Verwaltungsrecht

Antrag auf Unterlassung der Abschiebung des personensorgeberechtigten marokkanischen Vaters seitens der minderjährigen Tochter

Aktenzeichen  B 6 E 19.83

Datum:
29.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 55587
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 6
VwGO § 42 Abs. 2, § 123

 

Leitsatz

Zur Zumutbarkeit der Trennungszeit für ein Kleinkind trotz Sperrfrist aufgrund der Abschiebung und Zeitaufwand für Visumsverfahren. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 1.250 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin, geb. am …, ist die uneheliche deutsche Tochter des marokkanischen Staatsangehörigen M. O. und der deutschen Staatsangehörigen … Am 21.08.2018 erließ der Antragsgegner gegen Herrn M.O. eine Ausreiseaufforderung und eine Abschiebungsandrohung und befristet die Sperrfrist einer Abschiebung auf 3 Jahre und 6 Monate. Dagegen geht der Ausländer mit einer am 20.09.2018 erhobenen Klage vor (B 6 K 18.988).
Nach Ende ihrer Beziehung haben die Eltern der Antragstellerin am 10.09.2018 erklärt, die elterliche Sorge weiterhin gemeinsam ausüben zu wollen. Herr M.O, der sich seit 11.01.2019 in Abschiebehaft in Dresden befindet, hat am 25.01.2019 beim Antragsgegner die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG und die Erteilung einer Duldung beantragen lassen. Mit Beschluss vom 29.01.2019 lehnte das Verwaltungsgericht Bayreuth einen Antrag von Herrn M.O. ab, seine Abschiebung vorläufig auszusetzen (B 6 E 19.28).
Am 31.01.2019 soll der Ausländer in sein Heimatland abgeschoben werden.
Mit Schriftsatz vom 28.01.2019, der auf elektronischem Wege um 23.51 Uhr übermittelt wurde, hat der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Bayreuth gemäß § 123 VwGO beantragt,
dem Antragsgegner zu gebieten, die Abschiebung des Herr M.O. bis zur zur bestandskräftigen Entscheidung über die Erteilung der Duldung nicht durchzuführen.
Zur Begründung führt er aus, die Antragstellerin sei in eigenen Rechten aus Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 5 GG, Art. 7 EU – Grundrechtecharta und Art. 8 EMRK betroffen. Die Abschiebung würde den bis vor kurzem gepflegten persönlichen Kontakt im Rahmen der zwischen der Antragstellerin und ihrem Vater bestehenden Beziehung künftig verhindern. Aufgrund der bei einem Kleinkind schon innerhalb weniger Monate entstehenden Entfremdung würde durch die mit einer Abschiebung verbundene Trennung das Kindeswohl gefährdet und das seelische Gleichgewicht des Kindes zerstört.
Zum Nachweis der Vater-Tochter-Beziehung legt er eine eidesstattliche Versicherung der Mutter der Antragstellerin vom 28.01.2019 vor. Sie erklärte, Herr M.O sei bis etwa zum 7. Lebensmonat der Antragstellerin ständig im persönlichen Kontakt mit seiner Tochter gestanden. Nach dem Ende der Beziehung der Eltern habe er seine Tochter mehrfach persönlich besucht und regelmäßig Kontakt gehalten. Sie unterstütze die Wahrnehmung des Umgangsrechts ausdrücklich.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Antragsschrift samt den beigefügten Anlagen und den am heutigen Tag ergangenen Beschluss im Verfahren B 6 E 19.28, insbesondere die dortige Sachverhaltsdarstellung, verwiesen.
II.
1. Der Antrag wird abgelehnt.
a) Der Antrag ist zulässig. Insbesondere hat die Antragstellerin als Familienangehörige des Ausländers, der abgeschoben werden soll, das Recht gegen die unmittelbar bevorstehende Aufenthaltsbeendigung vorzugehen.
Die Antragstellerin ist befugt, einen Antrag gemäß § 123 VwGO zu stellen, weil Art. 6 GG deutschen Familienangehörigen das Recht gibt, gegen ausländerrechtliche Entscheidungen vorzugehen, die, wie hier die geplante Abschiebung ihres ausländischen Vaters, zur Beendigung des Umgangs mit dem Ausländer führen und damit das Ehe- und Familienleben beeinträchtigen (VGH Mannheim, U. v. 17.07.2015 – 11 S 164/15 – InfAuslR 2015, 433 /436).
b) Der Antrag ist aber unbegründet.
aa) Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin hat zwar glaubhaft gemacht, dass ein Anordnungsgrund gegeben ist, weil die Abschiebung des Vaters der Antragstellerin unmittelbar bevorsteht, so dass es ihr nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines noch zu erhebenden Klageverfahrens abzuwarten.
bb) Sie hat aber nicht den erforderlichen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, weil sich aus den von ihr vorgebrachten Gründen nicht mit der für die Glaubhaftmachung erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit ergibt, dass ihr der geltend gemachte grundrechtliche Anspruch auf Unterlassung der Abschiebung ihres Vaters zusteht.
Ein Unterlassungsanspruch der Antragstellerin, der auf Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht beruhte, setzte voraus, dass sie in ihrem eigenen Recht auf Umgang mit ihrem Vater auch dann verletzt wäre, wenn Herr M.O nach Marokko abgeschoben und damit für eine gewisse Zeit, jedoch nicht von vornherein für immer, von ihr getrennt würde, weil er mit einem Visum zum Familiennachzug gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen, wieder einreisen kann.
Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum soll gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Dabei dürfen auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann (BVerwG, U. v. 11.01.2011 – 1 C 23/09 – BVerwGE 138, 353/370 = NVwZ 2011, 871/876 jew. Rn.34). Es ist auch mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einher gehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in das Bundesgebiet begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, die keinen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zu berechtigterweise in Deutschland lebenden Familienangehörigen vermitteln, verpflichten die Ausländerbehörden jedoch, bei ihren Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und sie entsprechend ihrem Gewicht in den behördlichen Erwägungen zur Geltung zu bringen (BVerfG, B. v. 10.05.2008 – 2 BvR 588/08 – Inf AuslR 2008, 347/347). Für die Frage, wie lange einem (auch anderweitig betreuten) Kind die Abwesenheit eines Elternteils zugemutet werden kann, kommt es unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG insbesondere darauf an, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen ein derartiger Auslandsaufenthalt des Antragstellers für das kleine Kind hätte, insbesondere ob es durch die verfahrensbedingte Abwesenheit des Antragstellers emotional unzumutbar belastet würde (BVerwG, U. v. 30.07.2013 – 1 C 15/12 – BVerwGE 147, 278/ 288 = ZAR 2014, 75/76, jew. Rn. 26). Auszugehen ist dabei nicht vom Fall einer Abschiebung, sondern von einer selbst organisierten freiwilligen Ausreise. Denn die mit der Beschaffung eines Visums verbundenen Kosten, Mühen und Zeitverluste sind nur dann unzumutbar, wenn sie dem Ausländer nicht selbst angelastet werden können und sein Verschulden nur gering war. Die Dauer des mit einer Abschiebung verbundenen Wiedereinreiseverbots ist daher für die Frage nicht relevant, ob dem Ausländer die Nachholung des Visumverfahrens zuzumuten ist (OVG Hamburg, B. v. 02.03.2018 – 1 Bs 264/17 – juris Rn. 20).
Ausgehend von diesen Grundsätzen setzen sich die öffentlichen Interessen, insbesondere das öffentliche Interesse an einer Beachtung des Visumverfahrens, gegenüber den Interessen der im Bundesgebiet lebenden Antragstellerin durch. Denn die Nachholung des Visumverfahrens ist voraussichtlich nicht mit einer unangemessen langen Trennung vom Vater verbunden.
Maßstab ist dabei eine freiwillige Ausreise des Vaters zur Durchführung eines Visumverfahrens. Insgesamt beträgt laut dem Internetauftritt der Deutschen Botschaft in Rabat (www.rabat.diplo.de) die Wartezeit für einen Termin, um einen Antrag auf ein Visum zur Familienzusammenführung zu stellen, ca. neun Monate, der sich eine Bearbeitungszeit von etwa drei Monate anschließt. Zu einer zügigen Durchführung des Verfahrens kann der Nachzugswillige im Übrigen auch selbst beitragen, indem er die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erforderlichen Unterlagen rechtzeitig beschafft und ggf. einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch nimmt.
Nicht zu berücksichtigen ist, dass der Vater es auf eine Abschiebung hat ankommen lassen – obwohl ihn seine Prozessbevollmächtigten auf der Grundlage des Schreibens des Gerichts vom 01.10.2018 gewarnt haben -, die eine Sperrfrist gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG von drei Jahren und sechs Monaten nach sich zieht und nach Bestandskraft der Befristung erst gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ggf. zu verkürzen ist.
Die Trennung von einem Jahr ist der minderjährigen Antragstellerin zumutbar. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 GG formalrechtliche familiäre Bindungen nicht ausreichen, sondern im Einzelfall eine tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern vorliegen muss (BVerfG, B. v. 10.05.2008 – 2 BVR 588/08 – InfAuslR 2008, 347/347). Dabei ist zu unterscheiden zwischen gelegentlichen Umgangskontakten und dem darüberhinausgehenden Treffen von Entscheidungen und der aktiven Mitsorge für das Kind als Ausdruck der Personensorge. Die Antragstellerin hat jedoch nicht im Einzelnen vorgetragen und belegt, dass sie nicht nur Umgangskontakte hatte, sondern dass zwischen ihr, die in … wohnt, und ihrem Vater, der inzwischen in einer anderen Beziehung im 3 ½ Auto- bzw. 5 Zugstunden entfernten … lebt, eine enge Bindung besteht. Zweifel daran ergeben sich für das Gericht insbesondere schon daraus, dass im Verfahren B 6 K 18.988 zwar Kontakte bis Ende September 2018, nicht jedoch in der Zeit darüber hinaus, im Einzelnen aufgelistet wurden. Weiterhin hat der Vater der Antragstellerin im Klageverfahren einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt und dabei angegeben, er lebe von den Leistungen des Jobcenters, die seine Verlobte und ihre Kinder aus einer früheren Beziehung beziehen. Damit bleibt offen, wie ihr Vater die Reisen zur Antragstellerin finanziert. Schließlich wurden im Klageverfahren zwar zahlreiche Fotografien vorgelegt, die Herrn M.O und die Antragstellerin im trauten Zusammensein zeigen. Nähere Angaben darüber, wie lange die Besuchskontakte dauerten, ob die Mutter der Antragstellerin ständig anwesend war etc., fehlen jedoch. Außerdem wurde nicht vorgetragen, wie die Antragstellerin reagiert hat, wenn ihr Vater sich wieder für einige Zeit von ihr verabschiedet hat und wie sie es aufgenommen hat, als er wieder zu Besuch erschienen ist. Nachdem die Antragstellerin zuletzt keineswegs die tägliche Anwesenheit des Vaters als Normalfall erlebt hat, und deshalb nicht an die tägliche, sondern an die nur sporadische, unregelmäßige und vorübergehende Anwesenheit des Vaters gewöhnt ist, kommt einer längeren Abwesenheit prognostisch ersichtlich nicht das gleiche Gewicht wie bei einem alltäglichen Zusammenleben mit dem betreffenden Elternteil zu. Schließlich liegen auch keine Stellungnahmen fachkundiger Stellen, etwa des Jugendamtes des Kreises Herzogtum …, über die Vater-Tochterbeziehung vor.
2. Als unterliegender Teil trägt die Antragstellerin gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG, Ziffern. 1.5, 8.3 Streitwertkatalog 2013 (hälftiger Auffangstreitwert, der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nochmals halbiert wird).

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