Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Abschiebungsbescheid wegen Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 1 K 15.50678

Datum:
3.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 271, § 34a Abs. 1 S. 1, § 71a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, muss die Folgen tragen (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juni 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm der Rechtsstreit durch Beschluss der Kammer vom 2. März 2016 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Entscheidung kann mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen lässt sich herleiten, dass er – sollte sich der Bescheid als objektiv rechtswidrig erweisen – möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektivöffentlichen Recht aus §§ 5, 24, 31 AsylG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte.
Die Klage wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
2. Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. …/… des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf das im Oktober 2014 gestellte Schutzgesuch des Klägers.
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag wirklich unzulässig war und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet werden durfte, ist die Bundesrepublik jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B.v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50006 – Rn. 4 f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Frist begann nach diesen Maßstäben hier mit der Annahme des Aufnahmeersuchens durch Ungarn am 4. Juni 2015.
Die Frist zur Überstellung des Klägers nach Ungarn wurde auch nicht durch den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vom …. Juli 2015 für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens, hier also bis zum Beschluss vom 10. August 2015, unterbrochen oder gehemmt (vgl. OVG NRW, B.v. 8.9.2014 – 13 A 1347/14.A – juris Rn. 5 ff. m. w. N.). Allerdings spielt der insoweit bestehende Meinungsstreit vorliegend keine Rolle, weil selbst seit Zustellung des Beschlusses vom 10. August 2015 am 21. August 2015 an die Beklagte sechs Monate vergangen sind.
Auch lagen keine Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO vor. Die sechsmonatige Frist ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits abgelaufen.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
3. Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Er kann sich auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen. Er hat nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt. Dem Kläger kann auch nicht die Aufnahmebereitschaft Ungarns entgegengehalten werden. Es steht nicht fest, dass Ungarn ihn aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird (OVG NRW, B.v. 11.11.2015 – 13 A 1692/15.A – juris Rn. 6).
Aus den auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines Drittlandes in einem Mitgliedstaat gestellt hat (Dublin II-VO) ergangenen Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2015 (1 C 32.14, 1 C 33.14, 1 C 34.14 – juris) ergibt sich nichts anderes, da sie auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar sind. Sie betreffen nicht den Ablauf der Sechsmonatsfrist aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, sondern den Ablauf der Frist aus Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO, der für die Stellung eines Aufnahmegesuchs an einen anderen Mitgliedstaat eine Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Dublin II-VO vorsieht. Hinzu kommt, dass im zugrunde liegenden Fall der ersuchte Staat (Spanien) trotz Ablaufs der Frist aus Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO der Wiederaufnahme zugestimmt hatte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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