Aktenzeichen L 19 R 786/17
SGB VI § 34 Abs. 4 Nr. 3, § 236 Abs. 3, § 236 b Abs. 1
Leitsatz
Es besteht keine Verpflichtung des Gesetzgebers, für die Altersrente für besonders langjährig Versicherte einen vorzeitigen Rentenbegin mit Abschlägen gesetzlich vorzusehen. (Rn. 19 ff.)
Verfahrensgang
S 12 R 649/15 2017-11-28 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 28.11.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf eine höhere Rentenhöhe bzw. einen geringeren Rentenabschlag bei der gewährten Altersrente für langjährige Versicherte hat und auch keinen Anspruch auf eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte hat.
Der Senat folgt der Entscheidung des Sozialgerichts Würzburg im Gerichtsbescheid vom 28.11.2017, nimmt hierauf ausdrücklich Bezug und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass zwischenzeitlich weitere Entscheidungen vorliegen, in denen die Rechtmäßigkeit der Anwendung von § 34 Abs. 4 SGB VI auf einen Wechsel von einer Bestandsrente mit Abschlägen auf eine Altersrente für besonders langjährige Versicherte bejaht wird (so etwa LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.08.2015, Az. L 6 R 114/15 und zugehöriger Beschluss des BSG vom 30.12.2015 über die Nichtzulassungsbeschwerde, Az. B 13 R 345/15 B – jeweils nach juris). Im angesprochenen Beschluss des BVerfG vom 16.12.2015 (Az. 1 BvR 2408/15) sind keine detaillierten Ausführungen zu den Einwendungen gemacht worden und nicht veranlasst gewesen.
Der Antrag des Klägers zielt allerdings in erster Linie darauf ab, dass die ihm gewährte Altersrente für langjährig Versicherte mit einem geringeren Abschlag berechnet wird. Anknüpfungspunkt für die Berechnung der Höhe der Rentenabschläge solle dabei nicht der Zeitpunkt sein, ab dem der Kläger eine Altersrente für langjährig Versicherte regulär, d.h. ohne Abschläge, beziehen könnte, sondern der früheste Zeitpunkt, ab dem ihm – aus jeglichem Rechtsgrund, konkret aber als Altersrente für besonders langjährig Versicherte – eine abschlagsfreie Altersrente zugestanden hätte.
Zu Recht gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass die Beklagte den Wortlaut des SGB VI bei der Berechnung der Altersrente des Klägers zutreffend zum Einsatz gebracht hat. Ein unmittelbarer Verstoß der Beklagten gegen das kodifizierte Recht wird vom Kläger nicht behauptet.
Für den vom Kläger verfolgten Ansatz zur Verringerung der Rentenabschläge gibt es zur Überzeugung des Senats keine Rechtsgrundlage.
Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch (vgl. Seewald in: Kasseler Kommentar, Stand Juni 2012, vor § 38 SGB I, Rn. 120 ff) scheidet aus, weil kein fehlerhaftes Handeln der Beklagten etwa in Form einer Fehlberatung oder Mangelberatung vorgelegen hat. Der Kläger wusste bei Rentenantragstellung um die Möglichkeiten und die jeweiligen Bedingungen für die verschiedenen Rentenarten und hat gleichwohl für die Zeit ab Vollendung des 62. Lebensjahres eine Altersrente – in zwei Alternativen – beantragt. Er hätte bei vertiefter Beratung der Beklagten auch nicht anders gehandelt, da er sich zur Inanspruchnahme einer Altersrente ab diesem Zeitpunkt faktisch gezwungen sah. Zu dem Zeitpunkt, als der Kläger noch auf die Gestaltung seiner Altersteilzeitvereinbarung hätte Einfluss nehmen können, war die Gesetzesänderung noch in keiner Weise absehbar, so dass auch seinerzeit keine Beratung hätte erfolgen können, dass es Vorteile haben könnte, die Altersrente 14 Monate später beginnen zu lassen, weil dann nicht nur der lineare Rückgang der Abschläge zum Tragen kommen würde, sondern sprunghaft – aufgrund der neu eingeführten bzw. erweiterten Rente für besonders langjährig Versicherte – jeglicher Rentenabschlag entfallen würde.
Entgegen der Ansicht der Klägerseite ist auch eine Vertrauensschutzregelung nicht geboten oder eröffnet, weil der Kläger bei der Umsetzung des Altersrentenantrags genau das erhalten hat, was er bei seiner Zukunftsplanung zum Zeitpunkt der Altersteilzeitvereinbarung erwarten durfte. Er konnte seinerzeit davon ausgehen, dass er mit Vollendung des 62. Lebensjahres mit einem Abschlag von 10,8% in Altersrente gehen könne. Daran hat sich nichts geändert. Ein notwendig schützenswertes, ansonsten enttäuschtes Vertrauen liegt nicht vor. Dass zwischenzeitlich der Gesetzgeber durch Neueinführung bzw. Erweiterung der Altersrente für besonders langjährig Versicherte eine weitere Alternative geschaffen hat, hat auch für den Kläger die rechtlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erweitert. Dass er sich faktisch nicht in der Lage sah, seinen Lebensunterhalt für die Übergangszeit bis zum frühestmöglichen Beginn dieser Altersrente sicherzustellen, ändert nichts daran, dass hier keine Vertrauensverletzung vorliegt.
Auch die Schaffung der Vertrauensschutzregelung in § 236 Abs. 3 SGB VI erfordert aktuell keine zusätzlichen Regelungen. Seinerzeit wurde für den Personenkreis, der bereits eine Altersteilzeitvereinbarung gemäß den erfassten Bedingungen geschlossen hatte, verhindert, dass er entgegen seiner ursprünglichen Planung sich einer finanziellen Lücke beim Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente ausgesetzt sah. Dieser Schutz ist erhalten geblieben. Weitere Nachteile sind nicht entstanden, nur die Möglichkeit, von später eingeführten Vergünstigungen im Rentenrecht zu profitieren, ist nicht zusätzlich gegeben bzw. nur unter Hinnahme einer Lücke zwischen den Zahlungen aus der Altersteilzeit und vom Rentenversicherungsträger. Dass die Vertrauensschutzregelung auch für den Kläger galt, obwohl er nach seiner Darstellung noch nicht unabänderlich auf das Ende des Zeitraums der Altersteilzeit festgelegt war, war damals ebenfalls als zusätzlicher Vorteil einzuordnen gewesen, weil der Kläger somit die Wahlfreiheit hatte, seine Altersteilzeitregelung in der Gewissheit der geschaffenen Vertrauensschutzregelung zu belassen oder sie abzuändern – auch wenn dies bei der damaligen Gesetzeslage mit keinen finanziellen Vorteilen verbunden gewesen wäre.
Es gibt auch keine Verpflichtung des Gesetzgebers für alle Rentenarten einen vorzeitigen Rentenbeginn mit Abschlägen gesetzlich vorzusehen. Zwar wäre dies versicherungsmathematisch ohne Nachteile für die Versichertengemeinschaft darstellbar. Der Gesetzgeber kann aber auch aus anderen Gründen etwa arbeitsmarktpolitischer Art oder wegen der Signalwirkung einer Wiederherabsetzung des Alters für den Einstieg in die Altersrente von einer solchen Regelung keinen Gebrauch machen. Er ist bei der Gestaltung von Sozialleistungen – insbesondere wenn es um Erweiterungen von Ansprüchen geht – in seiner Gestaltung insoweit frei. Bei der Neueinführung der Altersrente für besonders langjährig Versicherte waren auch generell keine Vertrauensschutzüberlegungen von Bedeutung, weil hier nicht eine bestehende Regelung verschlechtert werden sollte, sondern eine zusätzliche Rentengewährungsmöglichkeit neu geschaffen wurde.
Dass dem Kläger seinerzeit die Möglichkeit erhalten blieb, bereits mit 62 Jahren eine Altersrente beantragen zu können und über ein Blockmodell der Altersteilzeit sich bereits noch früher faktisch aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen, verlangt nicht, dass er bei gesetzlich eingeführten Begünstigungen für eine andere Rentenart und einen anderen Zeitpunkt des Rentenbeginns anteilig hätte berücksichtigt werden müssen. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung rechtlich auch jede Wahlmöglichkeit für die beiden Altersrentenarten unter Beachtung der jeweiligen Bedingungen. Dass er sich durch in Unkenntnis zukünftiger Rechtsänderungen getroffene Entscheidungen eine der beiden Alternativen erschwert oder möglicherweise sogar faktisch verschlossen hatte, gebietet nicht, ihm eine dritte Variante zu eröffnen, die Vorteile beider gesetzlicher Alternativen kombiniert.
Der Einwand der Klägerseite, dass ein Verstoß gegen Art. 3 GG vorliege, überzeugt den Senat ebenfalls nicht: Das vorliegende Gesetz behandelt alle wesentlich gleichgelagerten Sachverhalte gleich; wer vor Vollendung des 63. Lebensjahres bzw. der angehobenen Altersgrenze nach § 236 b SGB VI eine Rente für besonders langjährige Versicherte beantragt, hat trotz der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen keinen Anspruch darauf; wer sie ab dieser Altersgrenze beantragt hat – bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen – einen Anspruch darauf. Das Gleichheitsgebot beinhaltet nicht eine Verpflichtung zu einer Abstufungsregelung, sondern nur die generelle Geltung der Anspruchsvoraussetzungen. In dem Bestehen einer Altersteilzeitvereinbarung liegt kein so wesentliches Ungleichheitsmerkmal vor, dass dafür eine spezielle Regelung geboten gewesen wäre.
Bei der Prüfung einer gesetzlichen Regelung an verfassungsmäßigen Gesichtspunkten kommt es regelmäßig nicht darauf an, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsmäßigen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit überschritten hat oder nicht (vgl. BVerfG, Beschl. vom 13.12.2016, Az. 1 BvR 713/13 – nach juris). Ein solches Überschreiten liegt hier nicht vor.
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die hierzu ergangene erstinstanzliche Entscheidung sind somit nicht zu beanstanden und die Berufung ist zurückzuweisen. Eine Regelungslücke hat nicht bestanden; eine verfassungskonforme Auslegung der geltenden Vorschriften im Sinne einer Änderung der Abschlagsregelung war nicht geboten und das anzuwendende Gesetz erscheint dem Senat auch nicht als verfassungswidrig, so dass er nicht verpflichtet war, vorab eine Entscheidung des BVerfG herbeizuführen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat lässt die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Die Fragen, ob der Gesetzgeber den Personenkreis der unter die Vertrauensschutzregelung des § 236 Abs. 3 SGB VI fallenden Versicherten bei der Neugestaltung des § 236b SGB VI übersehen hat und ob hierfür eigentlich eine spezielle Regelung geboten gewesen wäre, sind für den vorliegenden Fall entscheidungserheblich; sie dürften auch weitere ähnlich gelagerte Rechtsstreitigkeiten betreffen.