Aktenzeichen 11 BV 66/19
Leitsatz
1. Dem Betriebsrat ist kein grober Pflichtenverstoss, der eine Auflösung rechtfertigen könnte, vorzuwerfen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Freistellung des einzelnen Betriebsratsmitglieds bedarf unbedingt seines Einverständnisses. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
Die Anträge werden abgewiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten zu 1. begehrt die Auflösung des Beteiligten zu 2. sowie hilfsweise die Amtsenthebung aller Betriebsratsmitglieder.
Die Beteiligte zu 1. ist ein Unternehmen, welches im Wesentlichen die Zustellung von Zeitungen und Zeitschriften der Verlag A-Presse Druckhaus A-Stadt GmbH & Co. KG, aber auch von Fremdobjekten übernimmt. Im Betrieb sind insgesamt 2.132 Arbeitnehmer beschäftigt.
Der Beteiligte zu 2. ist der für den Betrieb der Beteiligten zu 1. gewählte 19-köpfige Betriebsrat. Die Mitglieder des Betriebsratsgremiums sind überwiegend mit Stundenanteilen von 3 bis 15 Stunden pro Woche als Zusteller in der Nachtzeit teilzeitbeschäftigt.
Nach der Betriebsratswahl im Jahr 2018 führten die Beteiligten Gespräche bezüglich einer Betriebsvereinbarung über die Modalitäten einer Freistellung von Betriebsratsmitgliedern nach § 38 Abs. 1 S. 5 BetrVG. Zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung kam es jedoch nicht (vgl. Schreiben des Betriebsrats vom 22.02.2019, Anlage A1).
Die Beteiligte zu 1. forderte in der Folgezeit den Beteiligten zu 2. zur Beratung über die Freistellung nach § 38 BetrVG auf. Das daraufhin geführte Beratungsgespräch am 25.04.2019 verlief ergebnislos, die seitens der Beteiligten zu 1. sodann gesetzte Frist zur Bekanntgabe der gewählten, freizustellenden Betriebsratsmitglieder verstrich fruchtlos.
Die Beteiligte zu 1. begehrt mit dem von ihr am 16.05.2019 beim Arbeitsgericht Nürnberg eingeleiteten Verfahren zuletzt die Auflösung des Beteiligten zu 2. sowie hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag die Amtsenthebung sämtlicher Mitglieder des Beteiligten zu 2.. Zur Begründung führt sie aus, dass der Beteiligte zu 2. nach dem Gesetz zur Wahl und Bekanntgabe der freizustellenden Betriebsratsmitglieder verpflichtet sei. § 38 BetrVG vermute unwiderleglich, dass in Anbetracht der Größe des Gremiums und der Anzahl der bei der Beteiligten zu 1. Beschäftigten mindestens fünf Betriebsratsmitglieder freizustellen seien. Der Abschluss einer freiwilligen Betriebsvereinbarung gemäß § 38 Abs. 1 S. 5 BetrVG sei gescheitert. Mangels Regelung durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung sei auch eine Verringerung der Anzahl der frei zu stellenden Betriebsratsmitglieder nicht vorgesehen. Zudem sei der komplette Ausschluss der Freistellung selbst durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag nicht zulässig. Die Funktionsfähigkeit des Betriebsrates sei anderweitig nicht gewährleistet. Auch müsse der Betriebsrat bei Freistellung weniger Zeit mit der Frage der Erforderlichkeit der Tätigkeit aufwenden. Die während des Verfahrens endgültig erklärte Verweigerung des Beteiligten zu 2. bzw. sämtlicher Mitglieder des Beteiligten zu 2. stelle einen derart eklatanten Pflichtenverstoß dar, sodass die begehrte Auflösung des Gremiums im Sinne des § 23 Abs. 1 BetrVG die notwendige Folge sei. Die Pflichtverletzung wiege auch besonders schwer. Die Weigerung des Beteiligten zu 2. führe zu einer erheblichen Anzahl von Mehrarbeitsstunden der Betriebsratsmitglieder, da die Betriebsratsarbeit seit der Wahl ausschließlich außerhalb der eigentlichen Arbeitszeit der Betriebsratsmitglieder – die aufgrund deren Tätigkeit als Zusteller weitgehend in der Nachtzeit liege – durchgeführt würde. Der Abbau dieser Stunden durch Freizeitausgleich störe den betrieblichen Ablauf der Beteiligten zu 1. erheblich. Zum anderen würden im Falle der Auszahlung der Mehrarbeitsstunden die Betriebsratsmitglieder gegenüber den übrigen Beschäftigten finanziell bevorzugt, da diese keine Möglichkeit hätten, ihr Einkommen durch entsprechende Mehrarbeit zu erhöhen. Neben einem Verstoß gegen § 38 BetrVG liege daher auch ein Verstoß gegen § 78 BetrVG vor.
Die Beteiligte zu 1. beantragt daher zuletzt:
Der Beteiligte zu 2. wird wegen Verletzung seiner Mitwirkungspflichten aus § 38 BetrVG, insbesondere der Verpflichtung zur Bekanntgabe der gewählten, freizustellenden Betriebsratsmitglieder nach § 38 Abs. 2 Satz 3 BetrVG, aufgelöst.
Hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 1:
Sämtliche Mitglieder des Beteiligten zu 2. werden mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt als Betriebsrat enthoben.
Der Beteiligte zu 2. beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Dem Beteiligten zu 2. sowie seinen Mitgliedern sei kein Pflichtverstoß vorzuwerfen. Durch die Struktur der Zustellung in Stammzustellerbezirken, überwiegender Teilzeitbeschäftigung der Betriebsratsmitglieder und einer Zustellung in den Nachtstunden sei es immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den Beteiligten über die Durchführung der Betriebsratsarbeit gekommen. Ein Problem dabei sei, dass Zusteller häufig in zusätzlichen Bezirken tätig seien, wofür hinsichtlich der Vergütung für diese Zusatztätigkeit im Falle einer Freistellung in der angedachten Betriebsvereinbarung zur Freistellung (vgl. Anlage B1) jedoch keine zufriedenstellende Lösung gefunden worden sei. Aus diesem Grunde sei eine Schlechterstellung der freigestellten Betriebsräte zu befürchten, was dazu geführt habe, dass kein Betriebsratsmitglied bei der Freistellungswahl kandidieren wollte. Die Kandidatur zur Freistellung setze jedoch ebenso wie die Freistellung selbst das Einverständnis des vorgeschlagenen Betriebsratsmitglieds voraus. Da sich kein Mitglied zur Wahl gestellt habe, könne in der Nichtdurchführung der Wahl kein Pflichtenverstoß des Gremiums im Sinne des § 23 BetrVG gesehen werden. Zudem könne von den Regelungen des § 38 Abs. 1 BetrVG durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung abgewichen werden, sodass die Anzahl der Freistellungen abänderbar sei. Durch die nicht erfolgte Freistellungswahl sei auch die Betriebsratsarbeit nicht beeinträchtigt. Hinsichtlich der weiteren seitens der Beteiligten zu 1. vorgetragenen Gründe sei darauf hinzuweisen, dass Überstundenvergütung nur gezahlt werden müsse, sofern die Beteiligte zu 1. die Betriebsratsmitglieder nicht freistelle. Zudem würden sich viele Probleme, die derzeit zwischen den Beteiligten bestünden, durch die Freistellung nicht lösen, zum Beispiel hinsichtlich Vergütung, Fahrtkosten, Frage der Mitteilungspflicht über den Inhalt der Betriebsratstätigkeit usw..
Hinsichtlich des weiteren Sachvortrags der Beteiligten und der erteilten Hinweise des Gerichts wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Sitzungsprotokolle vom 27.05.2019 und 14.11.2019 Bezug genommen. Die Kammer hat keinen Beweis erhoben.
II.
1. Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen im Beschlussverfahren ist eröffnet und das Arbeitsgericht Nürnberg örtlich zuständig (§§ 2a Abs. 1 Nr. 1, 80 ff, 82 Abs. 1 ArbGG).
Die Anträge der Beteiligten zu 1. sind zulässig. Insbesondere sind diese ausreichend bestimmt.
2. Der auf die Auflösung des Beteiligten zu 2. gerichtete Hauptantrag der Beteiligten zu 1. ist jedoch nicht begründet.
Nach § 23 Abs. 1 BetrVG können mindestens ein Viertel der wahlberechtigten Arbeitnehmer, der Arbeitgeber oder eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft beim Arbeitsgericht den Ausschluss eines Mitglieds aus dem Betriebsrat oder die Auflösung des Betriebsrats wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten beantragen. Eine grobe Verletzung der gesetzlichen Pflichten des Betriebsrats im Sinne von § 23 Abs. 1 BetrVG liegt jedoch nur vor, wenn die Pflichtverletzung objektiv erheblich und offensichtlich schwerwiegend ist. Danach kann eine grobe Verletzung der gesetzlichen Pflichten nur angenommen werden, wenn unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die weitere Amtsausübung des Betriebsrats untragbar erscheint (vgl. BAG vom 22.06.1993 – 1 ABR 62/92).
Die Tatsache, dass der Beteiligte zu 2. trotz Aufforderung durch die Beteiligte zu 1. keine nach § 38 Abs. 1 BetrVG freizustellenden Mitglieder bestimmt hat, stellt keinen schweren Pflichtenverstoß dar, der nach § 23 Abs. 1 BetrVG die Auflösung des Beteiligten zu 2. rechtfertigen könnte.
a) Nach § 38 Abs. 1 BetrVG sind in Betrieben, in denen wie bei der Beteiligten zu 1. in der Regel 2.001 bis 3.000 Arbeitnehmern beschäftigt sind, fünf Betriebsratsmitglieder freizustellen. Mit § 38 BetrVG wird dem Betriebsrat der Anspruch eingeräumt, einer von der Größe des Betriebes abhängigen Anzahl von Betriebsratsmitgliedern die Möglichkeit zu geben, sich ausschließlich den Aufgaben des Betriebsrats zu widmen und von betrieblichen Tätigkeiten freigestellt zu werden. Der Begriff der Freistellung von der beruflichen Tätigkeit im Sinn des § 38 Abs. 1 BetrVG meint die Befreiung von der beruflichen Tätigkeit, damit das Betriebsratsmitglied die Möglichkeit erhält, sich der Betriebsratsarbeit zu widmen. Die Vorschrift ergänzt § 37 Abs. 2 BetrVG, indem unwiderleglich vermutet wird, dass die Freistellung der in § 38 Abs. 1 BetrVG genannten Anzahl von Betriebsratsmitgliedern erforderlich ist, ohne dass es eines besonderen Nachweises bedarf. Die Anzahl und die Modalitäten der Freistellung können aber abweichend durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung verändert werden (vgl. u.a. BeckOK ArbR, BetrVG § 38 Rn. 1 ff, Richardi BetrVG/Thüsing, 16. Auflage 2018, BetrVG § 38 Rn. 5, beckonline).
Die Freistellung eines Betriebsratsmitgliedes von der Arbeit nach § 38 BetrVG setzt dabei sein Einverständnis voraus. Dementsprechend hängt es vom Willen jedes einzelnen Mitglieds des Betriebsrates ab, ob es sich freistellen lässt oder nicht. Gegen seinen Willen kann kein Betriebsratsmitglied wirksam freigestellt werden. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass jedes Betriebsratsmitglied in der Regel bereit sein wird, sich von der Arbeit freistellen zu lassen. Insbesondere Gründe der eigenen beruflichen Entwicklung können es einem Betriebsratsmitglied angeraten sein lassen, sich nicht nach § 38 BetrVG völlig von der Arbeit freistellen zu lassen, sondern zur Erledigung auf ihn entfallender Betriebsratstätigkeit nur jeweils im erforderlichen Umfang Arbeitsbefreiung nach § 37 Abs. 2 BetrVG in Anspruch zu nehmen. Dies kann zur Folge haben, dass weniger Betriebsratsmitglieder bereit sind, sich gemäß § 38 BetrVG freistellen zu lassen. In diesem Fall kommt es dann insgesamt zu einer geringeren Freistellung als nach dem Gesetz vorgesehen (vgl. BAG vom 11.03.1992 – 7 ABR 50/91, Richardi/Thüsung a.a.O. Rn. 33, jeweils mit weiteren Nachweisen).
b) Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen ist eine Pflichtverletzung des Beteiligten zu 2. nach Auffassung der Kammer nicht zu erkennen. Nach dem nicht bestrittenen Vortrag des Beteiligten zu 2. hat dieser über die Durchführung einer Freistellungswahl beraten, mangels Kandidaten dann jedoch von der Durchführung der Wahl abgesehen. Da die Freistellung wie oben dargestellt nur mit dem Willen des betreffenden Betriebsratsmitglieds erfolgen darf, kann darin kein Pflichtverstoß des Beteiligten zu 2. liegen.
Hierbei ist auch der Zweck des § 38 BetrVG zu beachten, durch den in Ergänzung zu § 37 Abs. 2 BetrVG ab einer bestimmten Betriebsgröße zum Schutz des Betriebsrates Streit über die Erforderlichkeit der Arbeitsbefreiung zum Zwecke der Betriebsratsarbeit im Einzelfall vermieden werden soll. Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck dieser Regelung hingegen ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit dieser gesetzlichen Regelung (auch) den Arbeitgeber vor organisatorischem Aufwand schützen wollte. Nach Auffassung der Kammer kann daher der Arbeitgeber aus § 38 Abs. 1 BetrVG keinen Anspruch auf die Durchführung der Freistellungswahl ableiten.
c) In Betracht käme eine Pflichtverletzung des Beteiligten zu 2. allenfalls dann, wenn dieser wegen der Nichtdurchführung der Freistellung seine gesetzlichen Aufgaben als Betriebsrat nicht ausüben würde. Diesbezüglich hat die Beteiligte zu 1. jedoch keinerlei Anhaltspunkte vorgetragen. Dem Gericht oblag es nicht, hierzu weitere Nachforschungen ins Blaue hinein zu tätigen.
d) Hinsichtlich der seitens der Beteiligten zu 1. behaupteten Pflichtverletzung des Beteiligten zu 2. aufgrund der nach § 78 S. 2 BetrVG untersagten finanziellen Besserstellung der Betriebsratsmitglieder durch die Vergütung von Mehrarbeit für außerhalb der Arbeitszeit geleisteten Betriebsratstätigkeit ist anzumerken, dass der Arbeitgeber die Betriebsräte für die von diesen außerhalb deren Arbeitszeit geleisteten (erforderlichen) Stunden nach § 37 Abs. 3 BetrVG freizustellen hat. Er hat es hierbei im Rahmen seines Direktionsrechtes in der Hand, diese Freistellung entsprechend der betrieblichen Erfordernisse zu gestalten. So kann beispielsweise die Freistellung auch im Block erfolgen, sich an Urlaubszeiten der betreffenden Betriebsratsmitglieder anschließen o.ä.. Hierdurch würden der Beteiligten zu 1. dann auch nicht die von ihr gerügten Mehrkosten durch Überstundenzuschläge entstehen, wodurch wiederum die von ihr behauptete Besserstellung der Betriebsratsmitglieder in finanzieller Hinsicht entfiele. Sofern die Beteiligte zu 1. den Ausgleich für die außerhalb der Arbeitszeit geleistete Betriebsratsarbeit nicht in Natur gewährt, sondern diese als Mehrarbeit vergütet, kann dies nicht dem Beteiligten zu 2. oder dessen Mitgliedern vorgeworfen werden. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist daher eine Pflichtverletzung des Beteiligten zu 2. nicht zu erkennen.
Mangels Vorliegens einer Pflichtverletzung sind die Voraussetzungen für die Auflösung des Beteiligten zu 2. nach § 23 Abs. 1 BetrVG nicht gegeben. Der Hauptantrag der Beteiligten zu 1. war daher abzuweisen.
3. Hinsichtlich des Hilfsantrages, der aufgrund des Unterliegens der Beteiligten zu 1. mit dem Hauptantrag zur Entscheidung anstand, ist vollumfänglich auf die oben genannten Ausführungen Bezug genommen. Da kein Betriebsratsmitglied verpflichtet ist, sich innerhalb des Betriebsrats auch für weitere Ämter zur Verfügung zu stellen und auch ein Verstoß gegen § 78 S. 2 BetrVG nicht erkennbar ist, liegt keine Pflichtverletzung der einzelnen Betriebsratsmitglieder i.S.d. § 23 Abs. 1 BetrVG vor. Der Antrag der Beteiligten zu 1., sämtliche Mitglieder des Beteiligten zu 2. von ihrem Amt als Betriebsrat zu entheben, ist daher unbegründet. Sowohl der Haupt- als auch der Hilfsantrag waren daher abzuweisen.