Aktenzeichen RN 6 K 19.1510
Leitsatz
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Durch den Bescheid vom 15. Juli 2019 in der Form des Nachtragsbescheids vom 15. Januar 2020 liegt keine Rechtsverletzung der Klägerin vor, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 59 f. Bayerische Bauordnung (BayBO) ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Einem Nachbarn des Bauherrn steht ein Anspruch auf Versagung der Baugenehmigung grundsätzlich nicht zu. Er kann eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg anfechten, wenn Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn das Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf das Grundstück des Nachbarn fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94 – juris; BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris; BVerwG, U.v. 13.6.1980 – IV C 31.77 – juris). Es ist daher unerheblich, ob die Baugenehmigung einer vollständigen Rechtmäßigkeitsprüfung standhält.
Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Bauplanungs- und Bauordnungsrechts ist nicht gegeben.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung wurde – zu Recht – im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO erteilt, da ihr kein Sonderbau nach Art. 2 Abs. 4 Nr. 1 – 20 BayBO zu Grunde liegt. Ein Nachbar kann eine Baugenehmigung nur insoweit angreifen als die als verletzt gerügte Norm zum Prüfprogramm zählt und daher von der Feststellungswirkung der Baugenehmigung umfasst wird. Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 Satz 1 BayBO die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB (Nr. 1 Buchst. a), mit den Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO (Nr. 1 Buchst. b) und mit den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinn des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Nr. 1 Buchst. c), beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Nr. 2) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3). Die Abstandsflächen waren mithin zu prüfen (vgl. zur Einhaltung der Abstandsflächen unter Ziff. 4). Auch der Brandschutzplan (Bl. 34 ff. der Behördenakte) ist – über das Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens hinaus, Art. 59 Satz 2 i.V.m. Art. 62 BayBO – Bestandteil der Genehmigung, ebenso die Pflicht zum Nachweis der Einhaltung der Anforderungen an die Standsicherheit, den Brand-, Schall-, Wärme- und Erschütterungsschutz (bautechnische Nachweise; Ziff. 1 unter „Hinweise Bauordnungsrecht“). Es ist diesbezüglich – auch unter Berücksichtigung der erteilten Abweichungen hinsichtlich des Brandschutzes an der vom Grundstück der Klägerin abgewandten östlichen Gebäudeseite bzw. in Bezug auf innere Brandwände – weder ersichtlich noch substantiiert dargelegt, inwiefern zulasten der Klägerin von etwaigen Vorschriften abgewichen worden wäre.
1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Baugrundstück im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplanes „…“ liegt und aus den dem Gericht zur Verfügung stehenden Unterlagen nichts dafür ersichtlich ist, dass dieser (ursprüngliche) Bebauungsplan unwirksam sein könnte.
Es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, die Gültigkeit bzw. Nichtigkeit eines Bebauungsplans festzustellen, da dies im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO Aufgabe des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist. Das Verwaltungsgericht kann jedoch nicht verpflichtet sein, einen erkennbar unwirksamen Bebauungsplan anzuwenden und damit eine erkennbar unrichtige Entscheidung zu treffen. Das Verwaltungsgericht prüft daher inzident die Wirksamkeit des Bebauungsplans, wobei es nicht ungefragt in eine Fehlersuche eintritt (vgl. BVerwG, B.v. 12.9.1989 – 4 B 149/89 – juris).
Das Deckblatt Nr. 100/A ist unwirksam, da dessen Bekanntmachung vor der Ausfertigung stattfand, Art. 26 Abs. 2 Satz 1 Gemeindeordnung – GO (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.1999 – 4 B 129/98 – juris; BayVGH, B.v. 23.9.2010 – 14 CS 10.1780 – juris). Das Deckblatt wurde entsprechend dem Titelblatt am 11. Juli 2008 ausgefertigt und bereits am 10. Juli 2008 bekanntgemacht.
Ob auch das Deckblatt Nr. 100/C – wie von Klägerseite vorgebracht – unwirksam ist, kann dahinstehen, da das Bauvorhaben jedenfalls nicht von nachbarschützenden Festsetzungen abweicht.
Eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen des Bebauungsplans ist nur bei Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung regelmäßig anzunehmen (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13 – juris). Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche oder zum Maß der baulichen Nutzung haben hingegen grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (vgl. BayVGH, B.v. 8.11.2016 – 1 CS 16.1864 – juris). Festsetzungen können mit Ausnahme zur Art der baulichen Nutzung dementsprechend nur dann Drittschutz vermitteln, wenn sie nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion ausnahmsweise haben sollen. Eine solche drittschützende Zielrichtung muss sich grundsätzlich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Bebauungsplan, seiner Begründung oder sonstigen Unterlagen der planenden Gemeinde ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2015 – 1 CS 15.2207 – juris).
Gemessen daran verletzen weder die Befreiungen wegen Überschreitung der Baugrenzen durch die an der Südfassade im ersten und zweiten Obergeschoss geplanten Balkone noch – sollte es auf den ursprünglichen Bebauungsplan ankommen – die Nichteinhaltung sonstiger Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (detailliert aufgelistet in der Antragserwiderung im Verfahren RN 6 S 19.2344, S. 6) Rechte der Klägerin, da die genannten Festsetzungen jeweils nicht nachbarschützend sind. Dafür, dass der Plangeber die Planbetroffenen mit den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden wollte, ist nichts ersichtlich. Zwar ist dies nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch möglich, wenn der Plangeber die nachbarschützende Wirkung nicht bereits im Zeitpunkt der Planaufstellung in seinen Willen aufgenommen hatte (U.v. 9.8.2018 – 4 C 7/17 – juris). Das zitierte Urteil bezieht sich auf den sehr speziellen Fall, in dem das erstinstanzliche Gericht annahm, dass die Maßfestsetzungen von wesentlicher Bedeutung für den vom Plangeber konzipierten Charakter der Sondergebietsfläche für den Wassersport seien. Maßfestsetzungen können demnach – vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, dass die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann – auch den Gebietscharakter beeinflussen. Das Bundesverwaltungsgericht hält diese Würdigung im vorinstanzlichen Urteil jedoch sogar in diesem speziellen Fall für zweifelhaft. Dafür, dass die im hier streitgegenständlichen Fall ausschlaggebenden Festsetzungen nachbarschützend sind, ist weder auf Grund einer Analyse des Bebauungsplans noch sonst etwas ersichtlich. Im Übrigen führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 24. Juli 2020 (15 CS 20.1332, Rn. 26) aus, dass einiges dafür spreche, die Möglichkeit einer nachträglichen subjektiv-rechtlichen Aufladung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung auf Bebauungspläne zu begrenzen, die aus einer Zeit vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes (BBauG) und der erst im Jahr 1960 beginnenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Nachbarschutz stammten.
2. Die Klägerin wird durch die streitgegenständliche Baugenehmigung nicht in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzt.
Eigentümer von Grundstücken, die in einem Baugebiet liegen, haben unabhängig von konkreten Beeinträchtigungen das Recht, sich gegen Vorhaben zur Wehr zu setzen, die in dem Gebiet hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässig sind (vgl. BVerwG, B.v. 18.12.2007 – 4 B 55.07 – juris m.w.N.). Ein von der Klägerin geltend gemachter Gebietserhaltungsanspruch in Bezug auf das Maß der baulichen Nutzung existiert hingegen nicht. Da der von konkreten Beeinträchtigungen unabhängige Gebietserhaltungsanspruch auf der durch eine Baugebietsfestsetzung bewirkten Wechselwirkung beruht, kann er einem Eigentümer, dessen Grundstück sich außerhalb des jeweiligen Baugebiets befindet, grundsätzlich nicht zustehen (vgl. BayVGH, U.v. 25.3.2013 – 14 B 12.169 – juris). Das Grundstück der Klägerin befindet sich nicht im Geltungsbereich des Bebauungsplans „…“. Selbst wenn das Vorhaben in dem Gebiet nicht zulässig sein sollte, kann die Klägerin dies nach den obigen Darlegungen nicht geltend machen. Im Übrigen ist das Vorhaben der Art nach in dem festgesetzten allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig, § 4 Abs. 2 Nr. 1 Baunutzungsverordnung – BauNVO.
Im Übrigen wäre das Vorhaben selbst dann zulässig, wenn man – dem Vorbringen der Klägerin folgend – davon ausginge, dass der ursprüngliche Bebauungsplan bei (unterstellter) Unwirksamkeit des Deckblatts Nr. 100/C nicht anzuwenden wäre. Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der BauNVO bezeichnet sind, so liegt ein sogenanntes faktisches Baugebiet vor. Die Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich dann gemäß § 34 Abs. 2 BauGB nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. Ein Nachbar, dessen Grundstück in demselben (faktischen) Baugebiet nach der BauNVO liegt, hat gegenüber allen anderen im selben Baugebiet genehmigten Nutzungen einen Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart, der über das Rücksichtnahmegebot hinausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 23.10.2003 – 2 ZB 03.1673 – juris). Es kann dahinstehen, ob der Bereich der Grundstücke der Klägerin und der Beigeladenen einem faktischen reinen Wohngebiet (§ 3 BauNVO), allgemeinen Wohngebiet (§ 4 BauNVO) oder Mischgebiet (§ 6 BauNVO) entspricht, da das streitgegenständliche Wohngebäude in jedem Fall hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung allgemein zulässig ist, § 3 Abs. 2 Nr. 1, § 4 Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO.
3. Eine Verletzung des in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankerten (bzw. sich aus dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO ergebenden) drittschützenden bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes ist ebenso nicht ersichtlich.
Ein Vorhaben ist danach unzulässig, wenn von ihm Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn es solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt wird. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt nach der Rechtsprechung wesentlich von den jeweiligen Umständen ab (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris). Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, welcher das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf die Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2010 – 2 CS 10.2137 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die der Klägerin aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihr als Nachbarin billigerweise noch zumutbar ist. Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich.
a. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben auf das Grundstück der Klägerin in unzumutbarer Weise eine erdrückende, einmauernde oder abriegelnde Wirkung ausüben könnte.
Das wäre der Fall, wenn durch die Verwirklichung eines nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Die Rechtsprechung hat dies in der Vergangenheit nur in absoluten Ausnahmefällen bejaht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris: zwölfgeschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zu zweigeschossigem Nachbarwohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris: 11,5 m hohe und 13 m lange Siloanlage in einem Abstand von 6 m zu einem zweigeschossigen Wohnhaus). In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt ist, wenn die den nachbarlichen Belangen ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung dienenden landesrechtlichen Vorschriften zum Abstandsflächenrecht eingehalten sind (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – juris; BayVGH, B.v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris; B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris), was der Fall ist (vgl. unter Ziff. 4). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben das Grundstück der Klägerin trotz Einhaltung der Regelungen des Abstandsflächenrechts erdrücken oder einengen könnte. Das Gericht übersieht dabei nicht, dass sich durch das Bauvorhaben die Wohnsituation für die Klägerin in gewisser Weise verändert; das Interesse eines Grundstückseigentümers an der Erhaltung einer gegebenen Situation ist aber grundsätzlich nicht schutzwürdig (vgl. BVerwG, B.v. 2.8.2007 – 4 BN 29/07 – juris).
b. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes ergibt sich vorliegend auch nicht aus Beeinträchtigungen der Verkehrssituation.
Die mit einer Bebauung verbundenen Beeinträchtigungen und Unannehmlichkeiten durch den dadurch verursachten An- und Abfahrtsverkehr sind im Regelfall hinzunehmen. Das gilt auch dann, wenn sich die verkehrliche Situation gegenüber dem bisherigen Zustand merklich verschlechtert. Die Grenze zur Rücksichtslosigkeit ist erst dann überschritten, wenn die Beeinträchtigungen und Störungen aufgrund besonderer örtlicher Verhältnisse das zumutbare Maß überschreiten und sich in der Umgebung des Baugrundstücks deshalb als unzumutbar darstellen. Das kann in Einzelfällen – unabhängig von konkreten Lärmwerten und Lärmmessungen – auch dann der Fall sein, wenn es aufgrund der örtlichen Verhältnisse zu chaotischen Verkehrsverhältnissen im unmittelbaren Umgriff des Nachbargrundstücks kommen wird (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 20.12.2013 – 1 ME 214/13 – juris zum An- und Abfahrtverkehr einer Kindertagesstätte in einer beengten Sackgasse; BayVGH, B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris). Solche chaotischen Verhältnisse sind unter Zugrundelegung einer Gesamtschau der gegebenen örtlichen Verhältnisse nicht zu erwarten. Es ist insbesondere nicht zu erwarten, dass die Stellplätze nicht ausreichen und auf der Straße geparkt werden muss. Die klägerseits vorgebrachte Nennung einer gewerblichen Nutzfläche in den Antragsunterlagen ändert an dieser Einschätzung nichts, da eine gewerbliche Nutzung jedenfalls nicht genehmigt wurde.
c. Auch unzumutbare Lärmimmissionen gehen von dem Vorhaben nicht aus.
Es ist insbesondere nicht notwendig, aufgrund des Lärms des Zu- und Abgangsverkehrs, der durch das Vorhaben zusätzlich zu dem schon vorhandenen Verkehrsaufkommen entsteht, Maßnahmen organisatorischer Art zu treffen, Ziff. 7.4 TA Lärm. Die darin genannten drei Kriterien, die kumulativ gegeben sein müssen, liegen hier nicht vor. Eine Erhöhung des Beurteilungspegels um 3 dB(A) – das erste der Kriterien – setzt voraus, dass sich die Verkehrsbelastung in etwa verdoppelt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2010 – 1 LA 274/09 – juris; VG München, U.v. 26.9.2012 – M 9 K 11.2647 – juris), was das Gericht für nicht wahrscheinlich hält. Zudem erfolgt vorliegend eine Vermischung des An- und Abfahrtverkehrs mit dem übrigen Verkehr (Kriterium 2). Auch eine erstmalige oder weitergehende Überschreitung der geltenden Immissionsgrenzwerte der 16. BImSchV (Kriterium 3) sieht das Gericht als nicht gegeben an. Darüber hinaus sollen nach Ziff. 7.4 TA Lärm vorrangig Maßnahmen organisatorischer Art ergriffen werden.
4. Das Vorhaben hält die Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück ein.
Nach den mit Genehmigungsvermerk versehenen Plänen hält die dem klägerischen Grundstück zugewandte Westfassade des Bauvorhabens bei einer Wandhöhe von 8,91 m (Wandhöhe des Gebäudes selbst) bzw. 8,28 m (Höhe der obersten Balkonüberdachung) bzw. 7,85 m (Höhe der Balkonabtrennungen; jeweils gemessen ab dem festgelegten geplanten Geländeverlauf auf Höhe +0,10 „Bezugspunkt Straße“) zum Grundstück der Klägerin einen Abstand von mindestens 10,5 m (gemessen ab der westlichen Außenwand des Gebäudes) bzw. 8,5 m (gemessen ab dem äußeren Ende der Balkone) ein. Damit wird der nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erforderliche Mindestabstand von 1 H eingehalten (Art. 6 Abs. 4 BayBO).
Maßgeblich für die erforderliche Tiefe der Abstandsflächen ist im vorliegenden Fall – selbst wenn das Deckblatt Nr. 100/C unwirksam sein sollte – das aus den genehmigten Eingabeplänen ersichtliche festgelegte (neue) Geländeniveau (+0,10 „Bezugspunkt Straße“), das höher liegt als das Urgelände. Die Beklagte hat in rechtmäßiger Art und Weise die für die Abstandsflächenberechnung maßgebliche Geländeoberfläche festgelegt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Bauaufsichtsbehörde auf Grundlage des Art. 54 Abs. 2 Satz 2 BayBO die maßgebliche Geländeoberfläche – jedenfalls durch Text oder Revision in den Bauzeichnungen – festlegen kann (nach alter Rechtslage gemäß Art. 6 Abs. 3 Satz 2 BayBO 1998, vgl. dazu BayVGH, B.v. 27.12.2006 – 25 CS 06.3222 – juris; BayVGH, B.v. 3.1.2001 – 26 ZS 00.2620 – juris), wobei alle Umstände des konkreten Einzelfalls, nämlich u.a. der frühere natürliche Geländeverlauf sowie nachbarliche Belange, zu berücksichtigen sind. Es muss insbesondere auch berücksichtigt werden, dass die Festlegung wegen ihrer Auswirkungen auf die für die Abstandsfläche relevante Wandhöhe des Bauvorhabens ohne hinreichende Beachtung nachbarlicher Interessen Rechte des Nachbarn verletzen kann (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 31.10.2008 – 14 CS 08.1970 – juris; BayVGH, B.v. 30.5.2016 – 15 ZB 16.630 – juris; Simon/Busse/Dhom/Franz/Rauscher, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 6 Rn. 171 ff. – beck-online; Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 54 Rn. 35 – beck-online).
Die Beklagte bringt in der Genehmigung – in den zeichnerischen wie auch in den textlichen Festsetzungen sowohl des Ursprungs- als auch des Nachtragsbescheids – klar und eindeutig zum Ausdruck, dass die neue und nicht die natürliche Geländeoberfläche maßgeblich sein soll. Die Festsetzung ist auch in dem Sinne sachlich gerechtfertigt, dass sich die festgelegte Geländeoberfläche als ein unter Berücksichtigung der tatsächlich vorhandenen Geländeverhältnisse plausibler Ausgleich zwischen den Interessen der Bauherrin und der Nachbarn darstellt. Es fand eine hinreichende Abwägung der Interessen statt. In der Begründung des Nachtragsbescheids wird ausführlich dargelegt, dass das Urgelände sich zumindest im Bereich des Mehrfamilienhauses gegenüber den Straßen und Nachbargrundstücken als Mulde bzw. Senke darstelle. Unter Berücksichtigung des Urgeländes auf dem Baugrundstück liege eine atypische Geländesituation vor. Eine Änderung der Höhenlage der Straßen sei nicht möglich. Bei Errichtung eines Bauvorhabens sei die Höhenlage dieser Straßen daher zu berücksichtigen. Eine Berechnung der Abstandsflächen ab dem Urgelände würde zu einer erheblichen Einschränkung der baulichen Nutzbarkeit des Grundstücks führen und das Urgelände befände sich zumindest im Bereich des geplanten Mehrfamilienhauses erheblich unterhalb der für die Berechnung der Abstandsflächen maßgebenden Geländehöhen. Eine Festlegung der Geländeoberflächen habe daher nach pflichtgemäßem Ermessen erfolgen können. Neben der Höhenlage der Straßen im Bereich des Baugrundstücks sei auch die Höhenlage der benachbarten Grundstücke sowie der Straßen im Bereich der benachbarten Grundstücke berücksichtigt worden. Die zur Bestimmung des Geländeverlaufs festgelegten Höhen seien einer objektiven Überprüfung zugänglich. Die sich durch die atypische Geländesituation ergebende „zusätzliche Wandhöhe“ habe im Hinblick auf die Schutzgüter des Abstandsflächenrechts keine Auswirkungen.
Diese für das Gericht plausible Argumentation verdeutlicht, dass der Festlegung keine Interessen der Klägerin entgegenstehen. Die Festlegung ist gerechtfertigt, da auf dem Baugrundstück bisher eine Mulde vorlag und durch die Anhebung des Geländeniveaus lediglich eine Anpassung an die Geländehöhe der umliegenden Grundstücke – auch des Grundstücks der Klägerin – erfolgt. Es handelt sich dabei somit um eine zulässige Einebnung im Sinne einer Korrektur einer unnatürlich wirkenden Geländeoberfläche (vgl. Dr. Robert Fischer, Die Geländeoberfläche im Abstandsflächenrecht der BayBO, BayVBl. Heft 20/2019, S. 694 f.; Simon/Busse/Kraus, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 6 Rn. 173 – beck-online). Sachgerecht ist dabei insbesondere die Orientierung an der Höhenlage der Verkehrsfläche bzw. der Nachbargrundstücke (vgl. BayVGH, B.v. 3.1.2001 – 26 ZS 00.2620 – juris in Bezug auf Art. 6 Abs. 3 Satz 2 BayBO 1998). Des Weiteren ist in der Baugenehmigung geregelt, dass die Grundfläche sowie die Höhenlage des Gebäudes vor Baubeginn festgelegt und durch die Bauaufsichtsbehörde abgenommen werden müssen, Art. 68 Abs. 6 BayBO (Ziff. 2 unter „Bauordnungsrecht“; Simon/Busse/Kraus, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 6 Rn. 171 – beck-online). Es sind nach alledem keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Aufschüttung allein zur Verkürzung der Abstandsflächen erfolgen soll (vgl. Simon/Busse/Kraus, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 6 Rn. 174 – beck-online). Dass eine ausdrückliche textliche Festsetzung sowie eine ausführliche Begründung und Abwägung der Interessen erst im Nachtragsbescheid – den die Beklagte für den Fall erließ, dass das Deckblatt Nr. 100/C unwirksam sein sollte – enthalten sind, schadet nicht. Es steht der Baubehörde frei, Änderungs- oder Tekturbescheide hinsichtlich noch nicht (vollständig) ausgeführter genehmigter Vorhaben zu erlassen (Simon/Busse/Lechner, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 68 Rn. 111 ff. – beck-online), wobei aus nachbarrechtlicher Sicht dahinstehen kann, worum es sich bei dem in die Klage miteinbezogenen als Nachtragsbescheid bezeichneten Bescheid konkret handelt. Es wird nochmals darauf hingewiesen, dass bereits in der Ursprungsgenehmigung – wenn auch unter Zugrundelegung einer wirksamen Festsetzung der maßgeblichen Geländehöhe in Ziff. 1.4 des Deckblatts Nr. 100/C – von der nun auch im Bescheid textlich festgelegten maßgeblichen Geländehöhe ausgegangen worden ist. Dass die Beklagte für den Fall der Unwirksamkeit des Deckblatts Nr. 100/C den Nachtragsbescheid erließ, lag in ihrem Ermessen.
Aus der erteilten Abweichung, die die Überlappung der Abstandsflächen an der vom klägerischen Grundstück abgewandten Ostfassade auf dem Baugrundstück selbst betrifft, kann die Klägerin keine Rechtsverletzung ableiten, ebenso wenig aus der Inanspruchnahme des 16 m-Privilegs, die die in voller Höhe (1 H) eingehaltenen Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin nicht betrifft.
5. Die Baugenehmigung genügt entgegen dem Vorbringen der Klägerin dem Bestimmtheitsgebot.
Gemäß Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Die getroffene Regelung muss zumindest durch Auslegung für jeden Beteiligten eindeutig sein (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris; VG München, U.v. 26.2.2018 – 8 K 16.1293 – beck-online). Maßgeblich für den Rechtsschutz des Nachbarn ist dabei, dass er feststellen kann, ob und in welchem Umfang er betroffen ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2017 – 9 CS 17.603 – juris; VG München, U.v. 26.2.2018 – 8 K 16.1293 – beck-online). Ein Nachbar kann die Unbestimmtheit einer Baugenehmigung nur geltend machen, soweit dadurch eine Einhaltung der dem Nachbarschutz dienenden Vorschriften nicht gewährleistet ist (Simon/Busse/Lechner, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 68 Rn. 472 – beck-online). Für das Gericht sind keinerlei Anhaltspunkte für eine Unbestimmtheit der Genehmigung ersichtlich. Insbesondere führt der Nachtragsbescheid, in dem die maßgebliche Geländehöhe (auch) textlich festgelegt wird, nicht zu einem anderen Ergebnis (vgl. dazu bereits unter Ziff. 4). Dass der Nachtragsbescheid „für den Fall“ der Unwirksamkeit des Deckblatts Nr. 100/C erlassen wurde, stellt mithin auch nicht etwa eine aufschiebende Bedingung dar, sondern lediglich eine zulässige zusätzliche Absicherung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung.
Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung in bauplanungs- oder bauordnungsrechtlicher Hinsicht drittschützende Normen verletzt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, sind nicht ersichtlich.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, da sie keinen Antrag gestellt und sich somit keinem eigenen Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).