Aktenzeichen 12 K 2052/15
Leitsatz
1. Für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweig der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist.
2. Zum sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 gehört auch der Zweig der sozialen Sicherheit betreffend Leistungen bei Krankheit.
3. Der Beweisantrag, den Vorstand eines Krankenversicherungsunternehmens als Zeugen für das Bestehen von gesetzlichem Krankenversicherungsschutz zu vernehmen, ist unsubstantiiert, wenn in keiner Weise angegeben wird, welche Tatsachen der Vorstand wissen kann, die zu dem Schluss berechtigen, dass die Klägerin bei dieser Gesellschaft gesetzlich krankenversichert war.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
II.
Die Klage ist unbegründet.
1. Für die Zeit von Januar 2008 bis April 2010 hat die Klägerin keinen Anspruch auf Kindergeld, denn der Kindergeldanspruch der Klägerin ist nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) ausgeschlossen. Nach dieser Norm wird Kindergeld „nicht für ein Kind gezahlt, für das eine der folgenden Leistungen zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre: […] Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter Nummer 1 genannten Leistungen vergleichbar sind“.
a) Die nationale Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG kommt nicht zur Anwendung, soweit sie durch überstaatliches Recht der Europäischen Union (EU) überlagert wird, das Anwendungsvorrang genießt (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 65 EStG, Rz. 9 [Okt. 2014]). Für den Zeitraum von Januar 2008 bis April 2010 wird die Anwendung von § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG im Streitfall nicht ausgeschlossen.
b) Für den im Streitfall maßgeblichen Zeitraum von Januar 2008 bis April 2010 bestimmt sich die Konkurrenz von Ansprüchen auf kindbezogene Leistungen nach den Regelungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (ABl. EG 1971 Nr. L 149, 1 ) und der Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. EG 1972 Nr. L 74, 1 ) (Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 65 EStG, Rz. 9 [Okt. 2014]; Avvento in Kirchhof, EStG, 16. Aufl. 2017, § 65 EStG, Rz. 4).
c) Für die Klägerin ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet.
aa) Den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 regelt Art. 2 i.V.m. Art. 1 VO Nr. 1408/71. Für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 (Arbeitnehmer oder Selbständiger) in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist (vgl. BFH-Urteil vom 5. Juli 2012 III R 76/10, BFHE 238, 87, BStBl II 2013, 1033). Zum sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung gehört auch der Zweig der sozialen Sicherheit betreffend Leistungen bei Krankheit (Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71). Gemäß Art. 5 der VO Nr. 1408/71 geben die Mitgliedstaaten in Erklärungen u.a. die Rechtsvorschriften und Systeme an, die unter Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung fallen. Nach der Erklärung Deutschlands werden vom sachlichen Geltungsbereich des Art. 4 Abs. 1 die Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung, insbesondere die des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) erfasst (vgl. die Erklärung in ABlEU 2003 Nr. C 210, S. 1 f.). Maßgeblich ist nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit, sondern der Versichertenstatus (BFH-Urteil vom 16. Juli 2015 III R 39/13, BFHE 251, 154, BFH/NV 2016, 277).
bb) Nach den Angaben der Klägerin vom 15. August 2012 war sie aufgrund ihrer Selbständigkeit von der Rentenversicherung befreit (KG-Akte Bl 29); Angaben, aus denen auf eine Sozialversicherung der Klägerin geschlossen werden kann, sind den Akten nicht zu entnehmen.
cc) Die Klägerin hat auch nicht bewiesen, dass sie im streitigen Zeitraum der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht unterlag.
Die Klägerin gehört nach ihrem eigenen Vortrag nicht zu den nach § 5 Sozialgesetz Fünftes Buch (SGB V) Personen, die der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenkasse unterliegen; insbesondere ist die Klägerin ja in der Zeit von Januar 2008 bis April 2010 keine Person, die nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V als Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt ist. Im Übrigen wäre die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in diesem Fall auch gem. § 5 Abs. 5 Satz 1 SGB V ausgeschlossen, da ausweislich der Einkommensteuerbescheide die Klägerin im streitigen Zeitraum hauptberuflich selbständig erwerbstätig war. Außerdem ist sie als EU-Bürgerin auch keine Person i.S. des § 5 Abs. 11 SGB V.
Einen Beweis dafür, dass die Klägerin aufgrund anderer Vorschriften der Krankenversicherungspflicht im streitigen Zeitraum unterlag, hat die sie, obwohl sie dazu mit richterlicher Anordnung vom 28. August 2017 aufgefordert wurde, nicht angetreten.
Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Danach ist es grundsätzlich Aufgabe des Gerichts, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung zu ermitteln (BFH-Beschluss vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207). Diese Verpflichtung des Finanzgerichts (FG) zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedeutet nicht, dass jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen ist. Wohl aber muss das FG die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne ausdrücklichen Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Beweise erheben. Die Sachaufklärungspflicht des FG kann allerdings nicht losgelöst von den Mitwirkungspflichten der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) gesehen werden. Vielmehr begrenzt die Mitwirkungspflicht der Beteiligten die Amtsermittlungspflicht des Gerichts nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO, wobei dem Gedanken der Beweisnähe besondere Bedeutung zukommt (BFH-Urteil vom 30. Juli 2003 X R 28/99, BFH/NV 2004, 201; BFH-Beschlüsse vom 5. Dezember 2006 VIII B 4/06, BFH/NV 2007, 490; vom 21. Juli 2017 X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447). Je weniger die Beteiligten ihrer Mitwirkungspflicht aus § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO nachkommen, umso weniger ist das FG grundsätzlich zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet (BFH-Beschluss vom 6. Mai 2005 XI B 239/03, BFH/NV 2005, 1605).
Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will (BFH-Urteil vom 17. Mai 2017 II R 35/15, BFHE 258, 95, BStBl II 2017, 966; BFH-Beschluss vom 21. Dezember 2005 I B 249/04, BFH/NV 2006, 780). Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel unerreichbar ist oder wenn das Beweismittel unzulässig oder absolut untauglich ist (ständige Rechtsprechung; z.B. BFH-Urteil vom 16. November 2005 VI R 71/99, BFH/NV 2006, 753). Ferner ist das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen nachzugehen (z.B. BFH-Urteil in BFHE 258, 95, BStBl II 2017, 966; BFH-Beschluss vom 1. Dezember 2015 X B 29/15, BFH/NV 2016, 395). Unsubstantiiert ist z.B. ein Beweisantrag, der keine beweisbedürftigen Tatsachen benennt (BFH-Beschlüsse vom 1. März 2016 V B 44/15, BFH/NV 2016, 934; vom 27. Juli 2016 V B 4/16, BFH/NV 2016, 1740), nicht erkennen lässt, welche entscheidungserheblichen Tatsachen bezeugt werden sollen (BFH-Beschluss vom 21. April 2004 XI B 229/02, BFH/NV 2004, 980) oder die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann (BFH-Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B 118/04, BFHE 216, 409, BStBl II 2007, 538), der das voraussichtliche Ergebnis der Beweisaufnahme in Bezug auf einzelne konkrete Tatsachen nicht genau angibt (BFH-Beschlüsse vom 7. Juli 2016 III B 39/16, BFH/NV 2016, 1731; vom 12. Dezember 2007 I B 134/07, BFH/NV 2008, 736; vom 21. November 2002 VII B 58/02, BFH/NV 2003, 485) oder so unbestimmt ist, dass im Grunde erst die Beweiserhebung selbst die entscheidungserheblichen Tatsachen und Behauptungen aufdecken kann und es sich deshalb um einen Beweisermittlungs- oder -ausforschungsantrag handelt (BFH-Beschlüsse vom 2. März 2006 XI B 79/05, BFH/NV 2006, 1132; vom 12. März 2014 XI B 97/13, BFH/NV 2014, 1062).
In welchem Maße eine solche Substantiierung zu fordern ist, hängt von der im Einzelfall bestehenden Mitwirkungspflicht des Beteiligten ab. Dabei stehen der zumutbare Inhalt und die Intensität der richterlichen Ermittlungen notwendigerweise im Zusammenhang mit dem Vorbringen der Beteiligten, die gemäß § 76 Abs. 1 Sätze 2 und 3 FGO eine Pflicht zur Förderung des finanzgerichtlichen Verfahrens haben. Zu berücksichtigen ist deshalb auch, ob die Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll, dem Wissens- und Einflussbereich des Beteiligten (Beweisführers) zuzurechnen sind, der die Verletzung der Sachaufklärungspflicht rügt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 7. November 2012 I B 172/11, BFH/NV 2013, 561; vom 26. Juli 2016 III B 148/15, BFH/NV 2016, 1486).
Nach diesem Maßstab war der Beweisantrag der Klägerin, den Vorstand der K-AG als Zeugen für ihre Krankenversicherungspflicht zu vernehmen, unsubstantiiert und wird vom FG abgelehnt. Die Klägerin hat in keiner Weise angegeben, welche Tatsachen der Vorstand wissen kann, die zu dem Schluss berechtigen, dass die Klägerin bei dieser Gesellschaft gesetzlich krankenversichert war. Es wäre aber für die Klägerin ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen, durch eine entsprechende Anfrage bei ihrer Krankenversicherung die entsprechenden Nachweise zu beschaffen.
d) Da ausweislich der Angaben im Vordruck E 411 für A polnische Familienleistungen in der Zeit von Januar 2008 bis Oktober 2010 dem Vater gewährt wurden (KG-Akte Bl 90), ist der Kindergeldanspruch der Klägerin nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG für die Zeit von Januar 2008 bis April 2010 ausgeschlossen. Dafür, dass der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen wird (vgl. BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040), wurde von der Klägerin trotz entsprechenden Hinweises der Familienkasse (Schriftsatz vom 19. Mai 2016) und der Aufforderung des Gerichts, dazu Stellung zu nehmen (Verfügung vom 24. Mai 2015; FG-Akte Bl 232) nichts weiter vorgetragen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.