Strafrecht

Verhandlungsunfähigkeit, Wiedereinsetzungsgesuch, Revisionsbegründungsfrist, Wiedereinsetzungsantrag, Genügende Entschuldigung, Ausbleiben des Angeklagten, Berufungshauptverhandlung, Sofortige Beschwerde, Verwerfungsurteil, Verfahrensrüge, Landgerichte, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Richterliche Aufklärungspflicht, Aufklärungsrüge, Hauptverhandlungstermin, OLG Nürnberg, Berufungsgericht, Gesamtfreiheitsstrafe, Nachforderung von Unterlagen, Antrag auf Wiedereinsetzung

Aktenzeichen  5 OLG 15 Ss 173/17, 5 OLG 15 Ss 173/17, 5 Ws 31-32/17 (2)

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StV – 2018, 151
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Gründe

I.
Durch Urteil vom 9. März 2015 hat das Amtsgericht München die Angeklagten jeweils wegen versuchten Betruges in Tatmehrheit mit Diebstahl verurteilt sowie gegen den Angeklagten H. H. M. eine Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten mit Bewährung und gegen den Angeklagten H. M. M. eine Gesamtgeldstrafe von 160 Tagessätzen zu je 10 € verhängt.
Die form- und fristgerecht eingelegten Berufungen der Angeklagten hat das Landgericht München I aufgrund der Hauptverhandlung vom 17. November 2016 ohne Verhandlung zur Sache kostenfällig verworfen. Zur Begründung wurde jeweils ausgeführt, die zum Hauptverhandlungstermin ordnungsgemäß geladenen und über die Folgen eines nicht bzw. nicht genügend entschuldigten Ausbleibens belehrten Angeklagten seien ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben. Weiter führte das Landgericht u.a. aus, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und die übersandten Diagnoseschlüssel für den Nachweis der Verhandlungsunfähigkeit nicht ausreichen würden. Die Nachforderung von Unterlagen sei nicht in Betracht gekommen. Damit lägen die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO für ein Verwerfungsurteil vor.
Die Wiedereinsetzungsanträge der Angeklagten in die versäumte Berufungshauptverhandlung vom 2. Dezember 2016 hat das Landgericht durch Beschlüsse vom 14. März 2017 als unbegründet verworfen. Der Wiedereinsetzungsantrag könne nicht auf Gründe gestützt werden, aus denen bereits die Berufung verworfen worden sei, auch neue Beweismittel seien dafür nicht zulässig. Auch die weiteren Atteste besagten im Übrigen nichts über die Verhandlungsunfähigkeit.
Gegen diese Entscheidungen richten sich die sofortigen Beschwerden der Angeklagten vom 30. März 2017 und ihre Revisionen vom 2. Dezember 2016. Der Angeklagte H. M. M. hat seine Revision durch Schriftsatz vom 5. April 2017 weiter begründet und Wiedereinsetzung bezüglich der versäumten Revisionsbegründungsfrist beantragt.
II.
1. Die gemäß § 329 Abs. 7, § 46 Abs. 3, § 311 StPO statthaften und zulässigen, insbesondere fristgemäß eingelegten sofortigen Beschwerden sind in der Sache unbegründet. Das Landgericht hat die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Recht als unbegründet verworfen, weil die Angeklagten nicht glaubhaft gemacht haben, ohne Verschulden am Erscheinen zur Hauptverhandlung am 17. November 2016 gehindert gewesen zu sein.
a) Nach § 329 Abs. 7 i. V. m. § 44 Satz 1, § 45 StPO kann ein Angeklagter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beanspruchen, wenn er ohne eigenes Verschulden gehindert war, in der Berufungshauptverhandlung anwesend zu sein. Die Tatsachen zur Begründung dieses Antrages sind gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO darzulegen und glaubhaft zu machen. Hierzu ist ein Sachverhalt vorzutragen, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden des Angeklagten ausschließt. Erforderlich ist eine genaue Darstellung der Umstände, die für die Frage bedeutsam sind, wie es zu der Versäumung der Berufungshauptverhandlung gekommen ist. Der Antrag muss deshalb unter Angabe von Tatsachen so vollständig begründet sein, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Angeklagten ohne weiteres entnommen werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 28.4.2008, Gz: 2 Ws 116/08, zitiert über juris, Rdn. 5). Dies muss binnen der Wochenfrist gemäß §§ 329 Abs. 7, 45 Abs. 1 Satz 1 StPO geschehen. Nach Ablauf der Frist können diese Angaben allenfalls ergänzt oder verdeutlicht werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 45 Rdn. 5 m. w. N.). Ferner ist zu beachten, dass das Wiedereinsetzungsgesuch nicht auf Gründe gestützt werden kann, die bereits das Tatgericht seinem Verwerfungsurteil zugrunde gelegt hat; dies ist nur in Verbindung mit neuen Tatsachen zulässig (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 329 Rdn. 42 m. w. N.).
b) Diesen Anforderungen genügten die Wiedereinsetzungsgesuche der Angeklagten selbst unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht. Die Erkrankung (bakterielle Lebensvergiftung), auf die auch die Wiedereinsetzungsgesuche (mit zusätzlichen Attesten) gestützt sind, hat das Landgericht bereits in den Berufungsurteilen nicht als ausreichende Entschuldigung anerkannt. Lediglich weitere Atteste und ergänzendes Vorbringen sind keine neuen Tatsachen. Die Beschwerdeführer machen in Wahrheit die Verkennung des Begriffs der genügenden Entschuldigung und Verstöße gegen die richterliche Aufklärungspflicht geltend. Dies kann nur mit der Revision geschehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 329 Rdn. 42 und 48).
2. Der zulässige Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten H. M. M. bezüglich der Revisionsbegründungsfrist ist begründet, da den Angeklagten nach dem glaubhaften Vorbingen seines Verteidigers kein Verschulden an der Versäumung der Frist zur Begründung der Revision trifft (§§ 44, 45 StPO) und er sich das Verschulden des Verteidigers nicht zurechnen lassen muss (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 44 Rdn. 18).
3. Die zulässigen Revisionen haben mit der (Verfahrens-)Rüge der Verletzung des § 329 Abs. 1 StPO einen – zumindest vorläufigen – Erfolg.
a) Wird mit der Revision gegen ein gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil geltend gemacht, dieses gehe zu Unrecht davon aus, dass ein Angeklagter nicht genügend entschuldigt gewesen sei, setzt die Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Wertung die Erhebung einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge voraus. Danach sind die den Mangel enthaltenden Tatsachen so vollständig und genau mitzuteilen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung prüfen kann, ob die Rüge begründet ist, wenn die behaupteten Tatsachen zutreffen.
Ergibt sich, dass ein Angeklagter vor dem Hauptverhandlungstermin Entschuldigungsgründe vorgebracht hat, ist es ausreichend, wenn ausgeführt wird, das Berufungsgericht hätte das Ausbleiben des Angeklagten nicht als unentschuldigt ansehen dürfen (vgl. OLG Nürnberg, NJW 2009, 1761). So liegt es hier. Darüber hinaus haben die Revisionen die Aufklärungsrüge erhoben und gerügt, dass das Landgericht eine Kontaktaufnahme mit dem die ärztliche Bescheinigung ausstellenden Arzt unterlassen hat. Die Revisionen rügen im Übrigen auch, dass das Landgericht zu Unrecht den Nachweis der Verhandlungsunfähigkeit gefordert hätte.
b) Die Revisionen der Angeklagten haben Erfolg, weil die Berufungsentscheidungen in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft sind.
aa) Das Landgericht hat bereits den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt, indem es gemeint hat, die „Verhandlungsunfähigkeit“ der Angeklagten sei nicht nachgewiesen. Eine Erkrankung entschuldigt das Ausbleiben eines Angeklagten jedoch nicht erst dann, wenn er verhandlungsunfähig ist, sondern bereits dann, wenn ihm das Erscheinen zur Berufungsverhandlung deshalb unzumutbar ist (Beschluss des BayObLG vom 06.11.2002, 5St RR 279/02, zitiert nach juris, dort Rdn. 5 m. w. N.). Mit dieser Frage setzten sich die Berufungsurteile rechtsfehlerhaft nicht auseinander. bb) Wohl auch infolge des vorgenannten Rechtsfehlers hat das Berufungsgericht die ihm auch bei einer Entscheidung nach § 329 Abs. 1 StPO obliegende Aufklärungspflicht verletzt.
Es kommt für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO nicht darauf an, dass sich der Angeklagte selbst entschuldigt hat. Es reicht vielmehr, wenn die Prüfung ergibt, dass das Fernbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist. Das Berufungsgericht muss daher nach allgemeiner und zutreffender Auffassung von Amts wegen prüfen, ob Umstände ersichtlich sind, die das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigen (BGHSt 17, 391, 396; Meyer-Goßner aaO § 329 Rn. 26).
Hierzu kann auch ein inhaltlich unzureichendes Entschuldigungsschreiben hinreichenden Anlass bieten (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 329 Rdn. 20 und 26; OLG Nürnberg, NJW 2009, 1761). Bei der Vorlage eines privatärztlichen Attests, bei dem die genaue Diagnose nicht angegeben ist, gehört zu den dann im Einzelfall erforderlichen Ermittlungen auch die fernmündliche Erkundigung beim ausstellenden Arzt über die näheren Umstände des Krankheitsbildes, um auf dieser Grundlage über das Genügen der Entschuldigung entscheiden zu können (OLG Nürnberg aaO). Die dafür erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen liegen mit der Vorlage des Attestes durch den Angeklagten schon deshalb vor, weil der ausstellende Arzt damit konkludent von seiner Schweigepflicht entbunden wird (Meyer-Goßner/Schmitt aaO § 329 Rdn. 20). Das Landgericht hätte seinen Zweifeln an der Erheblichkeit der Erkrankung von Amts wegen nachgehen müssen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 26 m. w. N.). Diese im Freibeweisverfahren durchführbaren Ermittlungen hat die Berufungskammer unterlassen.
cc) Das Urteil war mit den Feststellungen somit auf die Revisionen der Angeklagten aufzuheben, § 349 Abs. 4 StPO, und die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurück zu verweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

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