Baurecht

Asylbewerberunterkunft im Gewerbegebiet

Aktenzeichen  9 ZB 17.1350

Datum:
2.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1725
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 246 Abs. 10

 

Leitsatz

Auch die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften in Gewerbegebieten müssen sich nach dem Sinn und Zweck des § 246 Abs. 10 S. 1 BauGB mit der Immissionsbelastung abfinden, die generell im Gewerbegebiet zulässig ist. Insoweit wird ihnen, wie der sonstigen betroffenen Nachbarschaft, ein Mehr an Beeinträchtigungen zugemutet (vgl. VGH München, BeckRS 2018, 2372 Rn. 58). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 9 K 16.105 2017-05-03 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klägerin wendet sich als Eigentümerin des Grundstücks FlNr. … Gemarkung E … gegen die der Beigeladenen mit Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 2015 erteilte Baugenehmigung zur „Nutzungsänderung von Bürogebäude zu Gemeinschaftsunterkunft für Leistungsberechtigte nach Asylbewerberleistungsgesetz mit 144 Betten und Errichtung einer Außentreppe“ auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung E … (Vorhabengrundstück). Mit der Baugenehmigung wurde unter anderem eine Befreiung gemäß § 246 Abs. 10 BauGB wegen der Unterbringung einer wohnähnlichen Nutzung in einem Gewerbegebiet erteilt.
Das Grundstück der Klägerin grenzt mit seiner südwestlichen Ecke an das Grundstück FlNr. … Gemarkung E … an, das nördlich des Vorhabengrundstücks liegt. Alle Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. 3561 der Beklagten, der für diesen Bereich als Art der Nutzung ein Gewerbegebiet festsetzt.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 3. Mai 2017 abgewiesen. Hiergegen richtet sich der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1 – 3 VwGO liegen nicht vor.
1. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich im Ergebnis solche Zweifel nicht.
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzung des § 246 Abs. 10 BauGB, dass die Abweichung auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den in Betracht kommenden bodenrechtlichen öffentlichen Interessen vereinbar sein muss, die Eigenart des auf dem Grundstück der Klägerin befindlichen chemischen Betriebs umfassend berücksichtigt. Es hat dabei insbesondere auch geprüft, ob dieser Betrieb zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung als Störfallbetrieb im Sinne der Seveso-III-Richtlinie zu qualifizieren war. Dass das Bauvorhaben entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zu Lasten dieses Störfallbetriebs neue oder andere störfallrechtliche Auflagen auszulösen vermag, wird im Zulassungsvorbringen nicht dargelegt. Auch die Bewohner von Flüchtlingsunterkünften in Gewerbegebieten müssen sich nach dem Sinn und Zweck des § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB mit der Immissionsbelastung abfinden, die generell im Gewerbegebiet zulässig ist. Insoweit wird ihnen, wie der sonstigen betroffenen Nachbarschaft, ein Mehr an Beeinträchtigungen zugemutet (vgl. BayVGH, U.v. 14.02.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 58 m.w.N.). Für Sicherheitsvorkehrungen gegen ein unbefugtes Betreten des Grundstücks der Klägerin ist diese selbst verantwortlich. Ein diesbezügliches individuelles Fehlverhalten von Dritten ist im Übrigen städtebaulich nicht relevant; ihm ist mit den Mitteln des Polizei- und Ordnungsrechts zu begegnen (vgl. BayVGH, U.v. 14.02.2018 a.a.O. Rn. 63 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht ist auch zurecht davon ausgegangen, dass das von der Klägerin geltend gemachte Interesse an einer Betriebserweiterung im Rahmen der Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB berücksichtigungsfähig ist (vgl. BayVGH, U.v. 14.02.2018 a.a.O. Rn. 48). Es hat aber die vorgetragenen Planungsabsichten der Firma A … zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung am 18. Dezember 2015 als zu vage für die Bejahung eines schützenswerten Erweiterungsinteresses dieser Firma angesehen, weil insoweit noch völlig unklar sei, ob und inwieweit sie überhaupt realisiert werden könnten. Dem wird im Zulassungsvorbringen nicht substantiiert entgegengetreten. Soweit dort zu den Erweiterungsabsichten auf den Schriftsatz der Beklagten im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vom 19. April 2017 verwiesen wird, lässt sich diesem lediglich entnehmen, dass der Antrag der Firma A … vom 18. Januar 2016, neu eingereicht am 30. Januar 2017, auf Änderung der Anlagentechnik nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Eigenschaft als Störfallbetrieb steht.
Soweit die Klägerin auf Gespräche und Verhandlungen mit der Beklagten im Vorfeld des Antrags vom 18. Januar 2016 verweist, mag bereits zweifelhaft sein, ob allein daraus auf eine hinreichend konkrete Erweiterungsabsicht geschlossen werden kann. Jedenfalls kann angesichts des besonderen Gewichts, das der Gesetzgeber mit der Regelung des § 246 Abs. 10 BauGB dem öffentlichen Interesse an der Schaffung von Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber beigemessen hat, nicht davon ausgegangen werden, dass einem solchen – eingeschränkten – nachbarlichen Interesse gegenüber dem hohen öffentlichen Interesse der Vorrang bei der Erteilung einer Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB zukommen kann, zumal diese neu geschaffene, zeitlich befristete Ermächtigungsgrundlage gerade auf die weitgehende Erteilung von Befreiungen abzielt (vgl. BayVGH, U.v. 14.02.2018 – 9 BV 16.1694 – juris Rn. 68 m.w.N.). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist damit die Entscheidung über die Befreiung auch ermessensgerecht erfolgt. Die – wenn auch knappe – Begründung des angefochtenen Bescheids lässt noch hinreichend die Gesichtspunkte erkennen, von denen die Beklagte bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG).
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Die im Zulassungsvorbringen aufgeworfenen Fragen zur Auslegung und Anwendung des § 246 Abs. 10 BauGB lassen sich, wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, gerade auch unter Berücksichtigung des Urteils des Senats vom 14. Februar 2018 (9 BV 16.1694), das im Berufungsverfahren gegen das im Zulassungsvorbringen benannte Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 29. Juni 2016 (AN 9 K 15.1348) ergangen ist, ohne weiteres und mit zweifelsfreiem Ergebnis im Zulassungsverfahren klären.
3. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Soweit im Zulassungsantrag allgemein vorgetragen wird, es gehe vorliegend um Fragen der Auslegung und Anwendung der geänderten Norm des § 246 Abs. 10 BauGB, für die eine höchst richterliche Klärung noch ausstünden, fehlt es bereits an der Formulierung einer konkreten und entscheidungserheblichen Frage. Ob § 31 Abs. 2 BauGB neben § 246 Abs. 10 BauGB zur Anwendung kommt, ist hier nicht entscheidungserheblich. Denn die Frage einer Sperrwirkung des § 246 Abs. 10 BauGB gegenüber § 31 Abs. 2 BauGB könnte sich nur bei einem Nichtvorliegen der tatbestandlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 246 Abs. 10 stellen, was hier aber nach obigen Ausführungen nicht der Fall ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene im Zulassungsverfahren einen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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