Arbeitsrecht

Berechnung des Zugangsfaktors bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters aus der gesetzlichen Rentenversicherung – Verfassungsmäßigkeit

Aktenzeichen  B 5 R 2/19 R

Datum:
17.6.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2020:170620UB5R219R0
Normen:
§ 34 Abs 4 SGB 6
§ 36 SGB 6
§ 77 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 6
§ 77 Abs 2 S 1 Nr 2 Buchst a SGB 6
§ 236 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB 6
§ 236 Abs 1 S 2 SGB 6
§ 236 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB 6
§ 236 Abs 3 Nr 2 Buchst a SGB 6
§ 236b SGB 6
Art 3 Abs 1 GG
Art 14 Abs 1 S 1 GG
Art 14 Abs 1 S 2 GG
Spruchkörper:
5. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Mannheim, 18. Mai 2017, Az: S 16 R 66/15, Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 22. März 2018, Az: L 7 R 2405/17, Urteil

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. März 2018 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt eine Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 1.9.2014 mit einem Zugangsfaktor von 0,964 (Rentenabschlag in Höhe von 3,6 %).
2
Der am 1952 geborene Kläger vereinbarte am 20.11.2006 mit seinem Arbeitgeber die Fortführung seines Arbeitsverhältnisses ab dem 1.9.2007 als Altersteilzeitarbeitsverhältnis. Die Arbeitsphase wurde für den Zeitraum vom 1.9.2007 bis zum 28.2.2011 und die Freistellungsphase für die Zeit vom 1.3.2011 bis zum 31.8.2014 festgesetzt.
3
Am 7.7.2014 stellte der Kläger bei der Beklagten den Antrag auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte und den Antrag auf Altersrente für langjährig Versicherte. Ausweislich eines Aktenvermerks teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte erst zum 1.9.2015 möglich sei. Der Kläger habe daraufhin mitgeteilt, die Beantragung dieser Rente habe sich für ihn damit erledigt. Er bitte um Bewilligung der Altersrente für langjährig Versicherte zum 1.9.2014.
4
Mit Bescheid vom 14.8.2014 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 1.9.2014. Hierbei legte sie einen wegen vorzeitiger Inanspruchnahme der Rente wegen Alters um insgesamt 0,108 verminderten Zugangsfaktor von 0,892 zugrunde. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12.12.2014 zurück.
5
Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, ausweislich seines Versicherungsverlaufs seien 564 Monate (47 Versicherungsjahre) mit Pflichtbeitragszeiten belegt, sodass die allgemeine Wartezeit von 45 Versicherungsjahren für eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte erfüllt sei. Mit der Einführung der Altersrente für besonders langjährig Versicherte durch das Rentenversicherungs(RV)-Leistungsverbesserungsgesetz und die damit verbundene abschlagsfreie Altersrente nach 45 Versicherungsjahren ab dem 63. Lebensjahr sei vom Gesetzgeber eine Regelung getroffen worden, die Versicherte gleichen Alters mit gleicher Lebensbeitragsleistung unterschiedlich behandle und einen Teil der Versicherten über das vertretbare Maß hinaus belaste. Versicherte, die nach Einführung des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes bei gleicher Beitragsleistung und Wartezeiterfüllung einen anderen Rentenanspruch hätten, seien nur so weit zu belasten, wie sie durch die anderen gesetzlichen Festlegungen der Rentenarten betroffen wären. Dieser Versichertenkreis dürfe daher nach dem bisherigen Modus von 0,3 % je Monat nur mit einem Rentenabschlag von 3,6 % anstatt der bisherigen 10,8 % belastet werden.
6
Mit Urteil vom 18.5.2017 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe die bewilligte Altersrente für langjährig Versicherte zutreffend unter Zugrundelegung eines um 0,003 geminderten Zugangsfaktors für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente berechnet. Bei der Ermittlung des Zugangsfaktors sei nicht auf die Altersgrenze der Rente für besonders langjährige Versicherte nach § 236b SGB VI abzustellen. Für das Ausmaß der Minderung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs 2 SGB VI bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente sei die normale Altersgrenze für die konkret in Anspruch genommene Rente maßgebend. Es liege auch keine Ungleichbehandlung von “Bestandsrentnern” und “Neurentnern” iS des Art 3 Abs 1 GG vor. Der Gesetzgeber sei berechtigt, zur Regelung bestimmter Sachverhalte Stichtage einzuführen.
7
Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 22.3.2018 zurückgewiesen. Gemäß § 236 Abs 2 Satz 3 Nr 1 SGB VI bestehe für Versicherte, die vor dem 1.1.1955 geboren seien und vor dem 1.1.2007 Altersteilzeitarbeit iS der §§ 2 und 3 Abs 1 Nr 1 des Altersteilzeitgesetzes (AltTZG) vereinbart hätten, mit Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Altersrente für langjährig Versicherte. Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Altersrente sei nach Vollendung des 63. Lebensjahres möglich (§ 236 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Nach der Übergangsregelung in § 236 Abs 3 SGB VI sei für Versicherte, die 1. nach dem 31.12.1947 geboren seien und 2. entweder a) vor dem 1.1.1955 geboren seien und vor dem 1.1.2007 Altersteilzeitarbeit iS der §§ 2 und 3 Abs 1 Nr 1 AltTZG vereinbart oder b) Anpassungsgeld für entlassene Arbeitnehmer des Bergbaus bezogen hätten, eine vorzeitige Inanspruchnahme bereits mit Vollendung des 62. Lebensjahres möglich, wenn sie in den Jahren 1950 bis 1963 geboren seien. Diese Voraussetzungen habe der 1952 geborene Kläger, der am 20.11.2006 mit seinem Arbeitgeber einen §§ 2 und 3 Abs 1 Nr 1 AltTZG entsprechenden Altersteilzeitvertrag geschlossen hat, erfüllt.
8
Nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI sei der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente gewesen seien, bei Renten wegen Alters, die vorzeitig in Anspruch genommen würden, für jeden Kalendermonat um 0,003 niedriger als 1,0. Unter Zugrundelegung dieser Regelungen habe die Beklagte die dem Kläger gewährte Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 1.9.2014 zutreffend berechnet und wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme einen um 0,108 geminderten Zugangsfaktor von 0,892 zugrunde gelegt. Das Begehren des Klägers, ihm eine Rente für langjährig Versicherte unter Zugrundelegung eines lediglich um 0,036 niedrigeren Zugangsfaktors zu gewähren, würde eine Altersgrenze von 63 Jahren für die Inanspruchnahme der Altersrente ohne Abschläge voraussetzen. Eine solche Altersgrenze sei jedoch nur für die Altersrente für besonders langjährig Versicherte gemäß § 236b SGB VI vorgesehen; der am 1952 geborene Kläger hätte diese Rente erst ab dem 1.9.2015 in Anspruch nehmen können. Eine vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente für besonders langjährig Versicherte sei nach der gesetzlichen Regelung nicht möglich. Es sei auch nicht möglich, bei der Berechnung des Abschlags für die Altersrente für langjährig Versicherte die Altersgrenze für die Altersrente für besonders langjährig Versicherte zugrunde zu legen. Berechnungselemente aus der einen Altersrentenart (frühestmöglicher Zeitpunkt der vorzeitigen Altersrente für langjährig Versicherte nach §§ 36 Satz 2, 236 Abs 3 SGB VI) seien nicht mit Berechnungselementen einer anderen Altersrentenart (frühestmöglicher Zeitpunkt der abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte nach § 236b Abs 2 SGB VI) kombinierbar. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sei die für die gesamte Dauer des Rentenbezugs vorgenommene Kürzung des Zugangsfaktors um 0,003 für jeden Kalendermonat des vorzeitigen Rentenbezugs einer Altersrente auf Grundlage des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2 Buchst a SGB VI mit dem GG vereinbar, weil die Vorschrift eine zum Schutz der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung zulässige gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung darstelle (Art 14 Abs 1 Satz 2 GG). Eine nach Art 3 Abs 1 GG unzulässige Ungleichbehandlung liege nicht vor. Es fehle bereits an einer Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber anderen Personen mit gleichem Lebensalter und gleicher Erwerbsbiographie, da diese auch nur entweder die Altersrente für langjährig Versicherte mit gleichen Abschlägen oder die Altersrente für besonders langjährig Versicherte, jedoch erst mit Erreichen der nach § 236b SGB VI zu berechnenden Altersgrenze, in Anspruch nehmen können. Der Kläger sei nicht verpflichtet gewesen, unmittelbar im Anschluss an die Freistellungsphase eine Altersrente zu beantragen.
9
Zur Begründung der gegen dieses Urteil eingelegten Revision trägt der Kläger erneut vor, die Begünstigung für besonders langjährig Versicherte müsse auf Versicherte mit gleicher Lebensbeitragsleistung ausstrahlen. Die Kürzung von Altersrenten bei vorzeitigem Bezug sei zur Sicherung der Finanzierung der Rentenversicherung erfolgt. Da die Finanzierbarkeit des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes 2014 sichergestellt gewesen sei, dürfe die Verbesserung nicht an denjenigen vorübergehen, die von früheren restriktiven Maßnahmen betroffen gewesen seien. Er habe unmittelbar im Anschluss an die Altersteilzeit Altersrente beantragen müssen, wenn er nicht die Erstattung der Förderung gegenüber dem Arbeitsgeber habe in Kauf nehmen wollen. Die Überbrückung eines Jahres ohne Einkommen sei unzumutbar.
10
Der Kläger beantragt,
        
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. März 2018 sowie des Sozialgerichts Mannheim vom 18. Mai 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm unter Änderung des Bescheides vom 14. August 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2014 eine höhere Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 1. September 2014 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 0,964 zu bewilligen,
hilfsweise,
        
das Verfahren gemäß Art 100 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage vorzulegen, ob das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 23. Juni 2014 (BGBl I 2014, S 787) hinsichtlich der Versicherten in der Vertrauensschutzregelung, die nach § 236 Abs 3 SGB VI ab dem 1. Juli 2014 mit Vollendung des 62. Lebensjahres bei der Erfüllung der besonderen Wartezeit mit 45 Versicherungsjahren mit einem Rentenabschlag von 10,8 % zu berenten sind, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
11
Die Beklagte beantragt,
        
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
12
Der Kläger sei durch die Vertrauensschutzregelung letztlich privilegiert, weil er bereits mit 62 Jahren eine Altersrente habe beanspruchen können. Gegen Art 3 Abs 1 GG werde bereits deshalb nicht verstoßen, weil keine Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte erfolge.

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