Aktenzeichen S 3 R 135/16
SGB X SGB X § 27, § 85
SGB I SGB I § 14, § 15
SGB VI SGB VI § 115 Abs. 6
VAHRG VAHRG § 4
Leitsatz
1. Zur Auskunfts- und Beratungspflicht des Rentenversicherungsträgers in Bezug auf § 37 VersAusglG (Anpassung wegen Tod der ausgleichsberechtigten Person), wenn der geschiedene Ehegatte bei Inkrafttreten des VersAusglG am 1.9.2009 bereits verstorben war. (amtlicher Leitsatz)
2 Nach dem Grundsatz der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen gelten diese mit ihrer Verkündung im BGBl. als allen Normadressaten bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann diese tatsächlich davon Kenntnis erhalten haben (ebenso BSG BeckRS 9999, 00631); daher kann ein Versicherter nicht im Wege einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X so gestellt werden, als habe er einen Antrag früher gestellt. (redaktioneller Leitsatz)
3 Ein konkreter Anlass für eine spontane Beratung des Versicherungsträgers kann im Rahmen der Massenverwaltung nur dann entstehen, wenn sich ein Sachbearbeiter persönlich mit dem Versicherungs- oder Leistungsverhältnis des betreffenden Versicherten befassen muss (ebenso BSG BeckRS 1997, 30004411). (redaktioneller Leitsatz)
4 § 115 Abs. 6 SGB VI sieht eine Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers nur dann vor, wenn sich der Anlass hierfür bereits aus dem eigenen Datenbestand ergibt (ebenso LSG NRW BeckRS 2013, 71529). (redaktioneller Leitsatz)
5 § 86 SGB X gibt dem Einzelnen kein subjektives Recht, die dort genannte Zusammenarbeit geltend zu machen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Denn die Bescheide der Beklagten vom 06.02.2015 und 15.06.2015 (§ 86 SGG), beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2016, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat zutreffend entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung seiner Rente unter Einbeziehung der ursprünglich an die Ausgleichsberechtigte übertragenen Rentenanwartschaften bereits ab dem 01.09.2009 hat.
a) Nach § 37 Abs. 1 und 2 VersAusglG wird ein Anrecht der ausgleichspflichtigen Person auf Antrag nicht länger aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt, wenn die ausgleichsberechtigte Person die Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht nicht länger als 36 Monate bezogen hat.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die geschiedene Ehefrau bezog vor ihrem Tod keinerlei Rentenleistungen.
Nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG wirkt die Anpassung ab dem ersten Tag des Folgemonats der Antragstellung. Ausgehend von der Antragstellung beim Beratungsgespräch im Januar 2015 konnte der Kläger die Anpassung ab dem 01.02.2015 verlangen, was im Bescheid vom 06.02.2015 so auch geschehen ist.
b) Der Kläger kann nicht im Wege einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X so gestellt werden, als habe er einen Antrag nach §§ 37, 38 Abs. 2, 34 Abs. 3 VersAusglG früher gestellt. Denn die Voraussetzungen des § 27 SGB X liegen nicht vor. Zum einen hat der Kläger keine Ausschlussfrist versäumt, zum anderen war er auch nicht ohne sein Verschulden an einer früheren Antragstellung gehindert. Denn nach dem Grundsatz der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen gelten diese mit ihrer Verkündung im Bundesgesetzblatt als allen Normadressaten bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann diese tatsächlich davon Kenntnis erhalten haben (Bundessozialgericht – BSG, Urteil vom 14.11.2002, Az. B 13 RJ 39/01 R).
c) Der Kläger ist auch nicht im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe er den Antrag auf Anpassung nach § 37 VersAusglG bereits zu einem früheren Zeitpunkt gestellt.
Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung, verletzt hat, dass dem Betroffenen ein Nachteil entstanden ist und dass zwischen der Pflichtverletzung und dem Nachteil ein ursprünglicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können.
aa) Die Beklagte hat ihre Beratungspflicht nach § 14 SGB I gegenüber dem Kläger nicht verletzt. Ein konkretes Beratungsbegehren des Klägers über die Rechtslage ab 01.09.2009 vor dem 21.01.2015 ist nicht ersichtlich und wird von Klägerseite auch nicht behauptet.
bb) Der Versicherungsträger ist jedoch auch dann, wenn der Versicherte wie hier nicht ausdrücklich eine Beratung verlangt, gehalten, den Versicherten bei Vorliegen eines konkreten Anlasses von sich aus spontan auf klar zu Tage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die ein verständiger Versicherter mutmaßlich nutzen würde, um sozialrechtliche Nachteile zu vermeiden (vgl. BSG, Urteil vom 09.12.1997, Az. 8 RKn 1/97 m.w.N.) Ein konkreter Anlass für eine spontane Beratung des Versicherungsträgers kann im Rahmen der Massenverwaltung aber nur dann entstehen, wenn sich ein Sachbearbeiter persönlich mit dem Versicherungs- oder Leistungsverhältnis des betreffenden Versicherten befassen muss (BSG, a.a.O.). Ein solcher Bearbeitungsvorgang mit persönlicher Sachbearbeitung ist seit der Einführung des Versorgungsausgleichsgesetzes bis zur Antragstellung im Januar 2015 weder aus der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten noch aus den zu seinem Rentenkonto gespeicherten Daten erkennbar. Nach den glaubhaften Recherchen der Beklagten hat sich die Einheitsakte des Klägers vielmehr zuletzt am 16.07.2007 im Geschäftsgang der Beklagten befunden.
cc) Eine Beratungspflicht der Beklagten ergibt sich auch nicht aus § 115 Abs. 6 SGB VI, der eine gesonderte Ausprägung der in §§ 14,15 SGB I genannten allgemeinen Beratungs- und Auskunftspflicht darstellt. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Der Grund für die Hinweispflicht liegt nicht in der konkreten Kenntnis der Umstände durch den Rentenversicherungsträger aus konkretem Anlass, sondern in der Möglichkeit, auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten für den Versicherten in typischen Fallkonstellationen aufgrund der bei ihm gespeicherten Daten hinzuweisen. Daraus ergibt sich, dass für die Versicherungsträger aufgrund von § 115 Abs. 6 SGB VI nur dann eine Hinweispflicht bestehen kann, wenn die maßgeblichen Daten in dem bei ihnen vorhandenen Datenbestand gespeichert und abrufbar sind (Kasseler Kommentar, SGB VI, § 115, Rn. 23 m.w.N.).
(1) Vorliegend hat der Kläger bei Beantragung der Altersrente angegeben, dass er geschieden ist und seine geschiedene Ehefrau bei Beantragung seiner Altersrente bereits verstorben war. Dagegen ist in seinem Rentenkonto nicht gespeichert, dass seine verstorbene geschiedene Ehefrau die Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht nicht länger als 36 Monate, nämlich überhaupt nicht, bezogen hat.
Die im Widerspruchsverfahren vorgetragene Behauptung der Klägerseite, die Tochter des Klägers habe feststellen können, dass im Datenbestand des Klägers bei der Beklagten bereits vermerkt gewesen sei, dass die ehemalige Ehefrau keine drei Jahre Leistungen vor ihrem Tod bezogen hatte, ließ sich im Gerichtsverfahren nicht bestätigen.
Zwar ist es im Bereich Auskunft und Beratung, der allen Versicherten der Rentenversicherungsträger eine Beratungsmöglichkeit bietet, möglich, auch Versicherungskonten einzusehen, die bei einem anderen Versicherungsträger geführt werden. Deshalb konnte die Beraterin im Januar 2015 wohl auch den Töchtern des Klägers sofort eine Antragstellung nach § 37 VersAusglG empfehlen. Außerhalb der konkreten Beratungssituation ist jedoch ein solcher Zugriff durch die Beklagte auf Versicherungskonten eines anderen Trägers nicht möglich.
Auch aus dem von der Beklagten abrufbaren Stammsatz der geschiedenen Ehefrau bei der DRV Bund (s. Bl. 107 der Gerichtsakte) ergibt sich nicht, ob bzw. wie lange diese eine Rente vor ihrem Ableben bezogen hat. Damit sind die maßgeblichen Daten für eine Hinweispflicht nach § 115 Abs. 6 SGB VI auf eine Antragstellung nach § 37 VersAusglG gerade nicht im vorhandenen Datenbestand der Beklagten gespeichert und abrufbar.
(2) Es bestand in der Vergangenheit für die Beklagte auch keine Veranlassung, im Rentenkonto des Klägers einen etwaigen Rentenbezug der Ausgleichsberechtigten und dessen Dauer zu speichern, denn der zeitliche Umfang des Rentenbezugs der ausgleichsberechtigten Person war für die Frage ob die Rentenleistung des Ausgleichsverpflichteten ungekürzt geleistet werden konnte, unerheblich. Nach § 4 VAHRG war für eine ungekürzte Rentenleistung des Ausgleichspflichtigen nicht allein entscheidend, ob der Ausgleichsberechtigte Leistungen aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht bezogen hat, sondern – anders als seit 01.09.2009 in § 37 VersAusglG geregelt – ob und in welchem Umfang überhaupt aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht Leistungen gewährt worden sind. Da C. eine Halbwaisenrente aus dem Versicherungskonto der geschiedenen Ehefrau des Klägers seit 1993 bezog, lagen die Voraussetzungen des § 4 VAHRG für den Kläger nie vor.
(3) Auch im Zuge der Einführung des Versorgungsausgleichsgesetzes im Jahr 2009 hat für die Beklagte keine Verpflichtung bestanden, in ihrem Bestand nach Versicherten zu suchen, die aufgrund eines Versorgungsausgleichs an ihren – inzwischen verstorbenen – geschiedenen Ehepartner Versorgungspunkte übertragen hatten, um anschließend – technisch wohl mögliche – Querverbindungen zu oder Anfragen an deren Versicherungskonten zu erstellen, um herauszufinden, ob die Ausgleichsberechtigten längstens 36 Monate eine Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht bezogen hatten.
Eine solche Abfrage oder Querverbindung ist nicht von § 115 Abs. 6 SGB VI erfasst, der, wie bereits ausgeführt, eine Hinweispflicht des Rentenversicherungsträgers nur dann vorsieht, wenn sich der Anlass hierfür – anders als vorliegend – bereits aus dem eigenen Datenbestand ergibt (vgl. Landessozialgericht – LSG Nordrheinwestfalen, Urteil vom 07.01.2013, Az. L 3 R 274/12).
Würde man eine derartige quasi gestufte Recherche- und Hinweispflicht aus § 115 Abs. 6 SGB VI ableiten können, so würde dies zum einen das Antragserfordernis des § 34 Abs. 3 VersAusglG unterlaufen, zum anderen aber auch den allgemein anerkannten Grundsatz der Publizität von Gesetzen (siehe oben) konterkarieren. Denn entgegen deren Intention könnten die Betroffenen so die Verantwortung, sich rechtzeitig um eigene Vergünstigungen zu bemühen, in vielen Fällen an die Verwaltung über den Umweg des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zurückgeben.
dd) Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch auf rückwirkende Anpassung der klägerischen Rente nach § 37 VersAusglG ergibt sich auch nicht aus einer etwaigen Pflichtverletzung der DRV Bund, die der Beklagten zurechenbar wäre.
(1) Die Zurechnung der Pflichtverletzung eines anderen Leistungsträgers im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kommt in Betracht, wenn zwischen zwei Leistungsträgern eine Funktionseinheit in der Weise besteht, dass ein Leistungsträger in den Verwaltungsablauf desjenigen Leistungsträgers arbeitsteilig eingeschaltet ist, gegen den sich der Anspruch richtet, dieser sich also für die Erfüllung der ihm obliegenden sozialrechtlichen Aufgabe kraft Gesetzes oder Vertrags jenes Leistungsträgers bedient (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24.01.2012, Az. L 18 (13) R 187/09).
Eine solche Funktionseinheit bzw. ein derartiges Sichbedienen der DRV Bund durch die Beklagte kann nicht allein darin gesehen werden, dass die Höhe der von der Beklagten an den Kläger zu zahlenden Rente von in einem Versicherungskonto der DRV Bund gespeicherten Daten abhängt. Dies stellt kein arbeitsteiliges Vorgehen der Rentenversicherungsträger dar.
(2) Im Übrigen ist der DRV Bund auch keine Verletzung von Mitteilungs- oder Hinweispflichten vorzuwerfen. Insbesondere war nach Versterben der geschiedenen Ehefrau des Klägers im Jahr 1993 eine Mitteilung von deren Rentenbezugsdauer nicht angezeigt, denn unter der Geltung des § 4 VAHRG bis zum Jahr 2009 war die Kürzung der Rente bzw. Rentenanwartschaft des Klägers ja zutreffend, weil C. eine Halbwaisenrente aus dem Versicherungskonto der Ausgleichsberechtigten bei der DRV Bund bezog.
(3) Auch bei oder nach der Einführung des § 37 VersAusglG mit der nunmehr für den Kläger günstigeren Regelung lag es für die DRV Bund nicht auf der Hand, Mitteilungen oder Hinweise bezüglich der Rentenbezugsdauer der ausgleichsberechtigten Person an die Beklagte oder den Kläger abzugeben. Die Ausgleichsberechtigte war bereits seit über 16 Jahren verstorben. Ein Kontakt zwischen der DRV Bund und dem Kläger, der nicht ihr Versicherter ist, hat zu keinem Zeitpunkt bestanden. Ein Tätigwerden der DRV Bund hinsichtlich der Anpassung einer etwaigen Rente des Klägers nach § 37 VersAusglG konnte sich den Sachbearbeitern der DRV Bund nicht aufdrängen, da diese das Versicherungskonto der geschiedenen Ehefrau des Klägers nach 2009 lediglich zu dem Zwecke aufriefen, um die Halbwaisenrente von C. der Höhe nach neu zu berechnen. Eine Hinweispflicht der DRV Bund nach § 115 Abs. 6 SGB VI bestand nicht: Der Kläger ist nicht deren Versicherter; bei der DRV Bund war bzw. ist nicht einmal gespeichert, ob er noch am Leben ist bzw. eine Rente bezieht.
ee) Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass sich ein Herstellungsanspruch des Klägers auch nicht aus § 86 SGB X ergibt, wonach die Leistungsträger verpflichtet sind, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben eng zusammenzuarbeiten. Denn diese Pflicht dient zwar auch den Interessen der Versicherten, jedoch gibt ihnen § 86 SGB X kein subjektives Recht, diese Zusammenarbeit geltend zu machen (Hauck/Noftz, Kommentar, SGB X, § 86, Rn. 13 m.w.N.).
Nach alledem hat der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung seiner Rente unter Einbeziehung der ursprünglich an seine geschiedene Ehefrau übertragenen Rentenanwartschaften bereits ab dem 01.09.2009. Der Klage war deshalb der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.