklagen gemäß § 75 VwGO die Aussetzung des Verfahrens beantragt hat, kann dem nicht entsprochen werden, weil die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nicht vorliegen. Eine Aussetzung kommt gemäß § 94 VwGO nur in Betracht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Hier fehlt es an der Vorgreiflichkeit eines anderen (d. h. nicht des hier streitgegenständlichen) Verfahrens. Es kann offen bleiben, ob der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens als Antrag auf Ruhen des Verfahrens auszulegen ist, denn ein Ruhen des Verfahrens (§ 173 VwGO i. V. m. § 251 ZPO) kommt hier ebenfalls nicht in Betracht. Dieses würde nämlich voraussetzen, dass beide Parteien das Ruhen des Verfahrens beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist (§ 251 ZPO). Hier fehlt es schon daran, dass beide Parteien dies beantragen, denn der Bevollmächtigte des Klägers hat mit Erhebung der Untätigkeitsklage deutlich gemacht, dass er mit einem Ruhen des Verfahrens nicht einverstanden ist.
Die Klage ist als Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO zulässig. Für den Kläger ist am 20. Mai 2015, mithin vor über einem Jahr, Asylantrag gestellt worden, über den bis heute nicht entschieden ist. Die Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO von 3 Monaten ist daher längst abgelaufen. Auch wurde über den Antrag ohne zureichenden Grund nicht innerhalb angemessener Frist entschieden (§ 75 Satz 1 VwGO).
Das Bundesamt hat sich zum Vorliegen eines Grundes für die verzögerte Bearbeitung und Entscheidung auch im Klageverfahren nicht geäußert. Auch wenn gerichtsbekannt ist, dass das Bundesamt durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen überlastet ist, reicht dies nicht aus, um einen zureichenden Grund für die Nichtverbescheidung anzunehmen. Es handelt sich nicht um eine kurzfristig erhöhte Geschäftsbelastung, sondern um eine permanente Überlastung der Behörde. Eine andauernde Arbeitsüberlastung ist kein sachlicher Grund im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO. In einem solchen Fall ist es Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung, entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Dresden, U.v. 13.2.2015 – A 2 K 3657/14; VG Düsseldorf, U.v. 30.10.2014 – 24 K 992/14.A; VG Braunschweig, U.v. 8.9.2014 – 8 A 618/13 – alle juris).
Eine weitere Nachfristsetzung, wie vom Bundesamt mit Schreiben vom 25. Februar 2016 beantragt, sieht das Gericht als entbehrlich an, weil das Bundesamt in diversen ähnlich gelagerten Fällen auf Bitte des Gerichts unter Fristsetzung, über den Asylantrag zu entscheiden oder mitzuteilen, bis wann mit einer Entscheidung gerechnet werden könne, nicht geantwortet hat. Dazu kommt, dass auch mit der Zustellung der Klage dem Bundesamt ohnehin eine Äußerungsfrist von 2 Wochen gesetzt wurde. Auch die bisherige Verfahrensdauer sowie die Tatsache, dass die Frist des § 24 Abs. 4 AsylG längst verstrichen ist, spricht dagegen, der Beklagten eine weitere Nachfrist zu setzen.
Die Klage ist daher als Untätigkeitsklage zulässig.
Die Klage ist auch begründet (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat Anspruch auf Fortsetzung des Asylverfahrens und Verbescheidung des gestellten Antrags. Die materielle Pflicht der Beklagten zur Entscheidung ergibt sich direkt aus Art. 16a Abs. 1 GG als einem subjektiv-öffentlichen Recht. Diesem Grundrecht kann nur durch aktives staatliches Handeln Geltung verschafft werden. Eine Verletzung dieses Grundrechts kann deshalb bereits durch reines Unterlassen, also durch Nichtverbescheidung von Anträgen, eintreten. Somit begründet Art. 16a Abs. 1 GG eine Pflicht des Staates zur Bescheidung von Asylanträgen, die die Gerichte sowohl unmittelbar aufgrund von Art. 16a Abs. 1 GG als auch aufgrund von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten haben.
Auch Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU, der eine möglichst rasche Entscheidung über den Asylantrag normiert, gewährt dem Kläger subjektiv öffentliche Rechte, die durch die Untätigkeit der Beklagten verletzt werden.
Da die Prozessbevollmächtigten des Klägers keinen Antrag auf Zuerkennung materieller Rechtspositionen gestellt haben, kommt es hier auch nicht auf die Problematik des Durchentscheidens an.
Der Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Gegenstandswert beträgt 2.500,00 EUR.
Gründe:
Da Streitgegenstand des Verfahrens die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin, nicht jedoch die Prüfung des Bestehens ihrer materiellen Ansprüche ist, reduziert das Gericht den Gegenstandswert aus Gründen der Billigkeit, § 30 Abs. 2 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 Abs. 1 AsylG).