Aktenzeichen L 15 VG 8/12
Leitsatz
Verfahrensgang
S 4 VG 3/10 2012-02-16 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 16. Februar 2012 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die gemäß §§ 143, 144 in Verbindung mit § 105 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 Abs. 1 in Verbindung mit § 105 Abs. 2 SGG form- und fristgemäß eingelegte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist ausschließlich die Anfechtung des den Antrag der Klägerin vom 26.01.2009, eingegangen beim Beklagten am 28.01.2009, ablehnenden Bescheids des Beklagten vom 17.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.03.2010 kombiniert mit dem Leistungsbegehren, der Klägerin wegen des Vorfalles am 11.12.2008 Beschädigtenrente zu gewähren. Obgleich die anwaltlich vertretene Klägerin, wie schon im Klage- und Berufungsverfahren, dem Wortlaut nach „Entschädigungsleistungen im Sinne des OEG“ begehrt, legt das Gericht den Berufungsantrag im wohlverstandenen Interesse der Klägerin als auf die Gewährung von Beschädigtenrente gerichtet aus, da der ausdrücklich gestellte Leistungsantrag unzulässig wäre (vgl. BSG, Urteil vom 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R -, m.w.N.).
Das SG hat zu Recht die Klage gegen den Bescheid vom 17.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2010 abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Versorgung ist nicht gegeben, weil sie am 11.12.2008 nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist.
Wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wobei die Anwendung dieser Vorschrift gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 OEG nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat.
Bei der Beurteilung einer Handlung als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geht der Senat von folgenden Erwägungen aus (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteile vom 26.01.2016 – L 15 VG 30/09 -, 16.11.2015 – L 15 VG 28/13 -, 20.10.2015 – L 15 VG 23/11 – und 05.02.2013 – L 15 VG 22/09 -, m.w.N.; siehe auch: BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 17.04.2013 – B 9 V 1/12 R sowie B 9 V 3/12 R -):
Nach dem Willen des Gesetzgebers ist die Verletzungshandlung im OEG eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt, obwohl sich die Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 Strafgesetzbuch (StGB) gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – und 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R -, m.w.N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB wird der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt und wirkt damit körperlich auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R -, m.w.N.). Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher Kraft (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.). Trotz seiner inhaltlichen Nähe zur Gewalttätigkeit nach § 125 StGB setzt der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht unbedingt ein aggressives Verhalten des Täters voraus, sodass auch ein nicht zum körperlichen Widerstand fähiges Opfer von Straftaten unter dem Schutz des OEG steht (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).
Danach ist unter einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung zu verstehen, wobei ein tätlicher Angriff jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.). Fehlt es an einem tätlichen – körperlichen – Angriff, ergeben sich für die Opfer allein psychischer Gewalt aus § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG keine Entschädigungsansprüche (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.). Auch eine (bloß) objektive Gefährdung reicht ohne physische Einwirkung, z.B. Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc., für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht aus (vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.).
Das BSG hat in seinem vorgenannten Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R – hierzu im Einzelnen Folgendes ausgeführt: „a) Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung als einen „tätlichen Angriff“ grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung angesehen (vgl. z.B. Urteil vom 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R – BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, RdNr. 25 m.w.N.; Urteil vom 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R – Juris RdNr. 14 m.w.N.) und die Entwicklung der Auslegung dieses Rechtsbegriffs zuletzt im Rahmen der Beurteilung von strafbaren ärztlichen Eingriffen (vgl. Urteil vom 29.04.2010 – B 9 VG 1/09 R – BSGE 106, 91 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, RdNr. 26 ff) und hinsichtlich des gesellschaftlichen Phänomens des „Stalking“ umfassend dargelegt (vgl. Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, RdNr. 33 ff). Dabei ist der Senat immer davon ausgegangen, dass die Verletzungshandlung im OEG nach dem Willen des Gesetzgebers eigenständig und ohne direkte Bezugnahme auf das StGB geregelt ist (vgl. BT-Drucks 7/2506 S. 10), obwohl sich die Auslegung des Begriffs des „tätlichen Angriffs“ auch an der im Strafrecht zu den §§ 113, 121 StGB gewonnenen Bedeutung orientiert (vgl. BSG, a.a.O., RdNr. 32 m.w.N.). Der Senat ist dabei soweit gegangen, eine erhebliche Drohung gegenüber dem Opfer für einen tätlichen Angriff genügen zu lassen, als sie zumindest mit einer unmittelbaren Gewaltanwendung gegen eine Sache einherging, die als einziges Hindernis dem unmittelbaren körperlichen Zugriff auf das Opfer durch die Täter noch im Wege stand, sodass der Angriff nicht lediglich auf einer Drohung, sondern auch auf Anwendung tätlicher Gewalt basierte (BSG Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVg 1/96 – BSGE 81, 42, 44 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 11). Soweit – wie im vorliegenden Fall – eine „gewaltsame“ Einwirkung in Frage steht, ist nach der Senatsrechtsprechung schon immer zu berücksichtigen gewesen, „dass der Gesetzgeber durch den Begriff des tätlichen Angriffs den schädigenden Vorgang i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begrenzt und den im Strafrecht uneinheitlich verwendeten Gewaltbegriff eingeschränkt hat“ (BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 18 (Stalking), RdNr. 36; vgl. auch: BSG Urteil vom 14.2.2001 – B 9 VG 4/00 R – BSGE 87, 276, 279 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 18 S. 73 (Mobbing); BSG Urteil vom 28.03.1984 – 9a RVg 1/83 – BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr. 4 S. 9 (Flucht vor Einbrecher); s. auch Darstellung bei Heinz, Zu neueren Entwicklungen im Bereich der Gewaltopferentschädigung anlässlich neuerer Rechtsprechung zur Anspruchsberechtigung nach dem OEG bei erlittenem „Mobbing“ und „Stalking“, br 2011, 125, 131 f). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff i.S. des § 240 StGB (vgl. hierzu Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 240 RdNr. 8 ff m.w.N.) wird der tätliche Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person geprägt (vgl. insbesondere Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG, BT-Drucks 7/2506 S. 10, 13 f) und wirkt damit körperlich (physisch) auf einen anderen ein. Dieses Verständnis der Norm entspricht am ehesten dem strafrechtlichen Begriff der Gewalt i.S. des § 113 Abs. 1 StGB als einer durch tätiges Handeln bewirkten Kraftäußerung, also einem tätigen Einsatz materieller Zwangsmittel wie körperlicher Kraft (vgl. Fischer, StGB, 61. Aufl. 2014, § 113 RdNr. 23; BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R – a.a.O., RdNr. 36 m.w.N.). Andererseits reicht die bloße Verwirklichung eines Straftatbestandes, z.B. eines Vermögensdelikts, allein für die Annahme eines „tätlichen Angriffs“ i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG nicht aus (vgl. BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97, 114 = SozR, a.a.O., RdNr. 41 und 62 f), auch wenn das Opfer über den eingetretenen Schaden „verzweifelt“ und z.B. seelische Gesundheitsschäden davonträgt. Demgemäß hat der Senat eine Wertung als tätlicher Angriff auch für Telefonate, SMS, Briefe, Karten und dergleichen abgelehnt, weil es insoweit bereits an einer unmittelbar drohenden Gewaltanwendung fehlte (vgl. BSG, a.a.O., RdNr. 71). Der Senat sah schon immer in Fällen der Bedrohung oder Drohung mit Gewalt die Grenze der Wortlautinterpretation als erreicht an, wenn sich die auf das Opfer gerichteten Einwirkungen – ohne Einsatz körperlicher Mittel – allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellen und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielen (vgl zuletzt: Beschlüsse vom 25.02.2014 – B 9 V 65/13 B – und vom 17. Bzw. 22.09.2014 – B 9 V 27 bis 29/14 B -, jeweils zu RdNr. 6, wo den Opfern einer Erpressung ua damit gedroht wurde, Familienangehörige umzubringen und das Haus anzuzünden). Der Senat präzisiert dies dahingehend, dass ein tätlicher Angriff dann nicht vorliegt, wenn es an einer unmittelbaren Gewaltanwendung fehlt (dazu unter b). b) Soweit der Senat darüber hinaus einen „tätlichen Angriff“ i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG auch noch in einem Fall angenommen hat, in dem der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat, weil eine derartige Bedrohung das Leben und die Unversehrtheit des Opfers objektiv hoch gefährde (vgl. BSG Urteil vom 24.07.2002 – B 9 VG 4/01 R – BSGE 90, 6, 9 f = SozR 3-3800 § 1 Nr. 22 S. 103 f), hält er hieran nicht mehr fest. Dies gilt auch für die Senatsrechtsprechung, die im Umkehrschluss die bloße Drohung zu schießen, mangels einer objektiv erhöhten Gefährdung des Bedrohten nicht hat ausreichen lassen, wenn der Täter keine Schusswaffe bei sich führt (vgl. Urteil vom 02.10.2008 – B 9 VG 2/07 R – Juris RdNr. 20). Nach dieser Rechtsprechung läge im vorliegenden Fall ein tätlicher Angriff schon deshalb nicht vor, weil der Täter der Klägerin lediglich eine objektiv ungefährliche Schreckschusspistole vorhielt. Der Senat sieht sich vor dem Hintergrund der aktuell vorliegenden Konstellation im Verhältnis zu den Entscheidungen vom 24.07.2002 (B 9 VG 4/01 R – BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 22 – „Drohung mit einer scharfgeladenen und entsicherten Schusswaffe“) und vom 02.10.2008 (B 9 VG 2/07 R – „bloße Drohung zu schießen, ohne Besitz einer Schusswaffe“) veranlasst, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern: Der Senat lässt eine objektive Gefährdung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person auch ohne physische Einwirkung (Schläge, Schüsse, Stiche, Berührung etc.) nicht mehr bereits aufgrund der objektiven Gefährlichkeit der Situation (z.B. Drohung mit geladener Schusswaffe) für die Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG ausreichen. Für das Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs kommt es nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Situation im Nachhinein als tatsächlich objektiv (lebens-)gefährlich erweist, weil die Waffe scharf geladen und entsichert war, oder als ungefährlich, weil es sich um eine bloße – echt aussehende – Schreckschusswaffe handelte. In diesen Fällen steht die Drohwirkung der vorgehaltenen Waffe auf das Opfer und dessen psychische Belastung in der konkreten Situation im Vordergrund; diese unterscheidet sich insoweit in Fällen wie dem vorliegenden regelmäßig nicht. Die psychische Wirkung (hier: Drohwirkung) einer Straftat und eine hieraus resultierende zB sogenannte posttraumatische Belastungsstörung ist im Opferentschädigungsrecht keineswegs unbeachtlich. Sie ist vielmehr insoweit von Bedeutung, als für die Frage des Vorliegens eines Gesundheitsschadens nicht nur physische, sondern auch psychische Schäden beachtlich sind. Allerdings kann die psychische Wirkung einer Straftat das Erfordernis des „tätlichen Angriffs“ i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG nicht ersetzen. Der eingetretene Schaden muss gerade auf einem solchen „tätlichen Angriff“ und nicht – wie vorliegend – auf einer (bloßen) Drohung mit Gewalt beruhen. Bereits in seinem Urteil vom 07.04.2011 (B 9 VG 2/10 R – BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, RdNr. 47) hat der Senat klargestellt, dass entgegen einer im Schrifttum teilweise vertretenen Auffassung nicht darauf abzustellen ist, ob die Angriffshandlung „körperlich wirkt“ bzw. zu körperlichen Auswirkungen im Sinne eines pathologisch, somatisch, objektivierbaren Zustands führt (so beispielhaft wohl Geschwinder, Der tätliche Angriff nach dem OEG, SGb 1985, 95, 96 zu Fußnote 17 und 18 m.w.N.) oder welches Individualgut (insbesondere körperliche Unversehrtheit und Leben) von der verletzten Strafrechtsnorm geschützt wird (vgl. insgesamt: BSG, a.a.O., RdNr. 47 m.w.N. zur Literatur). Fehlt es allerdings an einem tätlichen – körperlichen – Angriff, ergeben sich aus § 1 Abs. 1 S. 1 OEG für die Opfer allein psychischer Gewalt keine Entschädigungsansprüche (vgl. hierzu allgemein: BSG, a.a.O., RdNr. 49; Doering-Striening, Altes und Neues – zur Reform des Opferentschädigungsrechts, ASR 2014, 231, 233, 235). c) Entscheidend für einen Anspruch nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG ist, ob die Folgen eines bestimmten Ereignisses (Primärschaden oder eventuelle Folgeschäden) gerade die zurechenbare Folge eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs sind. Wie der Senat mit Beschlüssen vom 25.02.2014 (B 9 V 65/13 B) und vom 17.09.2014 bzw. 22.09.2014 (B 9 V 27 bis 29/14 B, jeweils zu RdNr. 6) zu schriftlichen Erpressungsversuchen bereits angedeutet hat, reicht die bloße Drohung mit einer, wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung für einen tätlichen Angriff nicht aus. Denn dieser Umstand allein stellt über die psychische Wirkung hinaus noch keinen tatsächlichen physischen „Angriff“ dar. Aus der Sicht eines objektiven Dritten wie auch des unwissenden Opfers kann es keinen Unterschied machen, ob eine Schusswaffe geladen, nicht geladen oder eine echt wirkende Attrappe ist. Der tätliche Angriff in Gestalt der körperlichen Einwirkung auf den Körper eines anderen beginnt in diesen Fallkonstellationen erst mit dem Abfeuern des Schusses oder dem Aufsetzen der Waffe auf den Körper des Opfers. Maßgeblich i.S. von § 1 Abs. 1 S. 1 OEG ist, ob ein tätlicher – körperlicher – Angriff tatsächlich begonnen hat. Daran fehlt es hier. Die auf die Klägerin als Opfer gerichtete Einwirkung beruhte ohne den Einsatz körperlicher Mittel allein auf einer intellektuell bzw. psychisch vermittelten Beeinträchtigung. Die Klägerin sollte mit einer (hier: vorgetäuschten) Bedrohung für Leib oder Leben zu bestimmten Handlungen bzw. Unterlassungen genötigt werden. Eine derartige Bedrohung stellt keinen tätlichen Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG dar (vgl. BSG Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R – a.a.O., RdNr. 44 m.w.N.; Dau, jurisPR-SozR 10/2013 Anm. 2 zu C). d) Für das zentrale Tatbestandsmerkmal des „tätlichen Angriffs“ war von Anfang an darauf verzichtet worden, auf das Strafrecht zurückzugreifen mit seinen vielfältigen und uneinheitlich weit gefassten Gewaltbegriffen (vgl. z.B. Heinz, Zu neueren Entwicklungen im Bereich der Gewaltopferentschädigungen anlässlich neuerer Rechtsprechung zur Anspruchsberechtigung nach dem OEG bei erlittenem „Mobbing“ und „Stalking“, br 2011, 125, 132). Es sollten ausschließlich die Fälle der sogenannten „Gewaltkriminalität“ in die Entschädigung einbezogen werden, die mit einem willentlichen Bruch der Rechtsordnung durch körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person einhergehen (BT-Drucks 7/2506 S. 10). In Anlehnung an § 113 StGB hat der Gesetzgeber den „rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen eine Person“ als eine unmittelbare auf den Körper eines Menschen zielende feindselige Einwirkung verstanden und beim (vorsätzlichen) Tathergang als erforderlich angesehen, dass der Täter im Rahmen des bereits begonnenen tätlichen Angriffs auf einen Menschen zumindest Leib oder Leben eines anderen Menschen wenigstens fahrlässig gefährdet hat (BT-Drucks 7/2506 S. 13, 14; zu aberratio ictus vgl. Rademacker, a.a.O., § 1 OEG RdNr. 11). Der Gesetzgeber hat es zudem ausdrücklich vermieden, strafrechtliche Tatbestände listenmäßig, wie z.B. die §§ 250, 253 und 255 StGB, zu benennen, um Abgrenzungsschwierigkeiten zu der nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG allein zu berücksichtigenden körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person zu vermeiden (BT-Drucks 7/2506 S. 10; vgl. auch BSG Urteil vom 18.10.1995 – 9 RVg 4/93 – BSGE 77, 7, 10 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 6 S. 25). Zwar kann auch Drohung mit Gewalt psychische Gesundheitsstörungen beim Betroffenen hervorrufen. Dieser ist aber nicht zu staatlicher Entschädigung berechtigtes Opfer krimineller Gewalt i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG geworden, weil das Tatmittel nicht körperliche Gewalt („tätlicher Angriff“) gegen den Körper, sondern eine List oder Täuschung gewesen ist (zum Erfordernis „körperlicher Gewalt“ vgl. Rademacker, a.a.O., § 1 OEG RdNr. 8, 32; Dau, jurisPR-SozR 10/2013 Anm. 2 zu C). f) Es ist dem Gesetzgeber vorbehalten, den Begriff des tätlichen Angriffs über den mit Bedacht gewählten und bis heute beibehaltenen engen Wortsinn des OEG auf Straftaten zu erstrecken, bei denen es an einem solchen tätlichen Angriff fehlt, weil das strafbare Verhalten z.B. in einer Drohung mit Gewalt, Erpressung oder einer Täuschung besteht ….“
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe: Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette, nämlich schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen, des Vollbeweises; für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen mit der Folge, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m.w.N.). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugungsbildung zu begründen (vgl. BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 V 3/12 R -, m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Maßgaben steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin am 11.12.2008 nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist.
Dabei geht das Gericht davon aus, dass sich das (vermeintliche) Tatgeschehen so zugetragen hat, wie die Klägerin ausweislich des Vernehmungsprotokolls, welches das Gericht im Rahmen des Urkundenbeweises verwerten darf (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./ Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 117 Rdnr. 5, § 128 Rdnr. 8a), es persönlich und zeitnah gegenüber den Beamten der Kriminalpolizeiinspektion B-Stadt im Rahmen ihrer Vernehmung als Zeugin am 16.12.2008 bekundet hat. Der gegenüber den Beamten der Kriminalpolizeiinspektion B-Stadt bekundete Geschehensablauf ist substantiiert und nachvollziehbar. Er wird vor allem auch durch die Bekundungen des Ehemanns der Klägerin in seiner zeugenschaftlichen Vernehmung am 16.12.2008 und die weiteren Ermittlungsergebnisse der Kriminalpolizeiinspektion B-Stadt gestützt. Letztlich hat auch weder die Klägerin persönlich noch der Beklagte den dort geschilderten Geschehensablauf in Abrede gestellt.
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zum Beispiel mit Schriftsatz vom 04.06.2012 zur Begründung der Berufung vorgetragen hat: „Vorliegend ereignete sich objektiv, dass der Täter, welcher langjähriger vertrauensvoller Hausarzt der Klägerin und ihrer Familie war, am 11.12.2008 um 08:00 Uhr die Klägerin aufsuchte und nach dem Eintreten in die Wohnung sofort die Tür verriegelte, sodass eine zufällige Störung vereitelt wurde durch entsprechendes treffen von Vorkehrungen und Schaffen einer psychischen Zwangslage, die der Klägerin das Verlassen unmöglich machte … Entscheidend kommt es darauf an, dass der Täter überhaupt durch das Abschließen der Türe am Eingang signalisierte, dass weder ein Eintreten Dritter in die Wohnung noch ein Verlassen der Klägerin aus der Wohnung im Rahmen seiner unmittelbar anschließenden Tatbegehung gewollt ist“. Der Vortrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin scheint insoweit von dem Bemühen gekennzeichnet zu sein, den maßgeblichen Sachverhalt auf subtile Art und Weise dem jeweiligen Verfahrensstand und den rechtlichen Erfordernissen anzupassen. Jedenfalls lässt sich dieser Eindruck nicht vermeiden, denn der Vortrag steht in offenkundigem Widerspruch zu den eigenen Angaben der Klägerin, ohne hierfür eine Erklärung zu geben. So hat die Klägerin ausweislich der Niederschrift über die nichtöffentliche Sitzung des SG am 30.11.2011 nochmals persönlich bekundet: „Ich berichte jetzt noch wie die Situation begonnen hat: Dr. B. ist gekommen und hat geklingelt. Damit wir seine Sachen ins Haus bringen können, habe ich den Türschnapper auf offen gestellt. Ich habe ihm beim hereintragen geholfen. Er sagte zu mir: „Gehen Sie voran.“ Und weiter: „den Türschnapper können wir so aber nicht lassen. Die Tür machen wir zu.“ Dies hat er dann auch ausgeführt … Wir haben nie einen Schlüssel in der Haustür stecken, deswegen konnte ich die Tür auch nicht versperren.“
Ausgehend von dem von der Klägerin persönlich bekundeten Geschehensablauf hat am 11.12.2008 ihr damaliger Hausarzt sie nicht tätlich im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG angegriffen. Die auf die Klägerin gerichtete Einwirkung beruhte ohne dem Einsatz körperlicher Mittel allein auf einer intellektuell bzw. psychisch vermittelten Täuschung bzw. Beeinträchtigung. Er hat sie während des rund zweistündigen Geschehens lediglich ein einziges Mal kurz an der Schulter berührt. Er hat, so die Klägerin, „über die Schulter einen Strumpf aus Nylonfasern gezogen, der etwa 40 cm lang war und an beiden Enden offen“ und „diesen Strumpf mit Tesabändern an der Schulter befestigt“. Wie die Klägerin im Rahmen ihrer Zeugenaussage am 16.12.2008 aber selbst weiter bekundete, waren die vermeintlichen Aufnahmen „bis dahin eigentlich ja noch okay“. Auch das Gericht vermag hierin keine entsprechend vorzitierter höchstrichterlicher Rechtsprechung den tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG prägende körperliche Gewaltanwendung des früheren Hausarztes der Klägerin zu erkennen, ebenso wenig im weiteren Geschehensablauf. Letztlich hat die Klägerin dies auch mehrfach selbst eingeräumt, zuletzt mit Schriftsatz vom 10.11.2015 in dem sie ausgeführt hat, sie sei aufgrund der massiven psychischen Einwirkung einer physischen Sperre, sich zu wehren oder davon zu laufen, ausgesetzt gewesen; dieser Fall der psychischen Gewaltanwendung mit einer vermeintlichen Wahlfreiheit des Opfers liege häufig vor.
Lediglich der Vollständigkeit halber macht das Gericht im Übrigen von der Regelung des § 153 Abs. 2 SGG Gebrauch und verweist insoweit auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor.