Aktenzeichen AN 5 E 21.01645
Leitsatz
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 6.250,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sinngemäß die Verpflichtung des Antragsgegners, sie vorläufig nicht abzuschieben.
Bei den Antragstellern handelt es sich um russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten erstmals am … mit ihren Eltern …, geb. am …, und …, geb. am …, in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 21. Juni 2013 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Die Antragsteller zu 1) und 2), … und …, sind am …, der Antragsteller zu 3) und die Antragstellerin zu 4), … und …, sind am … und die Antragstellerin zu 5), …, ist am 1* … geboren.
Mit Bescheid vom 6. Februar 2014 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Nach hiergegen erfolglos eingelegtem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz reisten die Antragsteller am … freiwillig in die Russische Föderation aus. Die gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage wurde mit Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 6. Mai 2014 (Az.: AN 10 K 14.30321) abgewiesen.
Nach Wiedereinreise am … stellten die Antragsteller mit ihren Eltern am 23. September 2015 einen Asylfolgeantrag. Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 24. Januar 2017 den Asylfolgeantrag ab, die Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz wurden nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Gleichzeitig wurden die Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu überlassen. Im Falle der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung insbesondere in die Russische Föderation angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Februar 2021 (Az.: AN 11 K 17.30403) abgewiesen.
Die Antragsteller ließen durch ihren Bevollmächtigten am 11. Mai 2021 die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25a Abs. 1 AufenthG, hilfsweise Duldungen beantragen. Wegen der gesundheitlichen Leiden der Mutter der Antragsteller sowie der notwendigen fachärztlichen Behandlung der Antragsteller zu 1), 3) und 4) seien dringende humanitäre und persönliche Gründe für den weiteren Aufenthalt der Familie in Deutschland gegeben.
Mit Schreiben vom 15. Juni 2021 hörte der Antragsgegner die Antragssteller zur beabsichtigten Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an. Daraufhin legten die Antragsteller durch ihren Bevollmächtigten Schulzeugnisse und Schulbescheinigungen sowie ärztliche Atteste betreffend die Mutter der Antragsteller sowie die Antragsteller zu 1), 3) und 4) vor.
Mit Bescheid vom 6. August 2021 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Antragsteller ab. Gleichzeitig wurde die Erteilung von Duldungen abgelehnt.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass schon die Passpflicht nicht erfüllt sei, auch wenn die Antragsteller nachweislich erste Schritte zur Beantragung eines Reisedokumentes eingeleitet hätten. Im Übrigen lägen auch die speziellen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG nicht vor. Weder die Antragsteller noch ihre Eltern seien im Besitz einer Duldung. Zudem falle die Antragstellerin zu 5) schon nicht in den Anwendungsbereich der Vorschrift, da sie das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Hinsichtlich der Antragsteller zu 1) bis 4) sei eine ausreichende Integration in die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nachgewiesen. Die Vorlage der Zeugnisse genüge insoweit jedenfalls nicht. Insbesondere aus dem Zeugnis des Antragstellers zu 2) ergebe sich für diesen keine positive Integrationsprognose im Sinne des § 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG. Im Zwischenzeugnis des Schuljahres 2018/19 der 9. Jahrgangsstufe werde ausgeführt, dass der Antragsteller zu 2) nur mangelnde Deutschkenntnisse habe und geringe Bereitschaft zeige, die Sprache zu erlernen. Auch falle es ihm schwer, sich in die Schulgemeinschaft zu integrieren. Aus den vorgelegten Zeugnissen seines Zwillingsbruders ergebe sich für diesen auch keine positive Integrationsprognose. Die Antragsteller zu 1) und 2) hätten schließlich die Probezeit an der staatlichen Berufsfachschule für Ernährung und Versorgung im aktuellen Schuljahr nicht bestanden. Der Antragsteller zu 3) habe nach Mitteilung der Mittelschule … im abgelaufenen Schuljahr die Prüfung zum Erwerb des qualifizierten Abschlusses nicht bestanden. Darüber hinaus sei dem Antragsgegner bekannt geworden, dass für die letzten Wochen des Unterrichts ein Betretungsverbot seitens der Schule ausgesprochen worden sei. Die Antragstellerin zu 4) sei laut der vorgelegten Zeugnisse in den Jahrgangsstufen 7 und 8 lernzieldifferenziert unterrichtet worden, eine Einstufung der gezeigten Leistungen über die übliche 6-stufige Notenskalierung habe somit nicht stattgefunden. Bei keinem der Antragsteller sei daher von einer positiven Integrationsprognose im Sinne des § 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auszugehen. Auch die mangelhaften Deutschkenntnisse sprächen gegen eine gelungene Integration. Alleine aus der ärztlichen Behandlung der Mutter der Antragsteller im Bundesgebiet ergebe sich kein Duldungsgrund für sämtliche Familienmitglieder. Zudem seien die Bescheinigungen nicht qualifiziert im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG. Das ärztliche Attest vom 5. Februar 2021 betreffend die Mutter der Antragsteller enthalte eine Beschreibung der gezeigten Symptome und die pauschale Aussage, dass eine Rückführung der Familie nach Tschetschenien „katastrophale Auswirkungen“ haben werde, ohne dies zu konkretisieren. Bei den Aufnahmebestätigungen bzw. den Schreiben des Bezirksklinikums … fehlten die tatsächlichen Umstände der fachlichen Beurteilungen sowie die Methode der Tatsachenerhebung. Zudem gehe aus den Schreiben nicht hervor, inwiefern die vorgebrachten gesundheitlichen Leiden eine Reiseunfähigkeit im engeren und weiteren Sinne begründen könnten. Aus den fehlenden Reisedokumenten ergäbe sich keine Unmöglichkeit der Abschiebung, da es ein Rückführungsabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Russischen Föderation gebe und die Antragsteller bereits als russische Staatsbürger identifiziert worden seien.
Mit Schriftsatz vom 3. September 2021 haben die Antragsteller durch ihren Bevollmächtigten Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Antragsgegners vom 6. August 2021 aufzuheben und den Antragsgegner zu verpflichten, die begehrten Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen, hilfsweise den Antragsgegner zu verpflichten, die beantragten Duldungen zu erteilen.
Gleichzeitig haben die Antragsteller im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO beantragt,
den Antragsgegner zu verpflichten, dass vor Entscheidung in der Hauptsache keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Anordnungsgrund gegeben sei, da der Antragsgegner keine Duldungen erteile. Auch läge ein Anordnungsanspruch vor. Die Antragsteller seien materiellrechtlich geduldet, eine ausreichende Integration sei durch die Zeugnisse nachgewiesen. Die schulischen Leistungen spiegelten die erschwerten Bedingungen der Antragsteller, nicht deren mangelnde Integration wider.
Mit Schriftsatz vom 15. September 2021 übersandte der Antragstellerbevollmächtigte einen Arztbericht des Universitätsklinikums … vom 2. August 2021 (betreffend die Mutter der Antragsteller), eine Schreiben des Bezirksklinikums … vom 6. September 2021, in der die stationäre Behandlung der Mutter der Antragsteller seit dem 31. August 2021 bestätigt wird, sowie einen Notaufnahmebericht des … Klinikums … vom 9. September 2021 (betreffend den Vater der Antragsteller).
Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2021 übersandte der Antragstellerbevollmächtigte zudem Schreiben der Bezirkskliniken … vom 7. September 2021, in denen bei dem Antragsteller zu 1) eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F 32.1), bei dem Antragsteller zu 2) eine posttraumatische Belastungsstörung (ICS-10: F 43.1), bei dem Antragsteller zu 3) eine posttraumatische Belastungsstörung (ICS-10: F 43.1) und bei der Antragstellerin zu 4) eine Anpassungsstörung, kurze depressive Reaktion (ICD-10: F 43.20), generalisierte Angststörung des Kindsalters (ICD-10: F.93.80) diagnostiziert werden. Vorgelegt wurden außerdem Schreiben des Staatlichen beruflichen Schulzentrums …, in denen der Schulbesuch der Antragssteller zu 1) und 2) seit dem 15. September 2021 für die Ausbildungsrichtung Ernährung und Versorgung und der Schulbesuch des Antragstellers zu 3) und der Antragstellerin zu 4) in einer Klasse für das Berufsvorbereitungsjahr seit dem 15. September 2021 bestätigt wird. Betreffend die Antragstellerin zu 5) wurde eine Bestätigung über die Schulzugehörigkeit der Mittelschule … vom 17. September 2021 zu den Akten gereicht.
Mit Schriftsatz vom 13. Oktober 2021 hat der Antragsgegner beantragt, die Klage abzuweisen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Die Antragsteller hätten keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG. Die Passpflicht sei noch immer nicht erfüllt, zumal noch nicht einmal die Beantragung eines Reisepasses von den Antragstellern nachgewiesen sei, sondern lediglich die Beauftragung eines Konsulatservices mit der Vornahme entsprechender Schritte. Zudem seien die Antragsteller deshalb nicht zu dulden, insbesondere nachdem die russischen Behörden bereits eine Rückübernahmezusage übermittelt hätten. Auch aus gesundheitlichen Gründen seien die Antragsteller nicht zu dulden. Es seien insoweit schon keine qualifizierten ärztlichen Bescheinigungen vorgelegt worden, aus denen sich eine Reiseunfähigkeit ergebe. Das Attest vom 5. Februar 2021 betreffend die Mutter der Antragsteller sei insofern nicht aussagekräftig und enthalte hinsichtlich der Folgen einer Rückführung lediglich Mutmaßungen bezüglich „katastrophalen Auswirkungen“. Auch der ärztliche Bericht vom 2. August 2021, ebenfalls betreffend die Kindsmutter, enthalte weder Angaben zur Befunderhebung noch zur Methodik und den zu erwartenden gesundheitlichen Folgen der möglichen Abschiebung. Die medizinische Versorgung der Antragsteller und deren Eltern im Heimatland sei jedenfalls im Asylverfahren eingehend geprüft und bejaht worden. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote seien rechtskräftig abgelehnt worden. Auch der stationäre Aufenthalt der Mutter der Antragsteller im Bezirksklinikum Ansbach begründe keinen Duldungsgrund hinsichtlich sämtlicher Familienmitglieder. Eine kurzfristige Trennung der Familie sei insoweit möglich und zulässig. Im Übrigen sei auch die Integration der Antragsteller im Sinne des § 25a Abs. 1 AufenthG im Hinblick auf die gezeigten schulischen Leistungen der Antragsteller zu 1) bis 5) nicht nachgewiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Behördensowie auf die Gerichtsakte verwiesen.
II.
Der sinngemäße Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der dem Antragsgegner untersagt wird, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen den Antragsteller zu vollziehen, ist zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des beste-henden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den Anordnungsanspruch, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Zwar ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf die den Antragstellern ausgehändigten Grenzübertrittsbescheinigungen von einem Anordnungsgrund auszugehen. Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderliche Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wurde jedoch nicht glaubhaft gemacht. Danach ist die Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
Die Antragsteller sind zwar gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da sie den gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzen. Die Ausreisepflicht ist vorliegend aufgrund der Abschiebungsandrohung im bestandskräftigen Bescheid des Bundesamtes vom 24. Januar 2017 gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch vollziehbar.
Tatsächliche oder rechtliche Gründe, die die Abschiebung unmöglich machen würden, wurden jedoch nicht substantiiert dargelegt und sind auch nicht ersichtlich.
Entgegen dem Vortrag des Antragstellerbevollmächtigten ergibt sich eine tatsächliche Unmöglichkeit insbesondere nicht aus der (aktuellen) Passlosigkeit der Antragsteller, denn von einer solchen ist nur dann auszugehen, wenn nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde eine Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nicht möglich oder ein Abschiebungsversuch gescheitert ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 CE 17.2453, juris Rn. 23; Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 60a Rn. 32; Kluth/Breidenbach in BeckOK AuslR, § 60a Rn. 10), bzw. dann, wenn der Ausländer auf unabsehbare Zeit keinen Pass besitzt, eine Abschiebung mit einem Reisedokument nicht möglich ist und ebenso wenig eine Rückführung ohne gültige Dokumente in Betracht kommt (vgl. Masuch/Gordzielik in Huber, AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 60a Rn. 14). Im vorliegenden Fall können nach dem Vortrag des Antragsgegners aber kurzfristig Heimreisepapiere beschafft werden, nachdem die Antragsteller und deren Eltern bereits von den russischen Behörden als russische Staatsangehörige identifiziert wurden.
Auch ergibt sich vorliegend aufgrund des Gesundheitszustandes der Antragsteller kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit. Ein rechtliches Abschiebungshindernis ist dann anzunehmen, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, sodass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist. Erforderlich ist dabei, dass infolge der Abschiebung als solcher (unabhängig vom konkreten Zielstaat) eine wesentliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes für den betroffenen Ausländer konkret droht (vgl. BayVGH, B.v. 27.3.2020 – 19 CE 1750 – juris Rn. 15, BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 19 CE 17.1541 – juris Rn. 15). Eine bestehende Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein solches in zwei Fällen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Nach diesen Maßgaben ist ein Abschiebehindernis nicht glaubhaft gemacht. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegt eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die ein inlandbezogenes Abschiebungsverbot begründen würde, schon nicht vor. Der Antragstellerbevollmächtigte legte zwar zuletzt Schreiben der Bezirkskliniken Mittelfranken vom 7. September 2021 vor, in denen im Rahmen von Klärungsterminen bzw. Diagnostik und Behandlung in der Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters bei dem Antragsteller zu 1) eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F 32.1), bei dem Antragsteller zu 2) eine posttraumatische Belastungsstörung (ICS-10: F 43.1), bei dem Antragsteller zu 3) eine posttraumatische Belastungsstörung (ICS-10: F 43.1) und bei der Antragstellerin zu 4) eine Anpassungsstörung, kurze depressive Reaktion (ICD-10: F 43.20), generalisierte Angststörung des Kindsalters (ICD-10: F.93.80) diagnostiziert wurden. Für die im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Fragen, inwieweit durch oder während des Reisens eine akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragsteller eintreten würde, enthalten diese Unterlagen aber keine verwertbaren Gesichtspunkte. Außerdem lassen sich den Diagnosen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes unmittelbar durch die Abschiebung (unabhängig vom Zielstaat) eintreten könnte. Auch das Attest von Dr. … vom 5. Februar 2021 betreffend die Mutter der Antragsteller ist nicht qualifiziert im Sinne des § 60a Abs. 2 c AufenthG. Es wird in diesem auf eine ambulante psychotherapeutische Behandlung der Mutter der Antragsteller durch einen Therapeuten in … verwiesen und etwaige Folgen eines Abbruchs dieser Therapie aufgezeigt. Eine Rückführung nach Tschetschenien würde für die gesamte Familie „katastrophale Auswirkungen“ haben. Soweit insofern auf eine Weiterbehandlungsmöglichkeit – auch der Antragsteller – im Zielstaat abgestellt wird, ist die Ausländerbehörde bei ehemaligen Asylbewerbern wie den Antragstellern jedoch nicht zu einer eigenen inhaltlichen Prüfung berechtigt. Vielmehr ist sie gemäß § 42 Satz 1 AsylG an die Feststellung des Bundesamts zum (Nicht) Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gebunden (BVerwG, U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 15 ff.).
Ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot hinsichtlich der Antragsteller zu 1) bis 5) ergibt sich auch nicht aufgrund der Erkrankung ihrer Mutter und deren stationärer Versorgung im Bezirkskrankenhaus … seit dem 31. August 2021. Auch ohne die zeitgleiche Abschiebung der Mutter ist die Abschiebung der Antragsteller nicht rechtlich unmöglich, sondern mit verfassungsrechtlich durch Art. 6 GG sowie durch Art. 8 EMRK gewährleisteten Schutz der Familie vereinbar. Die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten (vgl. BVerfG, B.v.23.1.2006 – BvR 1935/05 – juris Rn. 16).
Der Schutz der Familie, in den durch die Abschiebung einzelner Familienmitglieder eingegriffen wird, kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes Vollstreckungshindernis (§ 60a Abs. 2 GG) begründen. Wie gewichtig der aus Art. 6 GG folgende Schutz der Familie jeweils ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere vom Alter der Kinder, von der Intensität der familiären Beziehungen oder auch der Betreuungsbedürftigkeit einzelner Familienmitglieder. Dementsprechend gebietet Art. 6 GG nicht in jedem Fall die gemeinsame Abschiebung sämtlicher Familienmitglieder. Vielmehr kann die getrennte Abschiebung von Familienmitgliedern je nach den Umständen des Einzelfalles rechtlich zulässig sein (vgl. OVG NRW, B.v.22.2.1994 – 18 B 1127/93 – juris, HessVGH, B.v.30.4.2001 – 3 TZ 757/01.a – juris Rn. 5; SächsOVG, B.v. 26.11.2018 – 3 B 381/18 – juris Rn. 9). Anhaltspunkte, dass die Abschiebung der Antragsteller im Hinblick auf Art. 6 GG im vorliegenden Fall unzulässig sein sollte, sind weder glaubhaft gemacht noch ersichtlich, dies insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Antragsteller zu 1) und 2) bereits volljährig und die noch minderjährigen Antragsteller zu 3), 4) und 5) auch bereits 16 Jahre und 13 Jahre alt und damit keine Kleinkinder mehr sind. Zudem ist davon auszugehen, dass eine etwaige Aufenthaltsbeendigung der Antragsteller gemeinsam mit deren Vater erfolgt. Auch ist von einer nur vorübergehenden Trennung der Antragsteller von ihrer Mutter für einen überschaubaren Zeitraum auszugehen, weil auch die vollziehbar ausreisepflichtige Mutter in absehbarer Zeit in das gemeinsame Heimatland zurückkehren und dort die Familieneinheit wiederhergestellt werden wird.
Die Antragsteller haben vorliegend auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG, der im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu sichern wäre. Schon nach der gesetzgeberischen Konzeption muss der Ausländer außerhalb des Anwendungsbereichs des § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG Ansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom Ausland aus verfolgen (vgl. BayVGH, B.v. 7.6.2019 – 19 CE 18.1597 – juris Rn. 14). Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG löst keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG aus. Es widerspräche daher der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die Dauer eines Erteilungsverfahrens eine Duldung vorzusehen (vgl. OVG NRW, B.v. 2.5.2006 – 18 B 437/06 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24).
Zwar kann sich im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ein Anspruch auf Verfahrensduldung ergeben, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 30). Ein solcher, aus Art. 19 Abs. 4 GG erwachsender Duldungsanspruch setzt aber voraus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung tatsächlich vorliegen und durch eine etwaige Abschiebung rechtsvernichtend in diese Position eingegriffen würde. Eine solche Situation ist insbesondere bei Ansprüchen nach § 25a AufenthG und § 25b AufenthG denkbar. Voraussetzung einer Verfahrensduldung ist aber, dass sämtliche Voraussetzungen für die Erteilung eines entsprechenden Aufenthaltstitels im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung über die Verfahrensduldung vorliegen. Hingegen genügt es nicht, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG lediglich beantragt hat, aber die sonstigen Voraussetzungen des Anspruchs noch nicht erfüllt sind (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 30).
Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit 4 Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält (Nr. 1), im Bundesgebiet in der Regel seit 4 Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss beworben hat (Nr. 2), der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Nr. 3), es gewährleistet erscheint, dass er sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (Nr. 4) und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt (Nr. 5). Darüber hinaus müssen grundsätzlich die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG erfüllt sein (vgl. Bergmann/Dienelt/Röcker, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG, Rn. 8). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ist – wie bei allen Verpflichtungsklagen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (Bergmann/Dienelt/Röcker, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG, Rn. 9; für § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 17 /12 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v.18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 19). In diesem Zeitpunkt muss – neben den sonstigen besonderen und allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen – entweder eine rechtswirksame Duldung oder ein Rechtsanspruch auf Duldung bestehen (vgl. zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 24).
Die Antragsteller zu 1) bis 5) haben vorliegend keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25a Abs. 1 AufenthG glaubhaft gemacht, da bereits die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen.
Die am 13. Februar 2008 geborene Antragstellerin zu 5) ist – anders als die Antragsteller zu 1) bis 4) – schon keine Jugendliche im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Jugendlicher ist man nach § 1 Abs. 2 JGG mit 14 Jahren; Heranwachsender ist nach § 1 Abs. 2 JGG wer 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist (vgl. Bergmann/Dienelt/Röcker, 13. Aufl. 2020, § 25a AufenthG, Rn. 10). Die Antragstellerin zu 5) hat jedoch das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet, so dass schon der Anwendungsbereich der Vorschrift für diese nicht eröffnet ist.
Einem Anspruch sämtlicher Antragsteller steht zudem entgegen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keine Duldungssituation vorliegt und die Antragsteller nicht im Besitz einer Duldungsbescheinigung, sondern einer Grenzübertrittsbescheinigung sind, weshalb sie die Voraussetzung des „geduldeten Ausländers“ i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht erfüllen. Die Grenzübertrittsbescheinigung ist aber im Gegensatz zur Duldung keine aufenthaltsrechtliche Entscheidung, sondern lediglich ein Instrument zur Überwachung der Erfüllung der Ausreisepflicht (näher dazu OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 13.4.2007 – 2 M 44/07 – juris Rn. 9 m.w.N.). Auch materielle Duldungsgründe im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Antragsteller und ihrer Mutter liegen nicht vor (s.o.).
Zudem steht einem Anspruch der Antragsteller zu 1) bis 5) die Nichterfüllung der besonderen Erteilungsvoraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entgegen, wonach der Ausländer sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten haben muss. Die Antragsteller sind jedenfalls mit Bestandskraft des Bescheides des Bundesamtes vom 24. Januar 2017 seit Februar 2021 vollziehbar ausreisepflichtig und halten sich seither nicht mehr erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet auf. Auf das Vorliegen der weiteren besonderen und allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen – insbesondere der gelungenen Integration der Antragsteller im Sinne des § 25a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG – kommt es insofern nicht mehr entscheidungserheblich an.
Nach alldem ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.