Arbeitsrecht

Keine Anrechnung der außergerichtlichen Kosten für das Mahnverfahren auf das streitige Verfahren bei Anwaltswechsel

Aktenzeichen  11 W 414/16

Datum:
15.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
FamRZ – 2017, 396
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO ZPO § 91 Abs. 2 S.  2, § 104 Abs. 3
RVG § 13, § 15a Abs. 2

 

Leitsatz

1. Beauftragt ein Mandant einen Rechtsanwalt mit der Durchführung eines Mahnverfahrens und mandatiert er für den späteren Rechtsstreit einen anderen Anwalt, kommt es nicht zu einer Gebührenanrechnung nach Nr. 3307 S. 2 VV-RVG; Mehrkosten eines derartigen “Anwaltswechsels” fallen nicht unter § 91 II S. 2 ZPO. (Orientierungssatz des Gerichts)

Verfahrensgang

30 O 13175/14 2015-10-28 Bes LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I.
Die sofortige Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Beschwerdewert beträgt € 930,40.
IV.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I. Die Klägerin hat gegen die Beklagten, die eine gemeinsame Anwaltskanzlei betreiben, Schadenersatzansprüche aus Anwaltshaftung geltend gemacht. In dem von der Klägerin zunächst angestrengten Mahnverfahren haben diese sich selbst vertreten. Nach Übergang in den Rechtsstreit beauftragten die Beklagten die auf Anwaltshaftung spezialisierte Kanzlei ihrer nunmehrigen Prozessbevollmächtigten.
Mit Urteil vom 28.08.2015 wies das Landgericht die Klage ab und legte der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits auf; die Beklagten begehrten in ihrem Festsetzungsgesuch vom 08.09.2015 die außergerichtlichen Kosten für das Mahnverfahren (§§ 13 RVG, VV-RVG Nr. 3307) und zusätzlich diejenigen für das streitige Verfahren und zwar jeweils in voller Höhe, also ohne Anrechnung gemäß VV-RVG Nr. 3307 Abs. 2. Die Rechtspflegerin übernahm diese Berechnung ohne Änderung.
Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Klägerin, zu deren Begründung sie anführt, die anwaltliche Gebühr für das Mahnverfahren sei auf die – für die neuen Prozessbevollmächtigten entstandene – Verfahrensgebühr anzurechnen; das Gesetz sehe an keiner Stelle vor, dass eine solche Anrechnung nicht erfolgen könne, wenn zwischen Mahn- und streitigem Verfahren ein Anwaltswechsel stattfinde. Der Prozessgegner habe auf einen derartigen Anwaltswechsel keinen Einfluss.
Die Beklagten rechtfertigen demgegenüber ihre Ansicht, wonach eine Anrechnung hier zu unterbleiben habe, im Wesentlichen damit, die unterschiedliche Vertretung im Mahn- und im streitigen Verfahren sei sachlich gerechtfertigt. Im streitigen Verfahren hätten sie, auf Weisung ihres Haftpflichtversicherers, eine auf Anwaltshaftung spezialisierte Kanzlei beauftragen müssen.
In der Nichtabhilfeentscheidung verweist die Rechtspflegerin insbesondere darauf, eine Partei sei in der Wahl ihres Prozessbevollmächtigten grundsätzlich frei, sie müsse nur in Kauf nehmen, nicht die Gebühren von zwei Anwälten erstattet zu erhalten. Eine Partei sei indes nicht verpflichtet, durch die Auswahl ihres Anwalts eine Anrechnungslage herbeizuführen.
II. Die gemäß §§ 104 Abs. 3, 567, 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg; der Senat teilt die Auffassung der Rechtspflegerin, wonach die Anrechnungsvorschriften nicht dem Schutz des Erstattungspflichtigen dienen, weshalb auch § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO hier nicht einschlägig ist.
Das RVG enthält eine Reihe von Vorschriften über Gebührenanrechnungen, neben dem hier beschwerdegegenständlichen Fall einer Anrechnung der Mahngebühr insbesondere etwa den der Anrechnung einer vorgerichtlichen Geschäftsgebühr (VV Vorb. 3 Abs. 4) oder der Gebühr für ein selbstständiges Beweisverfahren (Vorb. 3 Abs. 5 VV – siehe den Überblick bei Gerold/Schmidt-Müller-Rabe, RVG, 22. Aufl., Vorb. 3 Rn. 246 ff.). Sinn der Anrechnungsvorschriften ist es im Wesentlichen, die Honorierung annähernd gleicher Tätigkeit zu verhindern und der Erleichterung einer Einarbeitung bzw. Vorbereitung des Anwaltes wegen bereits vorhandener Kenntnisse und dem damit verbundenen geringeren Aufwand Rechnung zu tragen (s. bereits Senat, Beschl. v. 25.11.2008 – 11 W 2558/08 Tz 7, = NJW 09, 1220).
Dabei besteht Einigkeit darüber, dass eine Anrechnung nur dann möglich ist, wenn derselbe Rechtsanwalt tätig war, andernfalls nämlich eine doppelte Honorierung nicht denkbar ist (siehe zuletzt BGH, Beschl. v. 27.08.2014 – VII ZB 8/14 Tz 19; Beschl. v. 10.12.2009 – VII ZB 41/09 Tz 11; Senat, Beschl. v. 25.11.2008, a. a. O., Tz 7; Müller-Rabe, a. a. O., Vorb. 3 Rn. 261; Hansens, RVGreport 12, 365, 367).
Ferner ist zu unterscheiden zwischen dem Rechtsverhältnis zwischen Mandant und Anwalt einerseits, mithin der Entstehung der Gebühren, und andererseits der prozessrechtlichen Beziehung zwischen Mandant und gegnerischer Prozesspartei, also der von den §§ 91 ff. ZPO geregelten Frage der Erstattungsfähigkeit außergerichtlicher Aufwendungen.
Die Anrechnungsvorschriften betreffen zunächst nur die Rechtsbeziehung zwischen Anwalt und Mandant – ein Berufen Dritter, insbesondere Erstattungspflichtiger, hierauf ist nur in Ausnahmefällen möglich, s. § 15 a Abs. 2 RVG.
Wie sich ein „Anwaltswechsel“, wie hier, der einer Gebührenanrechnung somit entgegensteht, auf das Verhältnis der erstattungsberechtigten Partei zu ihrem Prozessgegner auswirkt, ist streitig, insbesondere was die mögliche Heranziehung der Vorschrift des § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO betrifft. Die Frage stellt sich unter dem Gesichtspunkt des Gebotes der Kostengeringhaltung, wonach nur „notwendige“ Kosten im Sinne von § 91 Abs. 1 ZPO erstattet werden.
a) Nach herrschender Ansicht soll sich ein Erstattungspflichtiger im Falle einer Vertretung des Erstattungsberechtigten durch jeweils verschiedene Anwälte im außergerichtlichen Bereich einerseits und im Rechtsstreit andererseits nicht auf eine Anrechnung gemäß Vorb. 3 Abs. 4 berufen können: § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO gelte nur für einen Anwaltswechsel innerhalb des „Prozesses“ bzw. innerhalb des gerichtlichen „Verfahrens“ (s. Müller-Rabe, a. a. O., § 15 a Rn. 69; Anh. III Rn. 75; MüKo/ZPO-Schulz, 4. Aufl., § 91 Rn. 83).
b) Dies soll anders sein bei einem Anwaltswechsel, also bei Heranziehung eines neuen Prozessbevollmächtigten, nach einem Mahn- bzw. nach einem selbstständigen Beweisverfahren; hier soll sich der Erstattungspflichtige auf die entsprechende Anrechnungsbestimmungen berufen dürfen (VV Nr. 3307 bzw. Vorb. 3 Abs. 5; vgl. Müller-Rabe, a. a. O., VV Nr. 3305-3308 Rn. 86 a und Anh. III Rn. 74 ff.; für die Anrechnung der Gebühr eines selbstständigen Beweisverfahrens hat der BGH die Frage zuletzt offen gelassen, s. Beschl. v. 27.08.2014, a. a. O., Tz 22).
Begründet wird dies insbesondere mit einer Anwendbarkeit von § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO in diesen Fällen, da Beweis- und Erkenntnisverfahren sachlich, zeitlich und hinsichtlich der Beteiligten so eng verflochten seien, dass eine „Gesamtbetrachtung“ erfolgen müsse; prozessrechtlich handle es sich um „ein Verfahren“, in dem auch eine einheitliche Kostenentscheidung ergehe, während die – bei einem Anwaltswechsel nicht anzurechnende – vorgerichtliche Geschäftsgebühr durch eine andere Angelegenheit ausgelöst werde (ausführlich OLG Köln, Beschl. v. 10.12.2012 – 17 W 109/12, = AGS 13, 568; Müller-Rabe, a. a. O., Anh. III Rn. 74 f. – für das Mahnverfahren VV Nr. 3305-3308 Rn. 86 a).
Richtiger Ansicht nach kann sich der Erstattungspflichtige in keinem der genannten Fälle auf die – ausschließlich das Innenverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant betreffenden – Anrechnungsvorschriften berufen; für fiktive Anrechnungen ist daher kein Raum.
Hieran ändert auch die – ohnedies nur „vom Rechtsgedanken her“ passende (vgl. BGH, Beschl. v. 27.08.2014, a. a. O., Tz 20) – Vorschrift des § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO nichts:
a) Die Anrechnungsbestimmungen dienen nicht dem Schutz des Prozessgegners (ausdrücklich BGH, Beschl. v. 10.12.2009, a. a. O., Tz 13). Sie sollen verhindern, dass ein Rechtsanwalt für eine (annähernd) gleiche Tätigkeit doppelt honoriert wird und der Erleichterung seines Einarbeitungsaufwandes Rechnung tragen. Bei Heranziehung von zwei Anwälten scheidet dies von vorne herein aus.
b) § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO will demgegenüber verhindern, dass der Erstattungspflichtige die Kosten mehrerer Rechtsanwälte, also solche einer gewissermaßen „optimalen Prozessführung“, zu tragen hat (vgl. etwa MüKo/ZPO-Schulz, a. a. O., § 91 Rn. 80 ff.). Soweit durch den Nichteintritt einer Gebührenersparnis höhere Kosten zu erstatten sind, fällt dies nach Ansicht des Senates nicht unter diese Bestimmung:
Bereits die Unterscheidung zwischen einerseits vorgerichtlicher Geschäftsgebühr (dann soll kein Berufen auf die Anrechnung möglich sein, s. o.) und andererseits Vornahme der „Anrechnung“ über § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO etwa bei der Mahngebühr bzw. derjenigen für ein selbstständiges Beweisverfahren überzeugt nicht. Richtig mag sein, dass die Kostenentscheidung in den letztgenannten Fällen einheitlich ergeht. Andererseits kann auf das Vorliegen derselben „Angelegenheit“ (im Sinne von § 15 RVG) nicht abgestellt werden, weil dieser Begriff ausschließlich die Gebührenentstehung im Verhältnis Anwalt zu Mandant betrifft, mit der Kostenerstattung jedoch nichts zu tun hat (so aber jetzt wieder Müller-Rabe, a. a. O., Anh. III Rn. 75). Umgekehrt würde der Rechtsgedanke des § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO durchaus auch bei der Frage der Anrechnung einer vorgerichtlichen Geschäftsgebühr passen (vgl. Hansens, RVGreport 07, 241, 243). Stellt man auf das Gebot der Kostengeringhaltung ab (dazu näher z. B. Musielak-Lackmann, ZPO, 12. Aufl., § 91 Rn. 8; BGH, Beschl. v. 11.09.2012 – VI ZB 59/11 Tz 9), besteht insoweit kein entscheidender Unterschied: Diese Obliegenheit einer Prozesspartei beginnt nämlich bereits vorprozessual, wie der BGH beispielsweise für die Aufwendungen für sogenannte „Rechtsanwälte am dritten Ort“ ausdrücklich entschieden hat (Beschl. v. 20.12.2011 – XI ZB 13/11 Tz 11). Verlangt man von einer Partei, bereits bei der Anwaltswahl die Belange des möglicherweise erstattungspflichtigen Gegners zu berücksichtigen, dann besteht kein entscheidender Unterschied, ob eine solche Obliegenheit bei der Mandatierung eines Anwaltes mit einer außergerichtlichen Tätigkeit oder mit einem Mahnverfahren oder mit der Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens angenommen wird (insoweit gelten die bei Müller-Rabe, a. a. O., § 15 a Rn. 69, 74 wiedergegebenen Grundsätze in all den genannten Fällen).
c) Nach Auffassung des Senates sollte die Frage einheitlich und insbesondere für die Praxis klar handhabbar entschieden werden. Richtig erscheint es daher, die Fälle des „Entgehens“ einer Kostenersparnis, eben weil ein Anwaltswechsel die Heranziehung der Anrechnungsvorschriften nicht zulässt, nicht unter § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO zu fassen.
Die Anrechnungsbestimmungen dienen, wie vom BGH ausdrücklich formuliert, nicht dem Schutz Dritter. Sie betreffen nicht die Ebene der Kostenfestsetzung, §§ 91 ff. ZPO, also das Verhältnis des Erstattungspflichtigen zur erstattungsberechtigten Partei; insofern besteht nur die Ausnahme in § 15 a Abs. 2 RVG.
Der Mandant schuldet in diesen Fällen zwei Anwälten die Gebühren ohne Anrechnung und für den Erstattungspflichtigen besteht nicht die Gefahr, mehr an Aufwendungen leisten zu müssen, als der Mandant seinem Anwalt schuldet (wie es dem Normzweck von § 15 a Abs. 2 RVG entspricht).
Häufig ausufernde Schriftsatzwechsel der Parteien zur Frage einer „Notwendigkeit“ im Sinne von § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO entfallen, weil es darauf nicht mehr ankommt. Deren Würdigung im Rahmen der Kostenfestsetzung durch den – mit Einzelheiten und Hintergrund des Verfahrens nicht vertrauten – Rechtspfleger ist ohnedies meist mühsam und schwierig.
d) Das ist zumal im vorliegenden Fall sachgerecht: Es erscheint verständlich, wenn die Beklagten als sachlichen Grund für den Anwaltswechsel anführen, man habe auf Weisung der Versicherung eine auf Anwaltshaftung spezialisierte Kanzlei eingeschaltet.
Ein ebenso gut nachvollziehbarer Grund war offensichtlich auch bei dem genannten BGH-Beschluss vom 27.08.2014, a. a. O., gegeben: Eine Wohnungseigentümergemeinschaft könne nicht aus kostenrechtlichen Gründen gezwungen sein, den zuvor von einem einzelnen Mitglied beauftragten Anwalt heranzuziehen. In der Regel werden jedenfalls entsprechende Argumente für einen Wechsel vorliegen, weshalb der Senat keinen zwingenden Grund sieht, die Anwaltswahl insoweit einzuschränken bzw. bei der Kostenerstattung fiktive Anrechnungen vorzunehmen (zutreffend daher Schneider, Anm. zu OLG Köln, Beschl. v. 10.12.2012, a. a. O., AGS 13, 568, 571; zur Erforderlichkeit einer klaren Linie siehe nicht zuletzt etwa Müller-Rabe, a. a. O., 22. Aufl., Anh. III Rn. 74, unter Aufgabe der Auffassung in der 21. Aufl., Anh. III Rn. 75, in der ihrerseits wieder die andere Auffassung aufgegeben wurde).
e) Das bedeutet nicht, dass ein Berufen des Erstattungsberechtigten auf eine nicht mögliche Anrechnung stets ausgeschlossen wäre:
Im Einzelfall mag ein Wechsel des Anwaltes rechtsmissbräuchlich sein, etwa wenn er nur deshalb erfolgt, um die Kosten für den Gegner zu erhöhen (vgl. Müller-Rabe, a. a. O., § 15 a Rn. 71 a.E.; OLG Köln, Beschl. v. 14.07.2009 – 25 WF 78/09 Tz 4 a.E.).
f) Nachdem die Frage umstritten ist, das OLG Köln etwa in dem genannten Beschluss vom 10.12.2012 eine andere Ansicht vertritt und der BGH den Streit in seiner Entscheidung vom 27.08.2014, a. a. O., Tz 22, nicht klären musste, wurde die Rechtsbeschwerde zugelassen (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

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