Aktenzeichen 17 W (pat) 15/11
Verfahrensgang
vorgehend BPatG München, 23. Oktober 2014, Az: 17 W (pat) 15/11, Beschlussvorgehend BGH, 30. Juni 2015, Az: X ZB 1/15, Beschluss
Tenor
In der Beschwerdesache
betreffend die Patentanmeldung 10 2007 002 672.4-53
…
hat der 17. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts am 30. November 2015 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Dipl.-Phys. Dr. Morawek, der Richterin Eder sowie der Richter Dipl.-Ing. Baumgardt und Dipl.-Phys. Dr. Forkel
beschlossen:
Der Beschluss der Prüfungsstelle für Klasse G 06 F des Deutschen Patent- und Markenamts vom 8. Februar 2011 wird aufgehoben und die Sache zur weiteren Prüfung und Entscheidung an das Deutsche Patent- und Markenamt zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Die vorliegende Patentanmeldung mit der Bezeichnung
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„Verfahren zur Zustandsermittlung eines Körpers“
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ist am 18. Januar 2007 beim Deutschen Patent- und Markenamt eingereicht worden.
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Sie wurde von der Prüfungsstelle für Klasse G06F des Deutschen Patent- und Markenamtes im Beschluss vom 8. Februar 2011 mit der Begründung zurückgewiesen, dass die jeweiligen Gegenstände des Patentanspruchs 1 des (damaligen) Haupt- und Hilfsantrags unter das Patentierungsverbot des § 1 PatG fielen, da die einzelnen Schritte der jeweils beanspruchten Verfahren einen Algorithmus und somit eine mathematische Methode als solche darstellten.
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Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Anmelderin hatte der erkennende Senat mit der Begründung zurückgewiesen, dass die jeweiligen Verfahren des geltenden Patentanspruchs 1 in den Fassungen nach Haupt- und Hilfsantrag vom 21. Oktober 2014 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhten, da deren Unterschiedsmerkmale gegenüber dem Stand der Technik zu einer technischen Problemlösung nicht beitrügen und daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen seien. Diese beruhten allenfalls auf Überlegungen aus der Datenmodellierung, der Statistik und der Geometrie und setzten deshalb keine auf technischen Überlegungen beruhenden Erkenntnisse voraus.
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Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof dem Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag mit all seinen Merkmalen sowohl die Technizität als auch die Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln zugebilligt und die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses an das Bundespatentgericht zurückverwiesen (BGH X ZB 1/15- „Flugzeugzustand“, GRUR 2015, 983).
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Die Anmelderin verfolgt ihr Patentbegehren weiter und stellt sinngemäß den Antrag,
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den angegriffenen Beschluss aufzuheben und das nachgesuchte Patent mit folgenden Unterlagen zu erteilen:
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gemäß Hauptantrag mit
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Patentansprüchen 1-6 vom 21.10.2014,
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noch anzupassender Beschreibung Seiten 1, 4 vom 27.11.2007, eingegangen am 29.11.2007,
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Seite 3 vom 27.07.2009, eingegangen am 29.07.2009,
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Seiten 2, 5-7 und
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3 Blatt Zeichnungen mit Figuren 1-5b, jeweils vom Anmeldetag;
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gemäß Hilfsantrag mit
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Patentansprüchen 1-3 vom 21.10.2014,
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im Übrigen wie Hauptantrag.
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In Anbetracht der Tatsache, dass sich durch den Beschluss des BGH die Ausgangslage für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit im Vergleich zu der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2014 vor dem 17. Senat des BPatG geändert habe, regt sie an, die Anmeldung an das Deutsche Patent- und Markenamt zur erneuten Prüfung auf Patentfähigkeit zurück zu verweisen, für den Fall dass der 17. Senat Bedenken gegen eine Patenterteilung in Erwägung ziehen sollte.
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Im Prüfungsverfahren vor dem Deutschen Patent- und Markenamt und im Beschwerdeverfahren vor dem BPatG sind die Druckschriften
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D1: MUSICKI, D.; MORELANDE, M. R.: Gate Volume Estimation for Target Tracking. In: Proceedings of the Seventh International Conference on Information Fusion, FUSION 2004 [online]. Mountain View, USA; International Society of Information Fusion, 2004 [recherchiert am 25.07.2007], S. 455-462.
21
ISBN: 91-7056-115-X. Im Internet:
22
URL:http://www.fusion2004.foi.se/papers/IF04-0455.pdf,
23
D2: US 2004/0012522 A1
24
sowie
25
D3: YOUNG, W. A.: Comparison of Collision Detection Algorithms, 2004 [online]. CS 741, Spring 2004 [recherchiert am 09.09.2014]. Im Internet:
https://web.archive.org/web/*/http://www.tonyyoung.ca:80/cs741paper.pdf
>
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angeführt worden.
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Der geltende Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag, hier mit einer möglichen Gliederung versehen, lautet (nach Korrektur eines offensichtlichen Schreibfehlers):
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(a) Verfahren zur Ermittlung eines Flugzeugzustandes, nämlich der Position, Geschwindigkeit und Lage des Flugzeugs, umfassend die Schritte:
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(b) Bestimmung einer Anzahl n von Messwerten mit einer Trägheitsanlage, welche den Flugzeugzustand bestimmt, wobei die Messwerte Punkte im -dimensionalen Raum darstellen,
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(c) Verarbeiten der Messwerte in einem Kalman-Filter zur Schätzung des Flugzeugzustandes,
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dadurch gekennzeichnet, dass
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(d) für jede Anzahl von Messwerten der Trägheitsanlage eine erste Größe und eine zweite Größe berechnet wird werden und
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(e) diese berechneten Größen dem Kalman-Filter zur Weiterverarbeitung zugeführt werden, wobei
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(f) die Größe der Mittelpunktsvektor und die Größe der Radius einer -dimensionalen Kugel sind, innerhalb welcher alle Punkte mit liegen;
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(g) wobei die Kugel eine möglichst kleine -dimensionale Kugel ist, welche ausnahmslos alle Punkte mit der Anzahl von Messwerten enthält.
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Der nebengeordnete Patentanspruch 5 betrifft sinngemäß ein System zur Ermittlung eines Flugzeugzustandes, das nach diesem Verfahren arbeitet. Die Unteransprüche 2 bis 4 sind auf den Patentanspruch 1, Unteranspruch 6 ist auf den Patentanspruch 5 rückbezogen.
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In Hinblick auf den Hilfsantrag wird auf die Akte verwiesen.
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Die Anmelderin trägt vor, dass durch die Aufbereitung der Messwerte gemäß Hauptantrag nicht nur ein einzelner Punkt bestimmt werden solle, sondern die Aufbereitung solle dazu führen, die Mehrzahl von Messwerten durch zwei für das Kalman-Filter geeignete Parameter zu beschreiben. Bildhaft gesprochen handle es sich dabei um einen ganzen Raumbereich in Gestalt einer Kugel. Dass eine Kugel nicht nur durch ihren Mittelpunkt, sondern zusätzlich durch ihren Radius festgelegt werde, zeige schon deutlich, dass es sich bei dem Gegenstand des Hauptantrags um etwas anderes als eine einfache Mittelung handle.
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Den im Verfahren zitierten Druckschriften sei kein Hinweis zu entnehmen, welcher dem Fachmann eine Anregung gebe, die bekannten technischen Lehren so zu modifizieren, dass der Fachmann zum Gegenstand des Patentanspruchs 1 gelangen könne.
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Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gemäß Hauptantrag beruhe damit auf erfinderischer Tätigkeit.
II.
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Die zulässige Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Deutsche Patent- und Markenamt gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PatG.
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1. In der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde stellt der Bundesgerichtshof fest, dass eine mathematische Methode nicht ohne weiteres als nicht-technisch angesehen werden könne. Technisches Handeln bestehe im Arbeiten mit den Mitteln der Naturkräfte. Die diesen zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten würden in aller Regel mit Hilfe mathematischer Methoden beschrieben. Die Anwendung solcher Methoden zur Erzielung eines bestimmten technischen Erfolgs sei deshalb ihrerseits dem Gebiet der Technik zuzuordnen. Als nicht-technisch könne eine mathematische Methode nur dann angesehen werden, wenn sie im Zusammenhang mit der beanspruchten Lehre keinen Bezug zur gezielten Anwendung von Naturkräften aufweise. In Hinsicht auf das angemeldete Verfahren seien die in der Anmeldung beanspruchten Merkmale (d) bis (g) bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit zu berücksichtigen. Diese beträfen für sich gesehen zwar Rechenoperationen, die im Wesentlichen die Anwendung statistischer Methoden beträfen. Diese Rechenschritte wiesen bei den beanspruchten Verfahren aber einen hinreichenden Bezug zur gezielten Anwendung von Naturkräften auf. Die mit ihnen bewirkte Zusammenfassung von Messwerten zur Beschleunigung der mit dem Kalman-Filter verbundenen weiteren Rechenschritte diene dem Zweck, anhand der zur Verfügung stehenden Messwerte zuverlässigere Erkenntnisse über den Zustand des Flugzeugs zu gewinnen und damit die Funktionsweise des Systems, das der Ermittlung dieses Zustands diene, zu beeinflussen. Die Schutzwürdigkeit der angemeldeten Erfindung sei daher keine Frage der Technizität oder des Patentierungsausschlusses, sondern der erfinderischen Tätigkeit. Dabei sei zu prüfen, ob der Gegenstand der Anmeldung auch bei Berücksichtigung der Merkmale (d) bis (g) durch den Stand der Technik nahegelegt war.
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2. Die Lehre des Patentanspruches 1 gemäß Hauptantrag ist durch den bisher bekannten Stand der Technik weder vorbekannt noch nahegelegt. Denn ein Verfahren zur Ermittlung eines Flugzeugzustands, bei dem Auswahl und Berechnung der dem Kalman-Filter zugeführten Daten gemäß den Merkmalen (d) bis (g) erfolgt, ist aus keiner der eingeführten Druckschriften entnehmbar.
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Die Druckschrift D1 beschreibt ein Rechenverfahren für eine „Gate Volume“ Schätzung, wie sie bei der Zielverfolgung verwendet werden kann. Sie lehrt einen allgemeinen Algorithmus zur Schätzung sich überlappender „Volume Gates“ und diskutiert hierfür benötigte Rechenkapazitäten, auftretende Schätzfehler sowie dessen Auswirkungen auf die Performance der Zielverfolgung (Abstract). Das „Gating“ bzw. die Auswahl von Messungen stellt einen notwendigen Bestandteil der Zielverfolgung in Anwesenheit von Störgrößen dar. Der Zweck eines „Gatings“ besteht darin, Rechenaufwände zu begrenzen, indem Messpunkte ausgeblendet werden, die weit weg vom vorhergesagten Messpunkt, d. h. vom vorhergesagten Ort und dessen Entfernung liegen und daher als Stördaten angenommen werden. Das „Gating“ wird für jede Bahn bei jedem Messdurchlauf angewandt, indem ein Beobachtungsgebiet (das „Gate“ bzw. „Gate Volume“) festgelegt wird. Alle Messpunkte, die innerhalb des „Gates“ angeordnet sind, werden für die zeitliche Aktualisierung der Objektbahn ausgewählt, während Messpunkte außerhalb des „Gates“ ignoriert werden (Seite 1, rechte Spalte, zweiter Absatz). Die Druckschrift offenbart ein effektives Näherungsverfahren zur Bestimmung komplexer „Gate Volumes“. Zur Schätzung der „Gate Volumes“ werden Monte Carlo Methoden angewandt (Seite 3, Abschnitt 3 „Gate Volume Estimation“).
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Die Druckschrift D2 befasst sich mit einem Verfahren zur Ermittlung des Zustandes eines Flugzeugs mittels eines Kalman-Filters (Seite 1, [0001], [0002]; siehe „military aircraft and missiles“). Das bekannte Verfahren, das auf einem integrierten GPS („Global Positioning System“ GPS) und INS System („Inertial Navigation System“ INS) beruht, ermöglicht die Messung der Position, Geschwindigkeit und Flughöhe (Seite 1, [0002], [0034]) des Flugzeugs. Außerdem wird dessen Lage mittels Kreiselinstrumenten ([0002], siehe „gyroscopes“) bestimmt. Die Messwerte der betrachteten Messgrößen werden von der Trägheitsanlage (Seite 1, [0002]; Seite 3, [0034]; siehe INS), aber auch von dem GPS System geliefert (Seite 3, [0033]; siehe „GPS receiver“). Sie werden einem Kalman-Filter zugeführt, das den „wahren“ Systemzustand abschätzt (Seite 3, [0033], [0034]). Aus der Druckschrift D2 ist außerdem bekannt, Messwerte über das Iterationsintervall des Kalman-Filters zu mitteln und anstatt der Einzeldaten nur den zugehörigen Mittelwert dem Kalman-Filter zuzuführen (Seite 2, [0020]; Seite 3, rechte Spalte; siehe Anspruch 5). Außerdem wird auf die zur Bestimmung des Kalman Gains notwendige Messrauschkovarianz R hingewiesen (Seite 2, [0028]).
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Bei der Druckschrift D3 handelt es sich um eine Abhandlung gängiger Algorithmen zur Kollisionserkennung. Bereits in der Einleitung der Druckschrift wird ausgeführt, dass der Kollisionserkennung und ihren Algorithmen sowohl im Bereich der Luft- und Seefahrt als auch bei der Navigation landgestützter Fahrzeuge große Bedeutung zukommt. In der Druckschrift wird u. a. der „Bounding Sphere“ Algorithmus vorgestellt (Seite Young-6 ff.). Dieser nähert das Volumen des betrachteten Objekts durch eine dreidimensionale Kugel an, die das Objekt mit seinen Abmessungen umfasst, wobei der Radius der Kugel und damit auch deren Volumen minimal eingestellt wird (Seite Young-6, Abschnitt „2.2) The Bounding Sphere Algorithm“).
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Keine dieser Druckschriften gibt jedoch eine Anregung, einem Kalman-Filter eine geringere Anzahl von Messwerten zuzuführen, indem eine bestimmte Anzahl n von Messwerten, die durch einzelne Punkte in einem -dimensionalen Raum dargestellt werden, zu einer -dimensionalen Kugel zusammengefasst werden, die bei möglichst geringem Radius alle Einzelpunkte umfasst, und dem Kalman-Filter anstelle der einzelnen Punkte lediglich die die Kugel charakterisierenden Daten zugeführt werden, nämlich der Mittelpunktvektor und der Radius (Merkmale (d) bis (g)).
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Nach allem ist nicht erkennbar, wie der Fachmann in Kenntnis lediglich des aus den ermittelten Druckschriften bekannten Standes der Technik zur Lehre des Patentanspruches 1 hätte gelangen können.
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3. Die Anmeldung war an das Deutsche Patent- und Markenamt zurückzuverweisen.
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Eine unmittelbare Patenterteilung hält der Senat für nicht sachgerecht. Denn die Prüfungsstelle des DPMA hat bislang noch nicht in der Sache selbst entschieden. Aus der Sicht der Prüfungsstelle war beim Vorliegen eines Patentierungsausschlusses gemäß § 1 PatG die Prüfung der Patentfähigkeit nicht notwendig. Es ist nun zu prüfen, ob der Gegenstand der Anmeldung bei Berücksichtigung all seiner Merkmale durch den Stand der Technik nahegelegt ist.
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Insbesondere die Bestimmung einer möglichst kleinen mehrdimensionalen Kugel, die sämtliche Messwerte einer Trägheitsanlage beinhaltet sowie die Zuführung von Kugelmittelpunkt und -radius an das Kalman-Filter zur weiteren Verarbeitung gemäß den Merkmalen (d) bis (g) des Patentanspruches 1 nach Hauptantrag war nicht Gegenstand des bisherigen Prüfungsverfahrens. Es deutet nichts darauf hin, dass die bisherige Recherche zum Stand der Technik auch auf die Bestimmung eines solchen minimalen Kugelvolumens ausgerichtet war. Eine entsprechende Feststellung kann für den auf ein „System zur Ermittlung eines Flugzeugzustandes“ gerichteten Patentanspruch 5 getroffen werden, der inhaltlich nicht über den Patentanspruch 1 hinausgeht.
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Eine Recherche, die diesem Umstand Rechnung trägt, wird nunmehr nachzuholen sein.
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4. Über die Unteransprüche nach Hauptantrag und über die Hilfsanträge brauchte bei dieser Sachlage nicht befunden zu werden.