Aktenzeichen 1 Ws 275/16, 289/16
Leitsatz
1. Als Prognosegutachten im Sinne von § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO kann auch eine gutachterliche Stellungnahme der Maßregeleinrichtung herangezogen werden, wenn die Stellungnahme die für die Entscheidung im Sinne von § 454 Abs. 2 Satz 2 StPO maßgeblichen Fragen in zureichendem Maße behandelt und bewertet. (amtlicher Leitsatz)
2 Das Oberlandesgericht München schließt sich insoweit anderen Oberlandesgerichten an (zum Beispiel KG BeckRS 1998, 15125). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 17.03.2016 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Deggendorf vom 09.03.2016 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
Durch Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 12.06.2012, rechtskräftig seit 20.06.2012, wurde der Beschwerdegegner wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 3 Fällen, davon in 2 Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und in 1 Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren 3 Monaten verurteilt. Daneben wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB angeordnet. Die verhängten Einzelstrafen betrugen 2 Jahre 2 Monate bzw. 2 Jahre 4 Monate.
Die Unterbringung wird seit 22.06.2012 vollzogen, derzeit im Bezirksklinikum M. Zuvor hatte sich der Verurteilte ab 12.05.2012 in Untersuchungshaft befunden.
Durch die angefochtene Entscheidung hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Deggendorf die Vollstreckung der weiteren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe „ab 30.03.2016“ zur Bewährung ausgesetzt, hat die Dauer der Kraft Gesetzes mit der Aussetzung der Maßregel eintretenden Führungsaufsicht und der Bewährungszeit auf 5 Jahre festgesetzt und hat die Führungsaufsicht ausgestaltet. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
Gegen diesen ihr am 11.03.2016 zugestellten Beschluss legte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth mit Schreiben vom 17.03.2016, eingegangen bei Gericht am selben Tage, sofortige Beschwerde ein und begründete diese sogleich. Die Anfechtung der Entscheidung wurde ausschließlich damit begründet, dass die Aussetzungsentscheidung nicht ohne die Einholung eines externen Prognosegutachtens hätte ergehen dürfen und daher ein Verfahrensfehler vorliege.
Der Verurteilte hatte als Beschwerdegegner Gelegenheit, sich zum Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft zu äußern, er hat keine Stellungnahme abgegeben.
II. Die gemäß §§ 454 Abs. 3 Satz 1, 306, 311 StPO zulässige sofortige Beschwerde erweist sich als unbegründet. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft wurde ausschließlich damit begründet, dass die angefochtene Entscheidung nicht ohne die Einholung eines externen Prognosegutachtens hätte ergehen dürfen. Gegen die Ausgestaltung der Führungsaufsicht und der Bewährung richtet sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft nicht. Es war daher lediglich als sofortige Beschwerde und nicht zugleich auch als (einfache) Beschwerde gegen die Ausgestaltung der Führungsaufsicht zu behandeln.
Gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO hat das Gericht ein Sachverständigengutachten einzuholen, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Rests einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art gemäß § 57 StGB zur Bewährung auszusetzen. Über die Verweisung in § 463 Abs. 3 Satz 3, 2. Halbsatz StPO i. V. m. § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB gilt gleiches für die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung.
Die Voraussetzungen für die Einholung eines Prognosegutachtens sind vorliegend auch im Hinblick auf die verhängte Freiheitsstrafe gegeben. Denn der Beschwerdegegner wurde wegen Verbrechen, die die Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Nr. lit. b) StGB erfüllen (§ 66 Abs. 3 Satz1 StGB), zu Einzelstrafen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 454 Rn. 37) von jeweils mehr als 2 Jahren verurteilt und es ist nicht von vorneherein auszuschließen, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen.
Allerdings teilt der Senat die von der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vertretene Ansicht, die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sei fehlerhaft ergangen, weil kein Prognosegutachten eines externen Sachverständigen eingeholt wurde, nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 27.07.2010 – 1 Ws 704/10) ist im Rahmen von § 454 Abs. 2 StPO lediglich die Einholung eines Gutachtens erforderlich, nicht jedoch die Einholung eines externen Gutachtens. Der Senat hält insoweit an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach es in besonders gelagerten Fällen notwendig sein kann, einen externen Gutachter zu beauftragen. Dass solche Voraussetzungen hier vorliegen würden, ergibt sich aber weder aus der Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft, noch aus dem Inhalt der dem Senat vorgelegten Akten.
Unabhängig von der Bezeichnung als „Gutachten“ oder, wie hier, „gutachterliche Stellungnahme“, können somit auch die sachverständigen Ausführungen der Ärzte und Psychologen der Maßregelvollzugsanstalt als Gutachtensgrundlage im Sinne von § 454 Abs. 2 StPO für die Entscheidung herangezogen werden, ob eine Aussetzung des Vollzugs der Maßregel bzw. eine Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung verantwortbar ist, wenn die Stellungnahme die für die Entscheidung im Sinne von § 454 Abs. 2 Satz 2 StPO maßgeblichen Fragen in zureichendem Maße behandelt und bewertet. Entscheidend ist, dass die Strafvollstreckungskammer aufgrund der Ausführungen in die Lage versetzt wird, auf dieser Grundlage eine Wahrscheinlichkeitsaussage über das künftige Legalverhalten des Verurteilten zu treffen (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2014, 22).
Dies ist der Fall. Die Maßregeleinrichtung hat sich in ihrer 11-seitigen Stellungnahme vom 02.02.2016 nicht nur mit dem Behandlungsverlauf befasst, sondern auch ausführlich mit der Legalprognose des Beschwerdegegners und hat diese mit ausführlicher Begründung für ausreichend günstig gehalten, u. a. weil der Beschwerdegegner, der sich seit 10.01.2016 im Probewohnen befindet und seit 11.01.2016 laut Arbeitsvertrag bei einer Zeitarbeitsfirma arbeitet, in der fast 4-jährigen Maßregeltherapie eine solide Abstinenzfestigung erreicht und bei einer Vielzahl von Vollzugslockerungen ein selbstkontrolliertes und konfliktarmes Verhalten gezeigt hat.
Auch im Rahmen des Probewohnens hat der Beschwerdegegner nach den Ausführungen in der Stellungnahme vom 02.02.2016 einen zuverlässigen Umgang mit den gewährten Lockerungen gezeigt. Insbesondere aufgrund der positiven postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung und des geordneten und realistischen sozialen Empfangsraums kam die Maßregeleinrichtung zu dem Ergebnis, dass die Legalprognose des Beschwerdegegners nach ihrer Einschätzung günstig ist. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die vorgenannte Stellungnahme Bezug genommen.
Aus der Stellungnahme ergibt sich nachvollziehbar, dass vom Verurteilten im Falle seiner bedingten Entlassung allenfalls eine geringe, jedenfalls aber hinnehmbare Gefahr für die Begehung neuerlicher Straftaten ausgeht, weil die therapeutischen Behandlungsmaßnahmen im Rahmen des Maßregelvollzugs erfolgreich waren und der Verurteilte die erforderliche (und von der Strafvollstreckungskammer im Rahmen der entsprechenden Weisungen berücksichtigte) weitere Nachbehandlung und Nachbetreuung ebenfalls als notwendig erkannt und den entsprechenden Weisungen zugestimmt hat.
Auch die gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO vorgeschriebene Anhörung des Sachverständigen ist vorliegend erfolgt.
Bei der am 09.03.2016 erfolgten mündlichen Anhörung war auch Herr Sievert vom psychologischen Dienst der Maßregeleinrichtung (einer der Unterzeichner der Stellungnahme vom 02.02.2016, vermutlich sogar deren Verfasser) zugegen und hat sich laut Protokoll auch geäußert. Dies erscheint im vorliegenden Verfahren ausreichend.
Allerdings wird die Strafvollstreckungskammer künftig dafür Sorge zu tragen haben, dass sichergestellt ist, dass (mindestens) einer der Unterzeichner der gutachterlichen Stellungnahme im Termin zur mündlichen Anhörung als Sachverständiger i. S. v. § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO anwesend ist und befragt werden kann.
Auch aus sonstigen Gründen ist die Aussetzung der Maßregel und der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung als solche nicht zu beanstanden.
Die sofortige Beschwerde erweist sich somit als unbegründet. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
Die unter Ziffer 5 a und 5 b erteilten Weisungen wird die Strafvollstreckungskammer nach Rückkehr der Akten umgehend aus folgenden Gründen abzuändern haben:
Eine Weisung, den Wohnsitz „nicht ohne vorherige Zustimmung der Bewährungshilfe“ aufzugeben oder zu ändern oder ohne Zustimmung des Gerichts ins Ausland zu verziehen (Ziffer 5 a der angefochtenen Entscheidung), ist nach der ständigen Rechtsprechung des Senats nicht zulässig ist. Insoweit kann lediglich dazu angewiesen werden, dies nur im Benehmen bzw. nach vorheriger Rücksprache mit der Bewährungshilfestelle bzw. dem Bewährungshelfer zu tun. Eine (länderübergreifende) Einschränkung der Freizügigkeit ist im Rahmen der Führungsaufsicht nicht zulässig.
Auch die Weisung, den Arbeitsplatz „nicht ohne vorherige Zustimmung des Bewährungshelfers“ aufzugeben oder zu ändern (Ziffer 5 b der angefochtenen Entscheidung), ist nicht zulässig. Zulässig wäre insoweit eine Weisung, die dazu anweist, dies nur im Benehmen bzw. nach vorheriger Rücksprache mit dem Bewährungshelfer bzw. der Bewährungshilfestelle zu tun.
Eine Änderung der beiden vorgenannten Führungsaufsichtsweisungen durch den Senat auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin kam nicht in Betracht, da diese aus den oben aufgeführten Gründen nicht als zugleich eingelegte (einfache) Beschwerde behandelt werden konnte und es daher an der Einlegung der hinsichtlich der Ausgestaltung der Führungsaufsicht statthaften (einfachen) Beschwerde fehlt.
Da die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg bleibt, hat die Staatskasse die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.