Aktenzeichen AN 9 K 19.02090
Leitsatz
1. Im Regelfall sind unmittelbar angrenzende Grundstücke als benachbart anzusehen; allerdings können auch nicht unmittelbar anliegende Grundstücke als Nachbargrundstück einzuordnen sein, die beispielsweise durch einen Weg oder eine Straße getrennt sind, sofern diese Grundstücke in ihren öffentlich-rechtlichen Belangen berührt werden können. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird eine Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung erteilt, so führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Handelt es sich hingegen um eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung, so richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach dem im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebot. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Grundsätzlich sind lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung nachbarschützend. Anderweitige Festsetzungen, insbesondere zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche, haben dagegen grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung. Anderweitige Festsetzungen als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, insbesondere hinsichtlich des Maßes und der überbaubaren Grundstückflächen, sind ausnahmsweise dann nachbarschützend, wenn dies dem Willen der Gemeinde als Plangeber entspricht. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
A.
Streitgegenstand der vorliegenden Klage ist die dem Beigeladenen mit Bescheid vom 27. September 2019 erteilte Baugenehmigung.
B.
Die Klage ist jedenfalls unbegründet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Ein Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung besteht für den Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt die Aufhebung einer Baugenehmigung weiter voraus, dass der Nachbar durch sie auch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies ist nur dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutz des Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 40.87 – juris).
I.
Im Hinblick auf die Nachbareigenschaft der Kläger erscheint bereits die Zulässigkeit der Klage fraglich. Grundsätzlich sind alle Grundstücke als benachbart anzusehen, die durch das Vorhaben in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Belangen berührt werden können (vgl. Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 60). Im Regelfall sind vor allem die unmittelbar angrenzenden Grundstücke als benachbart anzusehen, allerdings können durchaus auch nicht unmittelbar anliegenden Grundstücke als Nachbargrundstück einzuordnen sein, die beispielsweise durch einen Weg oder eine Straße getrennt sind, sofern diese Grundstücke in ihren öffentlich-rechtlichen Belangen berührt werden können. Vorliegend grenzt das klägerischer Grundstück nicht direkt an das Grundstück des streitgegenständlichen Vorhabens an. Beide Grundstücke sind durch einen öffentlichen Weg von ca. 2,50 m Breite getrennt, das klägerische Grundstück liegt auch nicht direkt auf der gegenüberliegenden Seite dieses Weges, sondern versetzt in östliche Richtung. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nur um ein Wohnhaus handelt, das somit kein besonderes Ausmaß an störender Wirkung mit sich bringt, ist schon die Nachbareigenschaft zweifelhaft (vgl. hierzu auch Dirnberger in Simon/Busse, BayBO, Art. 66 Rn. 67 f.).
II.
Selbst wenn man den Klägern eine Nachbareigenschaft zugestehen sollte, ist jedenfalls keine Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift erkennbar.
Das Vorhaben beurteilt sich im Hinblick auf seine Lage im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans nach § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. den Festsetzungen des Bebauungsplans …, der insbesondere Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, zum Maß der baulichen Nutzung und zu den überbaubaren Grundstücksflächen trifft.
Mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung wurden zu Recht Befreiungen wegen Überschreitung der Baugrenzen und wegen Nichteinhaltung der Festsetzung zu den vorgesehenen Flächen für Garagen und Stellplätze erteilt.
1. Wird eine Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung erteilt, so führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Handelt es sich hingegen um eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung, so richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach dem im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebot (siehe hierzu BayVGH, B.v. 5.9.2016 15 CS 16.1536 – juris). Ein Abwehranspruch des Nachbarn ist in diesem Fall nur gegeben, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die nachbarlichen Interessen genommen hat, (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 4 B 64.98 – juris).
Grundsätzlich sind lediglich Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung nachbarschützend – der Nachbar kann gebietsfremde Vorhaben im Wege des sog. Gebietserhaltungsanspruchs abwehren. Anderweitige Festsetzungen, insbesondere zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche, haben dagegen grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung, da derartige Festsetzungen in der Regel den Gebietscharakter nicht berühren (BVerwG, U.v. 23.6.1995, 4 B 52.95 – juris). Derartige Festsetzungen dienen im Regelfall nur dem öffentlichen Interesse und der städtebaulichen Ordnung. Nachbarschutz besteht daher im Hinblick auf solche Festsetzungen oder Befreiungen von derartigen Festsetzungen im Regelfall nur durch das Gebot der Rücksichtnahme (BVerwG, B.v. 8.7.1998, 4 B 64.98 – juris). Anderweitige Festsetzungen als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, insbesondere hinsichtlich des Maßes und der überbaubaren Grundstückflächen, sind ausnahmsweise dann nachbarschützend, wenn dies dem Willen der Gemeinde als Plangeber entspricht (st. Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 9.8.2018, 4 C 7/17 – juris). Bei der Ermittlung des planerischen Willens der Gemeinde kommt es maßgeblich darauf an, ob im Text oder in der Begründung des Bebauungsplans Ausführungen dazu enthalten sind, dass die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksflächen ausnahmsweise nachbarschützend sind (st. Rspr., so z.B. BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 9 ZB 14.2715 – juris; B.v. 27.6.2018 – 9 ZB 16.1012 – juris) oder ob sich aus den zeichnerischen Festsetzungen Anhaltspunkte für einen Nachbarschutz ergeben (siehe hierzu BVerwG, U.v. 9.8.2018. 4 C 7/17 – juris; VG Ansbach, U.v. 26.6.2019 – AN 9 K 18.01371 – juris). Ein Nachbarschutz ist dabei anzunehmen, wenn die Festsetzung (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332).
Das BVerwG hat in der sog. „Wannsee-Entscheidung“ mit Urteil vom 9. August 2019 (Az. 4 C 7/17) ausgeführt, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung – wobei die Ausführungen auf Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche zu übertragen sein dürften – bei älteren Bebauungsplänen (d.h. solchen, die vor 1960 entstanden sind) nachträglich nachbarschützend „aufgeladen“ werden können, wenn der Plangeber die Planbetroffenen mit diesen Festsetzungen in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden wollte. Die Möglichkeit dieser subjektiv-rechtlichen „Aufladung“ ist allerdings auf diese Bebauungspläne begrenzt, die aus einer Zeit vor 1960 stammen. Bei „jüngeren“ Bebauungsplänen bestand für den kommunalen Plangeber angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits ausgebildeten Dogmatik zum Drittschutz durch Bauleitplanung ja gerade die Möglichkeit, die entsprechenden Regelungen nachbarschützend auszugestalten. Die Unterstellung einer vom Plangeber nicht positiven Drittschutzwirkung erschiene insofern problematisch (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332).
Unabhängig von der Möglichkeit der nachträglichen Aufladung setzt eine nachbarschützende Wirkung einer Festsetzung aber immer voraus, dass dem Plan ein wechselseitiges Austauschverhältnis zu entnehmen ist.
2. Nach diesen Grundsätzen sind die einschlägigen Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen jedenfalls im Hinblick auf das Baugrundstück im Verhältnis zum Grundstück der Kläger nicht nachbarschützend. Die Kläger können sich daher über das Gebot der Rücksichtnahme hinaus nicht darauf berufen, dass dem Beigeladenen hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenzen Befreiung erteilt wurde. In den textlichen Festsetzungen unter Einbeziehung der Begründung des Bebauungsplans findet sich keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass diese Festsetzungen nicht nur städtebaulichen Charakter haben sollen, sondern auch Nachbarschutz vermittelt werden soll. Auch aus den zeichnerischen Festsetzungen sind keine Anhaltspunkte für einen Nachbarschutz erkennbar.
Dies gilt in gleicher Weise für die Festsetzung zu den Flächen für Garagen und Stellplätze. Eine diesbezügliche nachbarschützende Wirkung ist dem Bebauungsplan gerade nicht zu entnehmen.
3. Da es sich um Befreiungen von nicht nachbarschützenden Festsetzungen handelt, bleibt als Anknüpfungspunkt für den Nachbarschutz, wie oben dargestellt, lediglich das Gebot der Rücksichtnahme, welches im in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltenen Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ seinen Niederschlag gefunden hat.
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes liegt nach Auffassung der Kammer unter Abwägung aller Gesichtspunkte nicht vor. Unzumutbare Belästigungen oder Störungen sind durch das Bauvorhaben gerade nicht zu erwarten. Diesbezüglich ist insbesondere die Lage des streitgegenständlichen Vorhabens zu berücksichtigen. Zwischen der streitgegenständlichen Bebauung und dem Haus der Kläger liegt ein Wohnweg; die Gebäude haben einen Abstand von ca. 15 Metern. Wie bereits bezüglich der Frage der Nachbareigenschaft ausgeführt, liegen die Grundstücke sich noch nicht einmal gegenüber, sondern es ist ein seitlicher Versatz gegeben. Bezüglich der Kläger ist weiter zu berücksichtigen, dass der grundsätzlich schutzwürdigere rückwärtige Grundstücksbereich sich in südlicher Richtung befindet und somit keinesfalls durch das Vorhaben des Beigeladenen beeinträchtigt werden kann, zudem liegt das Baugrundstück nördlich des Grundstücks der Kläger, sodass eine Beschattung insoweit jedenfalls zulasten der Kläger praktisch ausscheidet.
C.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat einen Antrag gestellt, so dass es im Hinblick auf das Kostenrisiko der Billigkeit entspricht, seine außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.