Aktenzeichen 2 Ca 402/15
ZPO ZPO § 256 Abs. 1
BGB BGB § 314 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
1 Eine Abmahnung wegen eines um eine Sekunde verspäteten Arbeitsbeginns ist unwirksam, weil eine echte Pflichtverletzung oder Verspätung dann nicht vorliegt. Die Abmahnung wäre zudem unverhältnismäßig (vgl. BAG BeckRS 9998, 63397). (red. LS Ulf Kortstock)
2 Da andere wirksame Abmahnungen wegen Verspätungen jedenfalls für eine gewisse Zeit (fast drei Jahre) das Verhalten des Arbeitnehmers positiv beeinflußt haben, ergibt die Interessenabwägung im Einzelfall, dass die Kündigung wegen einer gut einstündigen Verspätung nicht sozial gerechtfertigt ist. (red. LS Ulf Kortstock)
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 10.04.2015 nicht zum 30.06.2015 aufgelöst worden ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Einsteller weiterzubeschäftigen.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Der Streitwert des Verfahrens wird auf EURO 13.200,– festgesetzt.
5. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 1/5, die Beklagte 4/5.
Gründe
Die Klage ist hinsichtlich des Kündigungsschutzantrags und des Weiterbeschäftigungsantrags zulässig und begründet. Die Kündigung der Beklagten vom 10.04.2015 ist nicht durch Gründe, die im Verhalten des Klägers liegen, i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt, so dass sie gem. § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht auflösen konnte. Die festgestellte Unwirksamkeit der Kündigung hat zur Folge, dass auch dem Weiterbeschäftigungsantrag stattzugeben ist. Hinsichtlich des allgemeinen Feststellungsantrags ist die Klage mangels Vorliegens eines Feststellungsinteresses iSd. § 256 Abs. 1 ZPO unzulässig.
I.
Die Kündigung der Beklagten vom 10.04.2015 ist nicht durch Gründe, die im Verhalten des Klägers liegen, iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt. Zwar hat Kläger trotz zweier einschlägiger und wirksamer Abmahnungen vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 am 24.03.2015 erneut gegen seine arbeitsvertragliche Pflicht zur pünktlichen Arbeitsaufnahme in nicht unerheblicher Weise verstoßen. Die Kündigung hält jedoch nach Ansicht der Kammer einer Interessenabwägung im Einzelfall nicht stand.
1. Das KSchG ist vorliegend gem. §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG anwendbar.
2. Eine Kündigung ist durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG „bedingt“, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat und eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht (vgl. etwa BAG, Urteil vom 23.01.2014 – 2 AZR 638/13 -, NZA 2014, 965, Rn. 16). Insbesondere kann ein wiederholt verspätetes Erscheinen im Betrieb trotz einschlägiger Abmahnungen als Verletzung der Arbeitspflicht eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen (vgl. BAG, Urteil vom 15.11.2001 – 2 AZR 609/00 -; LAG Thüringen, Urteil vom 17.12.2009 – 5 Sa 365/09 -). Allerdings ist auch bei der Prüfung, ob verhaltensbedingte Gründe die Kündigung bedingen oder dem Arbeitgeber trotz Pflichtverletzung des Arbeitnehmers eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus zumutbar ist, eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (vgl. etwa BAG Urteil vom 11.07.2013 – 2 AZR 994/12 – NZA 2014, 250, Rn.44).
2. Der Kläger hat am 24.03.2015 seine Arbeitspflicht nicht unerheblich verletzt, indem er nicht pünktlich zum Beginn der Frühschicht um 06:00 Uhr, sondern erst um 07.09 Uhr an seinem Arbeitsplatz erschienen ist. Auch ist er insoweit bereits – zwar nicht mit dem Schreiben vom 19.01.2015, aber mit den Schreiben vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 – einschlägig und wirksam abgemahnt worden.
a) Die Abmahnung vom 19.01.2015 ist nach Ansicht der Kammer unwirksam, weil sie keine Pflichtverletzung des Klägers zum Gegenstand hat. Die Kammer teilt die Auffassung des Klägers, dass bei einem Arbeitsbeginn um 22:00 Uhr keine Verspätung vorliegt, wenn der Kläger um 22:00:01 Uhr an seinem Arbeitsplatz erscheint. Eine Abmahnung wegen einer Verspätung von einer Sekunde wäre zudem unverhältnismäßig (der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch für die Abmahnung, vgl. BAG vom 23. 6. 2009 – 2 AZR 606/08 -, NZA 2009, 1011, Rn.14).
b) Demgegenüber sind die beiden einschlägigen Abmahnungen vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 wirksam.
aa) Beide Abmahnungen sind nach Ansicht der Kammer hinreichend bestimmt und erfüllen ihre Rüge – und Warnfunktion (vgl. zu den Funktionen einer Abmahnung etwa BAG, Urteil vom 19. 7. 2012 – 2 AZR 782/11, NZA 2013, 91, Rn.20). Der Kläger kann aus den Abmahnungen aufgrund der Angaben des Datums, der Uhrzeit der Zeitbuchungen und des Beginns der jeweiligen Schichtbeginns erkennen, an welchen Tagen er in welchem zeitlichen Umfang zu spät gekommen ist und dass die Beklagte diese Verspätungen beanstandet. Auch wird jeweils für den Wiederholungsfall die Kündigung des Arbeitsverhältnisses angedroht. Ob die Abmahnung in jedem einzelnen abgemahnten Fall – also auch bei den Verspätungen um eine Minute – gerechtfertigt ist, ist nach Ansicht der Kammer nicht entscheidend. Maßgeblich ist insoweit allein, dass die Abmahnungen vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 jeweils auch Verspätungen von mindestens 10 Minuten zum Gegenstand haben, die jedenfalls nicht mehr als unerheblich angesehen werden können. Die Abmahnungen beziehen sich daher (zumindest auch) auf – im Hinblick auf den Grund der Kündigung vom 10.04.2015 – einschlägige und tatsächlich vom Kläger begangene, nicht unerhebliche Verletzungen der Arbeitspflicht.
bb) Die beiden Abmahnungen vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 sind nicht durch Zeitablauf wirkungslos geworden. Zwar kann eine Abmahnung im Einzelfall ihre Warnfunktion verlieren, wenn sich der Arbeitnehmer über einen längeren Zeitraum einwandfrei verhält (vgl. BAG, Urteil vom 19. 7. 2012 – 2 AZR 782/11, NZA 2013, 91, Rn.20). Das setzt allerdings voraus, dass der Arbeitnehmer wieder im Ungewissen sein konnte, was der Arbeitgeber von ihm erwartet bzw. wie er auf eine etwaige Pflichtverletzung reagieren werde. Vorliegend konnte der Kläger am 24.03.2015 trotz des Zeitablaufs seit seiner letzten wirksam abgemahnten Verspätung am 08.06.2012 nicht im Ungewissen darüber sein, dass die Beklagte von ihm weiterhin erwartet, dass er pünktlich zum Schichtbeginn am Arbeitsplatz erscheint. Diese Erwartung hat die Beklagte in dem – wenn auch als Abmahnung unwirksamen – Schreiben vom 19.01.2015 zum Ausdruck gebracht.
c) Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass die Interessenabwägung im Einzelfall ergibt, dass der Beklagten trotz der erneuten, bereits einschlägig abgemahnten und zahlreichen Pflichtverletzungen des Klägers eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus (noch) zumutbar ist. Insoweit hat die Kammer vor allem zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass zwischen den letzten beiden Verspätungen am 08.06.2012 und am 24.03.2015 ein Zeitraum von immerhin fast drei Jahren liegt. Das zeigt, dass die Abmahnungen vom 30.01.2012 und vom 29.06.2012 offenbar nicht ohne Einfluss auf den Kläger geblieben sind und er sie sich in dieser Zeit hat zur Warnung gereichen lassen. Vor diesem Hintergrund ist die Kammer der Ansicht, dass das Interesse des über sechs Jahre bei der Beklagten beschäftigten Klägers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses – auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten (allerdings sehr pauschal) vorgetragenen verspätungsbedingten Betriebsablaufstörungen – dem Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf der Kündigungsfrist (noch) überwiegt.
II.
Das Obsiegen mit dem Kündigungsschutzantrag hat zur Folge, dass der Kläger einen Anspruch darauf hat, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterbeschäftigt zu werden.
III.
Der allgemeine Feststellungsantrag ist unzulässig, so dass die Klage insoweit abzuweisen war. Der Kläger hat keine Tatsachen vorgebracht, aus denen sich ein über den Kündigungsschutzantrag hinausgehendes Feststellungsinteresse iSd. § 256 Abs. 1 ZPO ergibt.
IV.
Die Kostentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
V.
Der Streitwert wurde gem. § 61 Abs. 1 ArbGG in Höhe von insgesamt fünf Bruttomonatsgehältern festgesetzt.
VI.
Anlass für eine Zulassung der Berufung nach § 64 Abs. 2 Buchst. a i. V. m.. Abs. 3 ArbGG bestand nicht. Die Berufung ist jedoch für beide Parteien – für den Kläger hinsichtlich der Klageabweisung und der Beklagten hinsichtlich der Klagestattgabe – gem. § 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG statthaft.