Aktenzeichen M 7 K 15.50717
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29
Leitsatz
1 Der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, muss die Folgen tragen (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiellrechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren iSv § 71a AsylG nicht durchzuführen ist (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juli 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Mit dem Einverständnis der Beteiligten kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet.
Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs AsylVfG) als rechtswidrig und verletzt den Kläger damit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gem. § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Die Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylbegehrens ist mittlerweile gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO entfallen und auf die Beklagte übergegangen. Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO ist am 10. Dezember 2015 abgelaufen. Seit diesem Zeitpunkt war der Asylantrag nicht mehr nach § 27 a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Folglich kommt nach den einschlägigen europarechtlichen Regularien eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34 a AsylVfG ebenfalls nicht mehr in Betracht. Dass Italien sich entgegen dem eigenen Schreiben vom 10. Juni 2015 und entgegen den europarechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme des Klägers bereit ist, ist auf gerichtliche Anfrage nicht mitgeteilt worden. Hiervon kann grundsätzlich auch nicht ausgegangen werden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 4).
Jedenfalls dann kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist ungeachtet dessen berufen (vgl. BayVGH, B. v. 29. April 2015 – 11 ZB 15.50033 – juris Rn. 16; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 30, 37), dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach den Dublin-Verordnungen für ihn zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegentreten kann (vgl. BVerwG, B. v. 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – juris Ls; VGH BW, a. a. O., Rn. 28).
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ferner geklärt, dass die angefochtene Entscheidung gem. § 27 a AsylVfG auch nicht auf der Grundlage von § 71 a AsylVfG aufrechterhalten werden kann. Weder kann sie als negative Entscheidung über einen Zweitantrag angesehen noch in eine solche umgedeutet werden (vgl. BayVGH, a. a. O.; VGH BW, a. a. O., Rn. 35 ff.; OVG Hamburg, B. v. 2. Februar 2015 – 1 Bf 208/14.AZ – juris Rn. 12 ff.). Die Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II- bzw. Dublin III-VO ist der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur inhaltlichen Prüfung des Asylverfahrens zu unterscheiden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15.50005 – juris Rn. 9). Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiell-rechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren im Sinn von § 71 a AsylVfG nicht durchzuführen ist (BayVGH, B. v. 15. April 2014 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 5). Während die Entscheidung der Beklagten auf die Unzulässigkeit im Sinne des § 31 Abs. 6 AsylVfG gerichtet war sowie darauf, die zwingende Rechtsfolge des § 34 a Abs. 1 AsylVfG herbeizuführen, wird mit der Entscheidung zu § 71 a AsylVfG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, d. h. ein Wiederaufgreifen eines nicht mehr angreifbaren Verfahrens abgelehnt, die dann in erster Linie die Rechtsfolge des § 71 a Abs. 4 i. V. m. § 34 bzw. § 36 AsylVfG (in Bezug auf den Herkunftsstaat) auslöst und damit eine völlig andere Qualität hat als eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat) (VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 41). Daran, dass der Verwaltungsakt nicht auf das gleiche oder ein im Wesentlichen gleiches Ziel gerichtet wäre und im Übrigen ungünstigere Rechtsfolgen für den Kläger zeitigen würde, würde auch eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG scheitern (vgl. VGH BW, a. a. O.; BayVGH, B. v. 13. April 2015 – 11 ZB 14.50055 – juris Rn. 15).
Ist die Feststellung nach § 27 a AsylVfG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gem. § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nach Italien.
Der Klage war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gem. § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.