Aktenzeichen W 6 S 16.140
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
1 Bei der Frage, ob dem Betreffenden eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 S. 3 StVG zugutekommt, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 6 S. 1 und 2 StVG nicht auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung oder Eintragung im Fahreignungsregister der letzten zu berücksichtigenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern es kommt allein darauf an, ob bei Ergreifen der weiteren Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Frage, ob die Fahrerlaubnisbehörde sich schuldhafte Verzögerungen durch andere Behörden (Staatsanwaltschaften, Kraftfahrt-Bundesamt) bei der Übermittlung der Daten zurechnen lassen muss, kann offenbleiben, wenn solche schuldhaften Verzögerungen fehlen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Entzugs seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, A18, A1, B, BE, C1, C1E, M, L und S.
Mit Bescheid vom 29.01.2016 entzog das Landratsamt M. (LRA) dem Antragsteller die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen (Nr. I). Der Antragsteller wurde aufgefordert, den Führerschein unverzüglich, spätestens fünf Tage nach Zustellung des Bescheids, zurückzugeben (Nr. II), wobei für den Fall der Nichtbeachtung die Wegnahme durch die Polizei angedroht wurde (Nr. III). Zur Begründung verwies das LRA auf folgende Zusammenstellung der Verkehrszuwiderhandlungen, die im Fahreignungsregister des Kraftfahr-Bundesamtes eingetragen und zum 30.04.2014 mit 11 Punkten zu bewerten gewesen seien:
Datum der
1. Tat
2.Entscheidung
3. RechtskraftBehörde/GerichtTatbestandsnummer/Tatbestands-textAktenzeichenPkt.
07.03.2011 10.08.2011 30.08.2011141723: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 34 km/h.3
29.06.2011 11.07.2011123624: Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeugs verbotswidrig ein Mobil-1
28.07.2011oder Autotelefon, indem Sie hierfür das Mobiltelefon oder den Hörer des Autotelefons aufnahmen oder hielten.
26.10.2011 24.04.2013 14.05.2013AG Gelnhausen141722: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h.2225-Js-OWI 8015/12 44 OWI3
06.01.2014 10.03.2014 27.03.2014141627: Sie missachteten das Uberholverbot, das durch Zeichen 276 angeordnet war.1
Nach Umrechnung zum 01.05.2014 habe der Punktestand 4 Punkte betragen. In der Folge seien folgende Verstöße in das Fahreignungsregister eingetragen und der Behörde bekanntgegeben worden:
Datum der
1. Tat
2. Entscheidung
3. RechtskraftBehörde/GerichtTatbestandsnummer/Tat-bestandstextAktenzeichenPkt.
06.02.2014 06.05.2014 23.06.2015141722: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h.1
26.03.2014 07.05.2014 23.06.2015141764: Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h.2
Am 26.11.2015 sei dem LRA eine weitere, am 18.11.2015 ins Fahreignungsregister eingetragene Ordnungswidrigkeit bekannt gegeben worden:
Datum der
1. Tat
2. Entscheidung
3. RechtskraftBehörde/GerichtTatbestandsnummer/Tat-bestandstextAktenzeichenPkt.
27.10.2014 19.01.2015 23.06.2015137618: Sie missachteten das Rotlicht der Lichtzeichenanlage. Die Rotphase dauerte bereits länger als 1 Sekunde an.2
Unter Einbeziehung sämtlicher Verstöße betrage der Punktestand somit 9 Punkte.
Der Antragsteller sei am 14.01.2014 bei einem Punktestand von 10 Punkten nach dem alten System verwarnt worden. Die zweite Maßnahme sei nach dem neuen Punktesystem am 16.11.2015 bei einem Punktestand von 7 Punkten erfolgt. Mit Schreiben vom 02.12.2015 sei die Anhörung zum Entzug der Fahrerlaubnis erfolgt. Der Entzug stütze sich auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 Straßenverkehrsgesetz (StVG). Die Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins ergebe sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 Fahrerlaubnisverordnung (FeV). Der Bescheid wurde dem Antragsteller ausweislich Postzustellungsurkunde am 02.02.2016 zugestellt.
Am 08.02.2016 gab der Antragsteller seinen Führerschein beim LRA ab.
Am 10.02.2016 hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 29.01.2016 erhoben (W 6 K 16.139) und zugleich beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, im Zeitpunkt der Verwarnung vom 16.11.2015 sei der Punktestand des Antragstellers gemäß § 4 Abs. 6 Nr. 2 StVG (in der Fassung vom 28.11.2014) auf 7 Punkt zu reduzieren gewesen, da sowohl Tattag als auch Rechtskraft der letzten drei Eintragungen im Fahrerlaubnisregister vor dem 16.11.2015 gelegen hätten. Eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 und 3 StVG dürfe erst dann ergriffen werden, wenn die zuvor liegende Stufe bereits ergriffen worden sei. Die offensichtlich willkürliche Verzögerung der letzten Eintragung ins Register müsse sich das LRA zurechnen lassen. Die Mitteilung über die letzte eingetragene Ordnungswidrigkeit sei dem Kraftfahrbundesamt von der Stadt M1. erst am 17.11.2015 und damit 5 Monate nach Rechtskraft mitgeteilt worden. Hätte das LRA von den letzten drei eingetragenen Ordnungswidrigkeiten gleichzeitig Kenntnis erlangt, hätte zweifellos eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 S. 4 StVG vorgenommen werden müssen. Die Kenntnisnahme der Fahrerlaubnisbehörde müsse den Grundsätzen der Rechtssicherheit und Willkürfreiheit genügen. Damit sei es nicht vereinbar, wenn der zeitlich vor der Ermahnung liegende Verstoß schon länger zurückliege.
Das LRA beantragt für den Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, für das Ergreifen behördlicher Maßnahmen werde auf den Punktestand abgestellt, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten Tat ergeben habe, hier der 26.11.2015. Der Entzug der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht Punkten sei zwingend. Das stufenweise Vorgehen sei sichergestellt. Der sofortige Vollzug des Entzugs der Fahrerlaubnis sei dringend geboten.
Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Beteiligten sowie der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Behördenakten verwiesen. Die Verfahrensakte W 6 K 16.139 wurde beigezogen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist teilweise unzulässig, im Ubrigen unbegründet.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, soweit der Antragsteller beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. I des Bescheids vom 29.01.2016 anzuordnen.
Da im vorliegenden Fall die Entziehung der Fahrerlaubnis auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG (in der ab 5.12.2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28.11.2014, BGBl I S. 1802) gestützt wurde, hat die Anfechtungsklage gemäß § 4 Abs. 9 StVG keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO).
Bezüglich der Pflicht, den Führerschein bei der Behörde abzuliefern (Nr. II des Bescheids) ist dagegen nicht von einer sofortigen Vollziehbarkeit kraft Gesetzes auszugehen, da die zugrundeliegende Norm des § 47 Abs. 1 Satz 2 FeV kein formelles Gesetz i. S. d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ist (vgl. BayVGH, B.v. 22.09.2015 – 11 CS 15.1447, juris – Rn. 23 unter Aufgabe der vorigen Rechtsprechung, vgl. z. B. BayVGH, B.v. 29.03.2007 – 11 CS 06.874 – juris).
Soweit sich der Antrag gegen die in Nr. III verfügte Zwangsgeldandrohung richtet, ist er unzulässig. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. Art. 21a Satz 1 des Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) entfaltet die Klage gegen die Zwangsgeldandrohung zwar keine aufschiebende Wirkung. Gemäß Art. 21a Satz 2 VwZVG gelten § 80 Abs. 4, 5, 7 und 8 der VwGO entsprechend. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache in einem solchen Fall auf Antrag die aufschiebende Wirkung anordnen. Allerdings hat sich dieser kraft Gesetzes sofort vollziehbare Ausspruch durch die Abgabe des Führerscheins beim LRA (vgl. Bl. 138 der Behördenakte) erledigt. Die Bedingung, von deren Erfüllung die Anwendbarkeit des angedrohten Zwangs abhängt, kann nicht mehr eintreten. Aus der Nr. III des streitgegenständlichen Bescheids ergibt sich für den Antragsteller daher keine Beschwer mehr (vgl. BayVGH, B.v. 29.10.2009 – 11 CS 09.1968; B.v. 12.3.2007 – 11 CS 06.2028; beide juris).
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. I des Bescheids vom 29.01.2016 hat in der Sache keinen Erfolg.
Entfällt kraft Gesetzes die aufschiebende Wirkung, so kann gemäß § 80 Abs. 5 VwGO das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, wobei es eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien trifft. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
Eine summarische Prüfung der Hauptsache, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich und ausreichend ist, ergibt, dass die Klage voraussichtlich mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird. Es spricht einiges dafür, dass die in Nr. I getroffene Regelung formell und materiell rechtmäßig und der Antragsteller dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Auf den vorliegenden Fall findet § 4 StVG in der ab 05.12.2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28.11.2014 (BGBl I S. 1802) Anwendung, da auf den Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 29.01.2016 abzustellen ist. Die gerichtliche Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde auszurichten (vgl. BayVGH, B.v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 27.09.1995 – 11 C 34.94 – BVerw-GE 99, 249). In Ermangelung eines Widerspruchsverfahrens ist dies hier der Zeitpunkt des Erlasses des streitbefangenen Bescheids.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Gesetzesänderung zum 1. Mai 2014 entwickelte Tattagprinzip normiert. Der Antragsteller hat durch die am 27.10.2014 begangene und am 19.01.2015 geahndete Ordnungswidrigkeit (Rechtskraft 23.06.2015) neun Punkte erreicht, so dass ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen war.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG werden bei der Berechnung des Punktestandes Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind. Die für den Verkehrsverstoß vom 27.10.2014 anfallenden zwei Punkte konnten daher den zu diesem Zeitpunkt schon bestehenden sieben Punkten hinzugerechnet werden.
Der Antragsteller kann auch keine Punktereduzierung beanspruchen. Nach § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG darf die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StVG (Verwarnung oder Fahrerlaubnisentziehung) erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 oder 2 StVG bereits ergriffen worden ist. Sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, ist diese zu ergreifen (§ 4 Abs. 6 Satz 2 StVG). Der Punktestand verringert sich dann mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte und der Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (§ 4 Abs. 6 Satz 3 StVG). Diese Regelungen wurden (inhaltlich) bereits zum 1. Mai 2014 eingeführt, wenngleich § 4 Abs. 6 StVG mit Gesetz vom 28.11.2014 (BGBl I S. 1802) zum 05.12.2014 neu gefasst und durch weitere Regelungen ergänzt wurde.
Der Antragsteller hat das Stufensystem durchlaufen, ohne dass eine Punktereduzierung eingetreten wäre. Die Fahrerlaubnisbehörde verwarnte ihn mit Schreiben vom 14.01.2014 nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 05.03.2003 (BGBl I S. 310, StVG a. F.), damals zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2011 (BGBl I S.3044), bei einem angenommenen Stand von acht Punkten (erste Stufe der Maßnahmen nach dem Punktsystem). Diese Verwarnung war nach Einführung des Fahreignungs-Bewertungssystems zum 1. Mai 2014 nicht zu wiederholen, da die (Neu-) Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG allein (Umrechnung der Punkte) nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem führt (§ 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG, BayVGH, B.v. 07.01.2015 – 11 CS 14.2653 – juris Rn. 9).
Entsprechendes gilt für die zweite Stufe des Punktsystems. Die Fahrerlaubnisbehörde sprach gemäß bei einem im Fahreignungsregister eingetragenen Stand von 7 Punkten (nach neuer Fassung) mit Schreiben vom 16.11.2015 eine Verwarnung aus (§ 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 StVG).
Dem Antragsteller kommt auch keine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zugute. Bei der Frage, ob dem Betreffenden eine Punkteverringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zugutekommt, ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 4 Abs. 6 Sätze 1 und 2 StVG nicht auf den Zeitpunkt der rechtskräftigen Ahndung oder Eintragung im Fahreignungsregister der letzten zu berücksichtigenden Zuwiderhandlung abzustellen, sondern es kommt allein darauf an, ob bei Ergreifen der weiteren Maßnahme die vorherige Maßnahme tatsächlich schon rechtmäßig ergriffen wurde. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG gestützt, wonach auch im Falle einer Verringerung der Punktezahl nach Satz 3 der Vorschrift Punkte für Zuwiderhandlungen, die vor der Verringerung nach Satz 3 begangen worden sind und von denen die zuständige Behörde erst nach der Verringerung Kenntnis erhält, den sich nach Satz 3 ergebenden Punktestand erhöhen (vgl. auch BayVGH, B. v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 – juris Rn. 18).
Unabhängig von seiner Formulierung und seiner systematischen Stellung in der einschlägigen Vorschrift gilt das ganz allgemein. Es wäre widersinnig, bei der Berechnung des Punktestands Zuwiderhandlungen unabhängig davon zu berücksichtigen, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG), andererseits aber eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 1 bis 3 StVG anzunehmen, wenn der Betreffende vor der vorhergehenden Maßnahme bereits weitere Zuwiderhandlungen begangen hat. Der Rechtsgedanke des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG löst den Widerspruch dahingehend auf, dass die Kenntnis der Behörde von den rechtskräftig mit bindender Wirkung (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG) geahndeten und im Fahreignungsregister eingetragenen Verkehrsverstößen maßgeblich ist. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG tritt somit nur ein, wenn der Fahrerlaubnisbehörde am Tag der ergriffenen Maßnahme weitere Verkehrsverstöße bekannt sind, die zu einer Einstufung in eine höhere Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG führen (vgl. BayVGH, U.v. 11.08.2015 – 11 BV 15.909 – VRS 129, 27).
Eine solche Auslegung entspricht auch dem Zweck der Rechtsänderungen zum 1. Mai 2014 und 5. Dezember 2014. Der Gesetzgeber wollte sich gemäß der Gesetzesbegründung von den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 25.09.2008 (Az. 3 C 3/07) für das ab 1. Mai 2014 geltende neue System mit den Erwägungen zur Punkteentstehung und zum Tattagprinzip bewusst absetzen (BT-Drs. 18/2775, S. 9). Es soll nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit zur Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf. Vielmehr kommt es unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten und für das Ziel, die Allgemeinheit vor ungeeigneten Fahrern zu schützen, auf die Effektivität des Fahreignungs-Bewertungssystems an (BT-Drs. 18/2775, S. 9 f.). Insbesondere bei Konstellationen, in denen in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wurde, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, soll nach Ansicht des Gesetzgebers in Abwägung mit dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit nicht über bestimmte Verkehrsverstöße hinweggesehen werden (vgl. BT-Drs. 18/2775, S. 10). Die Prüfung der Behörde, ob die Maßnahme der vorangehenden Stufe bereits ergriffen worden ist, ist daher vom Kenntnisstand der Behörde bei der Bearbeitung zu beurteilen und beeinflusst das Entstehen von Punkten nicht (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Mit § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG soll nach der Gesetzesbegründung verdeutlicht werden, dass Verkehrsverstöße auch dann mit Punkten zu bewerten sind, wenn sie vor der Einleitung einer Maßnahme des Fahreignungs-Bewertungssystems begangen worden sind, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnten, etwa weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen wurden oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sind (BT-Drs. 18/2775, S. 10). Eine solche Konstellation, in der die Behörde erst nach Ergreifen einer Maßnahme von weiteren – vorher begangenen – Verkehrsverstößen erfahren hat, liegt hier vor, denn die Fahrerlaubnisbehörde hatte vor dem Eingang der Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts am 26.11.2015 keine Kenntnis von dem rechtskräftig geahndeten schweren Verkehrsverstoß vom 27.10.2014 (Missachtung eines Rotlichts). Gerade die von der Gesetzesbegründung genannte Konstellation, bei der in kurzer Zeit wiederholt und schwer gegen Verkehrsregeln verstoßen wird, was ein besonderes Risiko für die Verkehrssicherheit bedeutet, liegt im Fall des Antragstellers vor. Er hat am 06.01.2014 ein Überholverbot missachtet und am 06.02.2014 und 26.03.2014 die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb und außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 bzw. 26 km/h überschritten, nachdem er bereits zwischen dem 07.03.2011 und dem 26.10.2011 mehrfach die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 bzw. 34 km/h überschritten und am 09.06.20111 verbotswidrig ein Mobiltelefon benutzt hatte.
Die Fahrerlaubnisbehörde hat hier jeweils unverzüglich nach Kenntniserlangung von den im Fahreignungsregister eingetragenen Punkten die entsprechenden Maßnahmen ergriffen (vgl. hierzu VGH BW, B.v. 06.08.2015 – 10 S 1176/15 – DÖV 2015, 935; vgl. auch OVG NW, B.v. 27.04.2015 – 16 B 226/15 – juris Rn. 13). Ob die Fahrerlaubnisbehörde sich ggf. schuldhafte Verzögerungen durch andere Behörden (Staatsanwaltschaften, KraftfahrtBundesamt) bei der Übermittlung der Daten zurechnen lassen muss, kann offenbleiben, denn solche schuldhaften Verzögerungen liegen hier nicht vor.
Nach § 28 Abs. 4 StVG teilen die Gerichte, Staatsanwaltschaften und anderen Behörden dem Kraftfahrt-Bundesamt unverzüglich die nach § 28 Abs. 3 StVG zu speichernden Daten mit. Die Eintragung von Entscheidungen im Fahreignungsregister stellt keinen Verwaltungsakt dar, sondern dient nur der Sammlung von Informationen (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 28 StVG Rn. 17). Hier liegt die besondere Konstellation vor, dass der Verkehrsverstoß vom 27.10.2014 mit Bußgeldbescheid der Stadt M1. vom 19.01.2015 geahndet wurde. Dieser Bußgeldbescheid wurde vom Antragsteller mit Einspruch ohne Begründung angefochten. Der Einspruch wurde mit Urteil des Amtsgerichts M1. vom 01.06.2015 verworfen. Davon erhielt die Stadt M1. als die für die Mitteilung an das Kraftfahr-Bundesamt zuständige Stelle am 21.09.2015 durch die Staatsanwaltschaft Kenntnis. Durch Mitteilung des Antragstellerbevollmächtigten wurde die Stadt M1. darauf aufmerksam gemacht, dass der auf dem Urteil des Amtsgerichts angebrachte Rechtskraftvermerk unrichtig war. Erst nach Übersendung des Urteils mit berichtigtem Rechtskraftvermerk (Eingang bei der Stadt M1. am 21.10.2015) wurde diese in die Lage versetzt, eine korrekte Meldung an das Kraftfahr-Bundesamt zu machen, was am 17.11.2015 erfolgte. Die Eintragung wurde durch das Kraftfahr-Bundesamt am 18.11.2015 durchgeführt, die Mitteilung an das LRA erfolgte am gleichen Tag, Eingang dort am 26.11.2015, und damit nach Zugang der Verwarnung vom 16.11.2015 beim Antragsteller (19.11.2015).
Damit sind insgesamt bei der Übermittlung der Daten keine schuldhaften oder gar willkürlichen Verzögerungen ersichtlich. Der Antragsteller kann sich auch nicht auf ein schützenswertes Vertrauen berufen, dass die am gleichen Tag in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungen über die Verstöße vom 08.02.2014, 26.03.2014 und 27.10.2014 tatsächlich gleichzeitig an das Kraftfahr-Bundesamt übermittelt werden (vgl. BayVGH, B. v. 10.06.2015 – 11 CS 15.745 – juris Rn. 21). Der Antragsteller wollte mit der gleichzeitigen Rücknahme von Rechtsmitteln offenbar eine parallele Vollstreckung der drei Fahrverbote erreichen (§ 25 Abs. 2a S. 2 StVG), was ihm keine schützenswerte Stellung einräumt. Es liegt vielmehr in der Natur der Sache, dass Meldungen unterschiedlicher Behörden zeitlich unterschiedlich erfolgen können, wobei ein versehentlich falscher Rechtskraftvermerk wie vorliegend ebenfalls vorkommen kann, ohne dass daraus auf eine schuldhafte Verzögerung der Meldekette geschlossen werden kann.
Durchgreifende Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs. 5 und 6 StVG bestehen nicht (BayVGH, B. v. 02.12.2015 – 11 CS 15.2138 – juris Rn. 25). Es stellt insbesondere keinen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG dar, dass der Gesetzgeber die in § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 StVG a. F. geregelte Warn- und Erziehungsfunktion und die damit einhergehende Verringerung der Punktestände weitestgehend aufgegeben hat. Es ist nicht ersichtlich, dass es verfassungsrechtlich geboten wäre, eine solche Begünstigung für Personen, die in kurzen zeitlichen Abständen erhebliche Verkehrsverstöße begehen, beizubehalten. Nach der Begründung des Gesetzes vom 28.11.2014 (BT-Drs. 18/2775, S. 9) dient das Stufensystem der Information des Betroffenen. Die Fahrerlaubnisbehörde kann aber nur informieren, wenn ihr die mit Punkten bewehrten Verkehrsverstöße bekannt sind. Soweit keine willkürliche Verzögerung der Kenntnisnahme durch die Behörde vorliegt, ist es nicht zu beanstanden, die entsprechenden Maßnahmen vom Kenntnisstand der Fahrerlaubnisbehörde abhängig zu machen (vgl. BayVGH, U.v. 11.08.2015 – 11 BV 15.909 – VRS 129, 27; OVG NW, B.v. 27.04.2015 – 16 B 226/15 – juris Rn. 13).
Die Eintragungen bezüglich der Verstöße von 2011 waren bei Erlass des Entzugsbescheides vom 29.01.2016 auch noch nicht tilgungsreif. Sie unterliegen nach der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG bis 30.04.2019 weiterhin den Tilgungsvorschriften der Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 anwendbaren Fassung (StVG a. F.). Nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F. betrugen die Tilgungsfristen bei Entscheidungen über Ordnungswidrigkeiten zwar nur zwei Jahre. Die Tilgung einer Eintragung war nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. indes im Falle der Eintragung mehrerer Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG a. F. regelmäßig erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorlagen (sog. Ablaufhemmung). Die Tilgungsfristen begannen gemäß § 29 Abs. 4 Nr. 4 StVG a. F. bei Bußgeldentscheidungen mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidungen. Diese trat für die Verstöße vom 07.03.2011 am 30.08.2011, vom 09.06.2011 am 28.07.2011 und vom 26.10.2011 am 14.05.2013 ein. Bereits am 06.01.2014 fand der nächste Verstoß statt (Rechtskraft 23.06.2015), danach am 26.03.2014 (Rechtskraft 23.06.2015), sodann am 27.10.2014 (Rechtskraft am 23.06.2015). Die Tilgungsfristen dieser Verstöße konnten daher wegen der Ablaufhemmung aufgrund nachfolgender Verstöße jeweils innerhalb der Zwei-Jahresfrist nicht ablaufen. Die absolute Tilgungsfrist von fünf Jahren (§ 29 Abs. 6 Satz 4 StVG a. F.) war beginnend mit der Rechtskraft am 30.08.2011 bei Begehung der letzten Tat am 27.10.2014 ebenfalls noch nicht abgelaufen.
Die Ablaufhemmung erscheint auch nicht unverhältnismäßig, obwohl sie seit der Rechtsänderung am 1. Mai 2014 in § 29 StVG n. F. nicht mehr vorgesehen ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 11 ZB 15.1591 – juris), zumal auch die Tilgungsfristen neu geregelt wurden.
Nach alldem hat das LRA dem Antragsteller aller Voraussicht nach zu Recht die Fahrerlaubnis entzogen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG und den Empfehlungen in Nrn. 1.5, 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.