Aktenzeichen M 15 K 16.30407
Leitsatz
Trotz bekannter Überbelastung des Bundesamtes durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen stellt dies keinen zureichenden Grund für eine Nichtbescheidung nach über 13 Monaten dar. Die erhöhte Geschäftsbelastung ist nicht kurzfristig, sondern permanent, sodass in der Behörde Abhilfe geschaffen werden muss (ebenso VG Dresden BeckRS 2015, 42191, VG Düsseldorf BeckRS 2014, 58235). (redaktioneller Leitsatz)
Priorisierungsentscheidungen sind zwar rechtlich zulässig (ebenso VG Osnabrück BeckRS 2015, 53779), rechtfertigen aber keine Verfahrensdauer von über 13 Monaten, wobei auch noch auf unbestimmte Zeit offenbleibt, wann über den Antrag entschieden wird. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzusetzen und über den Asylantrag des Klägers vom 26. Januar 2015 zu entscheiden.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Über die Verwaltungsstreitsache kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Bevollmächtigten des Klägers in der Klageschrift auf mündliche Verhandlung verzichtet haben. Die Beklagte hat allgemein mit Schreiben an die Präsidentin des Verwaltungsgerichts München vom 24. Juni 2015 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Dieses gilt nach dem Schreiben des Vizepräsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 25. Februar 2016 weiter. Die Regierung von Oberbayern, die sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt, hat in den generellen Beteiligungserklärungen vom 11. Mai 2015 und vom 18. Mai 2015 darum gebeten, ihr ausschließlich die jeweilige Letzt- und Endentscheidung zu übersenden, und damit auch auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Soweit der Vizepräsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit Schreiben an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungsgerichte, Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 25. Februar 2016 für alle Untätigkeitsklagen gemäß § 75 VwGO die Aussetzung des Verfahrens beantragt hat, kann dem nicht entsprochen werden, weil die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nicht vorliegen. Eine Aussetzung kommt gemäß § 94 VwGO nur in Betracht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist. Hier fehlt es an der Vorgreiflichkeit eines anderen (d. h. nicht des hier streitgegenständlichen) Verfahrens. Es kann offen bleiben, ob der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens als Antrag auf Ruhen des Verfahrens auszulegen ist, denn ein Ruhen des Verfahrens (§ 173 VwGO i. V. m. § 251 ZPO) kommt hier ebenfalls nicht in Betracht. Dieses würde nämlich voraussetzen, dass beide Parteien das Ruhen des Verfahrens beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist (§ 251 ZPO). Hier fehlt es schon daran, dass beide Parteien dies beantragen, denn die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Erhebung der Untätigkeitsklage deutlich gemacht, dass sie mit einem Ruhen des Verfahrens nicht einverstanden sind.
Die Klage ist als Untätigkeitsklage gem. § 75 VwGO zulässig. Der Kläger hat am 26. Januar 2015, mithin vor über 14 Monaten, einen Asylantrag gestellt, über den bis heute nicht entschieden ist. Die Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO von 3 Monaten ist daher längst abgelaufen. Auch wurde über den Antrag ohne zureichenden Grund nicht innerhalb angemessener Frist entschieden (§ 75 Satz 1 VwGO).
Auch wenn gerichtsbekannt ist, dass das Bundesamt derzeit durch die stark erhöhten Asylbewerberzahlen überlastet ist, reicht dies – entgegen der im bereits erwähnten Schreiben des Vizepräsidenten des Bundesamts vom 25. Februar 2016 vertretenen Rechtsauffassung – nicht aus, um hier dauerhaft einen zureichenden Grund für die Nichtverbescheidung anzunehmen. Es handelt sich nicht um eine kurzfristig erhöhte Geschäftsbelastung, sondern um eine seit langer Zeit bestehende permanente Überlastung der Behörde, deren Ende auch nicht absehbar ist. In einem solchen Fall ist es Aufgabe des zuständigen Bundesministeriums bzw. der Behördenleitung, in absehbarer Zeit für hinreichenden Ersatz zu sorgen und entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen (vgl. VG Dresden, U. v. 13.2.2015 – A 2 K 3657/14 – juris; VG Düsseldorf, U. v. 30.10.2014 – 24 K 992/14.A – juris; VG Braunschweig, U. v. 8.9.2014 – 8 A 618/13 – juris). Auch die von der Beklagten getroffenen Priorisierungsentscheidungen stellen keinen zureichenden Grund im Sinne von § 75 Satz 1 VwGO dar. Obwohl solche Priorisierungsentscheidungen rechtlich zulässig sind (vgl. VG Osnabrück, U. v. 14.10.2015 – 5 A 390/15 – juris), so kann eine Verfahrensdauer von über 13 Monaten nicht mehr durch eine Priorisierungsentscheidung gerechtfertigt werden. Dies gilt insbesondere, wenn – wie hier – die Behörde trotz einer Anfrage des Gerichts keine Perspektive für eine Entscheidung aufzeigt, so dass auf zunächst unbestimmte Zeit offenbleibt, wann überhaupt über den Antrag entscheiden wird. Dazu kommt, dass in vielen anderen Fällen seit Monaten Anfragen des Gerichts nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt einer Entscheidung genauso unbeantwortet bleiben wie Bitten um Entscheidung.
Nach alledem ist die Klage als Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Fortsetzung des Asylverfahrens und Verbescheidung des gestellten Antrags (§ 113 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. Satz 1 VwGO). Dass über seinen Asylantrag nicht entschieden wird, verletzt ihn in seinem subjektiven Recht auf eine rasche Entscheidung über seinen Asylantrag. Nach Art. 31 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes haben die Mitgliedstaaten die Pflicht, die Anträge möglichst rasch, normalerweise innerhalb von 6 Monaten zum Abschluss zu bringen. Auch wenn sich diese Pflicht nur an die Mitgliedstaaten richtet, hat der einzelne Asylbewerber ein subjektives Recht auf eine baldige Entscheidung über seinen Asylantrag, weil diese Bestimmungen auch dem Grundrechtsschutz (Art 1 und 16a GG) dienen und nur so ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden kann.
Auf die Problematik des „Durchentscheidens“ kommt es hier nicht an, weil die Bevollmächtigten des Klägers keinen Antrag auf Zuerkennung materieller Rechtspositionen gestellt haben.
Der Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.