Aktenzeichen 7 Sa 399/17
Leitsatz
Der Tarifvertrag sieht pro Monat die Bezahlung einer sogenannten Familienheimfahrt für den Auszubildenden vom Ausbildungsort zum Wohnort der Eltern vor, wenn die Orte soweit voneinander entfernt sind, dass eine tägliche Rückkehr nicht möglich ist. Im Rahmen der gebotenen Auslegung der einschlägigen Norm ist die Bezahlung der Familienheimfahrt davon abhängig, dass der Auszubildende zum Zeitpunkt der Aufnahme der Ausbildung noch bei seinen Eltern wohnt. Hingegen hat ein Auszubildender, der bereits einen eigenen Hausstand an einem anderen Ort begründet hat – wie vorliegend der Fall – keinen Anspruch auf eine bezahlte Familienheimfahrt nach dem Tarifvertrag. (Rn. 22 – 25)
Verfahrensgang
3 Ca 9589/16 2017-05-16 Endurteil ARBGMUENCHEN ArbG München
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 16.05.2017 – 3 Ca 9589/16 – teilweise abgeändert.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
i. Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO).
ii. Die Berufung ist auch begründet. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts ergibt sich aus der Auslegung der einschlägigen Tarifvorschrift kein Anspruch des Klägers auf eine Unterhaltsbeihilfe. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts war daher dementsprechend abzuändern.
1. Tarifverträge sind wegen ihres normativen Charakters wie Gesetze auszulegen. Auszugehen ist danach vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei einem unbestimmten Wortsinn sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, sofern und soweit dies im Text seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Regelungen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führt (vgl. BAG, 25.04.2017 – 3 AZR 668/15; 08.12.2015 – 3 AZR 267/14; 09.10.2012 – 3 AZR 539/10).
Lassen Wortlaut und tarifvertraglicher Gesamtzusammenhang zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen (vgl. BAG, 25.04.2017 – 3 AZR 668/15; 09.12.2015 – 10 AZR 731/14).
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze gebührt einer Auslegung, dass zum Zeitpunkt des Beginns der Ausbildung der Auszubildende noch einen gemeinsamer Wohnsitz mit den Eltern gehabt haben muss, um eine Unterhaltsbeihilfe nach § 13 TV AzB zu erhalten, der Vorrang.
a) Bereits der Wortlaut des § 13 TV AzB mit der Überschrift „Unterhaltsbeihilfe“ lässt erkennen, dass zum Zeitpunkt des Beginns der Ausbildung der Auszubildende mit den Eltern, Erziehungsberechtigten oder Ehegatten einen gemeinsamen Wohnsitz haben muss. Denn ansonsten macht die Formulierung „täglich zum Wohnort der Eltern, des Erziehungsberechtigten oder des Ehegatten zurückkehren“ keinen Sinn. „Zurückkehren“ bedeutet, worauf die Beklagte zutreffend verweist, nicht nur einfach „fahren“ oder „gelangen“, sondern dass zunächst von einem bestimmten Ort aufgebrochen und sodann zu diesem Ort zurückgekehrt wird. Wenn der Kläger aber, wie hier der Fall, keinen Wohnsitz mehr bei seinen Eltern hatte und diesen bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgrund einer Studienaufnahme in Chemnitz aufgegeben hatte, kann er nicht mehr im Sinne der Tarifvorschrift an den Wohnsitz der Eltern zurückkehren. Zudem ist er, nachdem er seinen Wohnsitz in Chemnitz aufgegeben hat, auch nicht zum Wohnsitz seiner Eltern zurückgekehrt, sondern hat sodann in München wiederum einen neuen Wohnsitz begründet. Dies steht aber einem „Zurückkehren“ im Sinne der einschlägigen Tarifvorschrift entgegen. Dieses Auslegungsergebnis findet seine Bestätigung auch in dem Unterfall in § 13 TV AzB wonach Anspruch auf eine Unterhaltsbeihilfe dann besteht, wenn der Ehegatte des Auszubildenden so weit oder verkehrsmäßig so ungünstig vom Ort der Ausbildungsstätte entfernt wohnt, dass der Auszubildenden nicht täglich zum Wohnort des Ehegatten zurückkehren kann. Gerade dies Fallkonstellation verdeutlicht, dass zum Zeitpunkt des Eingehens des Ausbildungsverhältnisses bereits ein gemeinsamer Wohnort, bestanden haben muss. Zudem schweigt die tarifvertragliche Regelung, ohne dass damit eine Lücke im Tarifvertrag ersichtlich wäre, zu der Konstellation des Wiederauflebens eines gemeinsamen Wohnortes, was vorliegend im Übrigen zu keinem Zeitpunkt der Fall war.
b) Diese zunächst am Wortlaut orientierte Auslegung führt auch nach Sinn und Zweck der tariflichen Regelung zu einem zutreffenden Ergebnis, denn der Tarifvertrag für die Auszubildenden der P. AG stammt vom 12.01.1976. Jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt war es offensichtlich, dass Auszubildende in aller Regel – zumal sie oftmals auch noch minderjährig waren – bei ihren Eltern wohnten. Die Aufgabe dieser Wohnsituation durch die Aufnahme einer Ausbildung mit der Folge eines Ortswechsels sollte durch die tarifvertragliche Regelung einer Unterhaltsbeihilfe sozialverträglich abgefedert werden in der Form, dass für die jeweilige Rückkehr zum Wohnort der Eltern eine Unterhaltsbeihilfe gezahlt wird. Auslöser für die Zahlung der Unterhaltsbeihilfe ist aber nicht allein eine Rückkehr, sondern die vorherige Aufgabe des Wohnsitzes des Auszubildenden mit dem seiner Eltern. Die sozialverträgliche Absicherung im Rahmen der tarifvertraglichen Regelung wird konsequenterweise dann obsolet, wenn von der Beklagten gem. § 13 S. 2 TV AzB eine Unterkunft bereitgestellt wird, denn dann entfallen finanzielle Belastungen durch Miete für den Auszubildenden und eine Heimfahrt zu den Eltern ist ihm finanziell zumutbar. Insofern kommt es auch nicht darauf an, dass der Auszubildende keinen Anspruch auf BaFöG hat oder angeblich nicht nebenher arbeiten könnte, denn dass darauf abzustellen sei, lässt sich der Regelung des 13 S. 2TV AzB nicht entnehmen und zudem ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Auszubildende Wohngeld beanspruchen kann.
c) Weiter gibt es im Zusammenhang mit der tarifvertraglichen Regelung in § 13 TV AzB keine Gründe dafür, dass wenn ein Auszubildender bereits den Wohnsitz mit seinen Eltern – aus welchen Gründen auch immer – aufgegeben hat, Besuchsfahrten zu den Eltern finanziell zu privilegieren. Letztlich wäre dies eine Subvention ohne Anlass, denn ein Auszubildender hat zunächst einmal, wenn er bereits einen eigenen Hausstand bzw. Wohnsitz hat, keinen Anspruch darauf, dass ihm die Besuchsfahrten zu seinen Eltern gezahlt werden. Es kommt nicht ausschließlich darauf an, dass der Auszubildende zu seinen Eltern fährt, sondern maßgeblich ist gleichzeitig, dass der Auszubildende bei Beginn des Ausbildungsverhältnisses noch mit seinen Eltern einen gemeinsamen Wohnsitz hatte. Und die Aufgabe dieses gemeinsamen Wohnsitzes muss kausal mit der Aufnahme der Ausbildung an einem weiter weggelegen Ort sein. Ansonsten könnten beispielsweise auch Auszubildende, die bereits vor Beginn der Ausbildung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz haben, bei Aufnahme der Ausbildung auch die Erstattung von Fahrtkosten verlangen, für Fahrten zu ihren im Ausland ansässigen Eltern. Dass § 13 TV AzB eine solche Konstellation nicht regeln wollte, ist offensichtlich und verdeutlicht, dass es nicht darauf ankommen kann, dass der Auszubildende lediglich zu seinen Eltern zurückfährt, sondern dass bei Beginn der Ausbildung bereits ein gemeinsamer Wohnsitz bestanden haben muss, der lediglich wegen der Aufnahme der Ausbildung an einem verkehrsmäßig ungünstigen Ort der Ausbildungsstätte aufgegeben wird.
III.
Der Kläger hat als Unterlegener des Rechtsstreits dessen Kosten gem. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu tragen.
IV.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung bestand gem. § 72 Abs. 2 ArbGG Veranlassung, die Revision zum Bundesarbeitsgericht gemäß der folgenden Rechtsmittelbelehrungzuzulassen.