Aktenzeichen 1 XIV 84/15 (B)
Leitsatz
Der Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH BeckRS 2011, 24121 und BGH BeckRS 2012, 14814). Er enthält Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Zurückschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-5 FamFG). (redaktioneller Leitsatz)
Konkrete Fluchtgefahr begründet sich darin, dass der Betroffene bereits einen Asylantrag in der Schweiz gestellt hat und ohne die Beendigung des Verfahrens abzuwarten in die BRD eingereist ist. Dazu hat er zur Identitätstäuschung eine falsche Nationalität angegeben. In die Schweiz möchte der Betroffene nicht zurückkehren. (redaktioneller Leitsatz)
Der Begriff der Erheblichkeit der Fluchtgefahr ist dergestalt zu verstehen, dass es anhand konkreter Tatsachen im hohen Maße wahrscheinlich ist, dass sich der Betroffene auf freiem Fuß belassen dem Überstellungsverfahren entziehen wird. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1.
Gegen d. Betroff. wird Haft zur Sicherung der Zurückschiebung angeordnet, §§ 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 AufenthG.
2.
Die Haft beginnt mit der Festnahme am 24.12.2015 und endet spätestens am 04.02.2016.
3.
Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.
Gründe
I.
D. Betroff. ist tunesischer Staatsangehöriger.
D. Betroff. reiste am 24.12.2015 von Österreich kommend unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein, ohne den für die Einreise erforderlichen Pass oder Passersatz (§§ 3 I, 14 I Nr. 1 AufenthG) oder den erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen (§§ 4 Abs. 1, 14 I Nr. 2 AufenthG). Bei der polizeilichen Kontrolle gab er zunächst an, syrischer Staatsangehöriger zu sein. Bereits im März 2015 war er unerlaubt in die BRD eingereist, zog es dann aber vor, ohne weitere Mitteilung nach Italien zu reisen.
Die beteiligte Ausländerbehörde beantragte am 28.12.2015 gegen d. Betroff. gemäß §§ 57 Abs. 1, 62 III, 60 AufenthG, 420 FamFG Zurückschiebehaft bis zur vollzogenen Rückschiebung, längstens jedoch die Dauer von 6 Wochen ab der Festnahme bis zum 04.02.2016 anzuordnen.
II.
Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde d. Betroff. gemäß § 420 I 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist d. Betroff. vor der Anhörung übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist d. Betroff. überlassen worden. D. Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den d. Betroff. vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Zudem hatte er bereits aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
Bei der mündlichen Anhörung am 05.01.2016 erklärte d. Betroff., dass er nicht nach Tunesien zurück will, sondern hier ein Asylverfahren betreiben will.
Im Übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tag Bezug genommen.
III.
1. Die zuständige Ausländerbehörde hat den Haftantrag zulässig und ausreichend begründet.
Das AG Mühldorf ist unabhängig vom Vorliegen eines Abgabebeschlusses auch zuständig, da es erstmalig in der Hauptsache zu entscheiden hat und der Antrag beim AG Mühldorf, wo sich der Betroffene derzeit in Abschiebehaft befindet, gestellt wurde (OLG Schleswig-Holstein 2 AR16/13).
Der vorliegende Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH vom 15.09.2011, Az V ZB 123/11; vom 10.05.2012, Az V ZB 246/11). Insbesondere werden verlangt – wie hier erfolgt – Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Zurückschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückschiebung und zu der notwendigen Haftdauer, § 417 II 2 Nr. 3-5 FamFG. Das Darlegungserfordernis soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör d. Betroff. durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 II FamFG gewahrt wird, wobei die Darlegungen knapp gehalten sein dürfen, solange sie die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH FGPrax 2011, 317).
Das Gericht erachtet diese Voraussetzungen unter Bezugnahme auf I. für erfüllt.
Ferner hat die Ausländerbehörde insbesondere schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az V ZB 171/12).
Sie trägt hierzu plausibel vor: Für die Rückführung in die Schweiz nach der Dublin III-VO ist 1 Woche für die Bearbeitung bei der Bundespolizei und beim BAMF zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs beim zuständigen Mitgliedsstaat, 2 Wochen Antwortfrist der Schweiz sowie 3 Wochen für die Bescheiderstellung und -übersendung durch das BAMF an den Betroffenen nebst Rechtsmittelfrist sowie Organisation der Rückführung zu veranschlagen.
Die Dauer der Haft wird somit von der Behörde glaubhaft mit den für die Organisation und Durchführung der Zurückschiebung in die Schweiz notwendigen Erfordernissen, mithin mit der voraussichtlichen Dauer des Rücknahmeverfahrens begründet. Die im Antrag angegebenen einzelnen Zeitspannen sind für die organisatorische Realisierung der Zurückschiebung einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend.
Sollte das Rücknahmeverfahren vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Behörde aufgrund des Beschleunigungsgebots gehalten, d. Betroff. unverzüglich abzuschieben, vgl. auch § 62 I 2 AufenthG.
Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft liegt vor, § 72 IV AufenthG.
2. Mit dem unter I. geschilderten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen einer unerlaubten Einreise gemäß § 14 Abs. 1 AufenthG vor. D. Betroff, ist damit auch vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG).
3. Aufgrund der unter Ziffer 2 festgestellten vollziehbaren Ausreisepflicht besteht der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG.
Ferner ist auch der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr i. S. v. Art. 28 II, 2 n) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 i. V. m. § 2 Abs. 15 S. 1 i. V. m. § 2 Abs. 14 AufenthG gegeben.
a) Fluchtgefahr i.d.S. ist das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich der Betroffene dem laufenden Überstellungsverfahren möglicherweise durch Flucht entzieht. Diese Fluchtgefahr hat sich an den in §§ 2 XV 1, XIX und 2 XV 2 AufenthG etablierten Kriterien zu bemessen. Diese Kriterien sind allerdings nur als Anhaltspunkte für das Bestehen von Fluchtgefahr zu verstehen und haben lediglich Indizwirkung. Grundsätzlich bedarf es einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls.
Hier besteht der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Zurückschiebung durch Flucht oder Untertauchen entziehen will.
Die Annahme der Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen d. Betroff. voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass d. Betroff. beabsichtigt unterzutauchen oder die Zurückschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (BGH vom 03.05.2012, Az V ZB 244/11; Renner, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rz. 76).
Konkrete Anhaltspunkte i. S. d. § 2 Abs. 15, Abs. 14 AufenthG liegen in Folgendem begründet:
D. Betroffene hat in der Vergangenheit bereits in der Schweiz einen Asylantrag gestellt und ist – ohne die Beendigung dieses Verfahrens abzuwarten – in die Bundesrepublik eingereist; hierzu hat zur Identitätstäuschung eine falsche Nationalität vorgegeben, § 2 IV Nr. 2 AufenthG.
Ferner will der Betroffene die Schweiz als den zuständigen Mitgliedsstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will. So hat der Betroffene in der polizeilichen Vernehmung zu verstehen gegeben, dass er keinesfalls dorthin zurück will, § 2 Abs. 15 S. 1 i. V. m. Abs. 14 Nr. 5 AufenthG.
Es kann von daher dahinstehen, ob auch die Haftgründe des § 2 XV S. 2, XIV Nr. 1 AufenthG gegeben sind.
D. Betroffene verfügt im Übrigen weder über einen festen Wohnsitz noch sonstige soziale Bindungen im Bundesgebiet. Er verfügt darüber hinaus nicht über ausreichende finanzielle Mittel, die es ihm ermöglichen würden, das Bundesgebiet auf legale Weise zu verlassen.
b) Die Fluchtgefahr ist auch als erheblich zu qualifizieren.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Erheblichkeit als Begriff des Europarechts autonom auszulegen ist (amtliche Begründung, BT-Drucksache 18/4097, S. 32). Im Rahmen der Auslegung ist der Erwägungsgrund 20 der Dublin III-VO zu berücksichtigen, wonach die Inhaftierung lediglich als letztes Mittel – weniger einschneidende Maßnahmen sind nicht wirksam anwendbar – nach durchgeführter Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuordnen ist.
Aufgrund der Gesamtumstände erachtet das Gericht diese Erheblichkeit für gegeben. Der Betroffene hat durch seine wiederholte Einreise, belegt durch seine eigene Aussage, zu verstehen gegeben, dass er die Schweiz keinesfalls freiwillig als zuständigen Mitgliedsstaat akzeptiert. Ohne seine Inhaftierung erscheint die Rückführung dorthin nicht realisierbar.
Im Übrigen wird ergänzend auf die Gründe des Antrages Bezug genommen.
4. Gründe, die ein Absehen von der Sicherungshaft gem. § 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht.
Im Übrigen liegen Zurückschiebungshindernisse nicht vor. Ob die Zurückschiebung in die Schweiz zu Recht erfolgt, ist nicht vom Haftrichter, sondern von den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten zu entscheiden (BGH vom 25.02.2010, Az V ZB 172/09); der Haftrichter ist letztlich nicht befugt, über das Vorliegen von Ab-/Zurückschiebungshindernissen – mit wenigen Ausnahmen, die eine Sachverhaltsermittlung des Haftrichters erfordern (vgl. hierzu BGH a. a. O.) – zu entscheiden.
Umstände, die einer Durchführung der Zurückschiebung innerhalb der nächsten 3 Monaten aus Gründen, die d. Betroff. nicht zu vertreten hat, bzw. innerhalb von 6 Monaten, entgegenstehen, sind nicht erkennbar (§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 4, IV 1 AufenthG).
5. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen im Sinne von § 62 Abs. 1 AufenthG ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist – angesichts der unter Ziffer 3 dargelegten Gegebenheiten – die Hinterlegung von Ausweispapieren bzw. eine Meldeauflage bzw. die Auflage, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, vorliegend nicht ausreichend.
Das Verfahren beruht auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421 FamFG.
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG.