Arbeitsrecht

Bindung qualifizierten Personals und Mitbestimmung – Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG bei Stufenvorweggewährung

Aktenzeichen  3 BV 1228/16

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 153415
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
TV-Ä § 17 Abs. 2, § 20 Abs. 5
BetrVG § 99 Abs. 1
TVöD § 17 Abs. 2

 

Leitsatz

Dem Betriebsrat steht in Fällen der Stufenvorweggewährung nach § 20 Abs. 5 TV-Ä ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG zu. Bei der Stufenvorweggewährung ist der Mitbestimmungstatbestand der Eingruppierung beziehungsweise im Falle der nach der Einstellung vorgenommenen Vorweggewährung der Mitbestimmungstatbestand der Umgruppierung im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gegeben. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Es wird festgestellt, dass Fälle der Stufenvorweggewährung oder der Gewährung einer erhöhten Endstufe nach § 20 Abs. 5 TV-Ä der Mitbestimmung nach §§ 99 BetrVG unterliegen.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob bei der Stufenvorweggewährung nach § 20 Abs. 5 TV-Ä eine Mitbestimmung nach § 99 BetrVG besteht.
Die Antragsgegnerin ist tarifgebunden, sodass unter anderem der Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (im Folgenden: TV-Ä) vom 17.08.2006 in der Fassung des Änderungstarifvertrages Nr. 5 vom 05.02.2015 Anwendung findet.
§ 20 Abs. 5 TV-Ä lautet:
„Soweit es zur regionalen Differenzierung, zur Deckung des Personalbedarfs oder zur Bindung von qualifizierten Fachkräften erforderlich ist, kann Ärztinnen und Ärzten im Einzelfall, abweichend von dem sich aus der nach § 19 und § 20 Abs. 4 ergebenden Stufe ihrer/seiner jeweiligen Entgeltgruppe zustehenden Entgelt, ein bis zu zwei Stufen höheres Entgelt ganz oder teilweise vorweggewährt werden. Haben Ärztinnen und Ärzte bereits die Endstufe ihrer jeweiligen Entgeltgruppe erreicht, kann ihnen unter den Voraussetzungen des Satzes 1 ein bis zu 20 v.H. der Stufe 2 ihrer jeweiligen Entgeltgruppe höheres Entgelt gezahlt werden.“
Nachdem anlässlich einer Stufenvorweggewährung beim leitenden Oberarzt Kl. die Beteiligten unterschiedliche Auffassungen zum Umfang des Mitbestimmungsrechts nach § 99 BetrVG in Fällen der Stufenvorweggewährung vertreten hatten, übermittelte die An tragsgegnerin dem Antragsteller ein Schreiben vom 17.10.2016. Dort vertrat die Antragsgegnerin die Auffassung, ein Mitbestimmungsrecht bestehe im vorliegenden Fall nicht. Gleichzeitig hörte sie den Antragsteller rein hilfsweise ohne Anerkennung einer Rechtspflicht an.
Der Antragsteller stimmte dem Antrag vom 17.10.2016 zu.
Der Antragsteller vertritt die Auffassung, in Fällen der Stufenvorweggewährung nach § 20 Abs. 5 TV-Ä bestehe ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG. Bei Änderungen der Stufenzuordnungen sei der Betriebsrat nach § 99 Abs. 1 BetrVG zu beteiligen. Die streitige Tarifnorm enthalte Tatbestandsmerkmale, wie etwa den Begriff „regionalen Differenzierung“. Daher müsse es eine Überprüfbarkeit der Kriterien geben, da sie andernfalls gar nicht in die Tarifnorm hätten aufgenommen werden müssen. Der Antragsteller verweist auf ergangene Gerichtsentscheidungen, die die Auffassung vertreten, dass auch im Rahmen von Ermessensentscheidungen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG besteht.
Der Antragsteller beantragt daher:
Es wird festgestellt, dass Fälle der Stufenvorweggewährung oder der Gewährung einer erhöhten Endstufe nach § 20 Abs. 5 TV-Ä der Mitbestimmung nach § 99 BetrVG unterliegen.
Der Antragsgegner beantragt,
Antragsabweisung.
Der Antragsgegner – der schon das Rechtsschutzbedürfnis im vorliegenden Fall bezweifelt – vertritt die Auffassung, dass nach § 20 Abs. 5 TV-Ä kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG besteht. Die Tarifvertragsparteien hätten durch diese Vorschrift dem Arbeitgeber die Möglichkeit eröffnen wollen, unter bestimmten Voraussetzungen den Mitarbeitern zusätzliche Entgeltleistungen in Form einer Zulage zum Tabellen entgelt zukommen zu lassen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen würden, obliege der Einschätzung des Arbeitgebers. Dies sei eine Ermessensentscheidung des Arbeitgebers für Einzelfälle. Tarifbeschäftigte hätten weder Anspruch auf die Gewährung der Zulage als solches noch auf eine bestimmte Zulagenhöhe. Die Eingruppierung hingegen sei eine nicht ins Ermessen des Arbeitgebers gestellte Rechtsanwendung. Die Anwendung des § 20 Abs. 5 TV-Ä setze aber eine Einwertung nach dem TV-Ä voraus. Der Mitarbeiter habe also bereits eine tarifvertraglich richtige Vergütung. Die Mitbestimmung nach § 99 BetrVG regle aber die Rechtskontrolle durch den Betriebsrat. Er solle die korrekte Anwendung der tarifvertraglichen Eingruppierungsvorschriften überprüfen können. Bei § 20 Abs. 5 TV-Ä habe der Arbeitgeber aber ein weitreichendes Ermessen und zwar sowohl bezüglich des Ob, wie auch der Höhe der Zulage.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften verwiesen.
II.
1. Der Antrag ist zulässig.
Es besteht insbesondere ein Rechtschutzbedürfnis. Zwar haben sich die Beteiligten – auch außerhalb der Buchstaben des BetrVG – offensichtlich im Fall „Kl.“ einvernehmlich verständigt.
Die grundlegende Frage, ob für den Antragsteller bei der Stufenvorweggewährung nach § 20 Abs. 5 TV-Ä ein „echtes“ Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG besteht ist – wie die Anhörung vor der Kammer gezeigt hat – zwischen den Parteien höchst umstritten. Der Antragsgegner hat in der Anhörung vor der Kammer nochmals sehr deutlich gemacht, dass er sich vom Betriebsrat nicht seine Entgeltpolitik „vorschreiben“ lasse.
Dies zeigt, dass die vorliegende Fallkonstellation zwischen den Beteiligten weiterhin lebhaft umstritten ist. Da nach Einschätzung der Kammer auch mit weiteren Fällen zu rechnen ist, besteht seitens des Antragstellers ein rechtlich berechtigtes Interesse, die gestellte Frage gerichtlich klären zu lassen.
2. Der Antrag erwies sich als begründet. Dem Antragsteller steht in Fällen der Stufenvorweggewährung nach § 20 Abs. 5 TV-Ä ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG zu.
Bei der Stufenvorweggewährung ist der Mitbestimmungstatbestand der Eingruppierung beziehungsweise im Falle der nach der Einstellung vorgenommenen Vorweggewährung der Mitbestimmungstatbestand der Umgruppierung im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gegeben.
Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG hat der Arbeitgeber im Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat vor jeder Einoder Umgruppierung zu unterrichten und dessen Zustimmung zu beantragen. Eingruppierung ist die – erstmalige oder erneute – Einreihung eines Arbeitnehmers in eine im Betrieb geltende Vergütungsordnung. Umgruppierung ist jede Änderung dieser Einreihung (vgl. etwa BAG vom 12.01.2011, 7 ABR 15/09).
Nach allgemeiner Auffassung ist auch die Änderung der Einstufung eines Arbeitnehmers innerhalb einer Entgeltgruppe eine mitbestimmungspflichtige Umgruppierung nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Die Stufenzuordnung des Arbeitnehmers beeinflusst dessen Stellung im betrieblichen Entgeltgefüge maßgeblich (vgl. hierzu etwa BAG vom 06.04.2011, 7 ABR 136/09). Beide Faktoren – Entgeltgruppe und Stufe – sind für die Einreihung des Arbeitnehmers in die Vergütungsordnung relevant und damit Bestandteile der einheitlichen Ein- oder Umgruppierung.
Der Arbeitgeber trifft darüber hinaus eine Gestaltungs- und Ermessensentscheidung, soweit er sein Ermessen dahingehend ausübt, ob er die Zeit für das Erreichen bestimmter Stufen verkürzt oder verlängert. Eine mit zu beurteilende Rechtsanwendung findet jedenfalls insoweit statt, als der Arbeitgeber zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen für seine gestaltende Befugnis überhaupt vorliegen. Auch ist die aufgrund der Laufzeitverlängerung oder -verkürzung vorgenommene Stufen zuordnung Rechtsanwendung. Das BAG (Entscheidung vom 06.04.2011, 7 ABR 136/09) hat für die Fallkonstellation des § 17 Abs. 2 TVöD entschieden, dass die Tarifvertragsparteien den ausfüllungsbedürftigen Gestaltungsspielraum davon abhängig gemacht hätten, dass der Beschäftigte eine erheblich über- oder unter dem Durchschnitt liegende Leistung aufweise. Bei diesen Tatbestandsmerkmalen werte die Arbeitgeberin im Sinne einer Rechtsanwendung, bevor sie gegebenenfalls die auf die Verkürzung oder Verlängerung der Stufenlaufzeit gerichtete gestaltende Entscheidung treffe. Der Mitbeurteilung des Betriebsrats nach § 99 BetrVG unterfalle zumindest die Beurteilung des Arbeitgebers, ob der Arbeitnehmer erheblich über- oder unterdurchschnittliche Leistungen im Sinne von § 17 Abs. 2 TVöD erbracht habe.
Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Gesichtspunkte besteht nach Auffassung der Kammer auch in Fällen des § 20 Abs. 5 TV-Ä ein Mitbestimmungsrecht des Antragstellers.
Auch die Vorwegnahme von Stufen nach § 20 Abs. 5 TV-Ä im Einzelfall ist eine im Kern rechtsgestaltende Maßnahme durch den Arbeitgeber. Dies betrifft jedenfalls die richtige Anwendung der Anspruchsvoraussetzungen „regionale Differenzierung, Deckung des Personalbedarfs oder Bindung von qualifizierten Fachkräften“. Jedenfalls die Frage, ob diese Tatbestandsvoraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, ist Rechtsanwendung im Sinne der Subsumtion eines Sachverhalts unter die allgemeinen Begriffe wie „Bindung von qualifizierten Fachkräften“. Zur Überprüfung dieser Rechtsanwendung ist der Betriebsrat nach § 99 BetrVG berufen.
Daran ändert sich entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nach Auffassung der Kammer auch nichts, dass die Stufenvorwegnahme lediglich auf die richtige Eingruppierung im Sinne von richtiger Entgeltgruppe und Stufe „obendrauf“ kommt. Auch wenn die Stufenvorweggewährung bereits eine richtige Eingruppierung bezüglich Entgeltgruppe und Stufe voraussetzt, so ist sie doch eine Entscheidung über die vorweggenommene Zuordnung des Arbeitnehmers zu einer höheren Stufe und damit Rechtsanwendung.
Nichts anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nach Verständnis der Kammer auch vor dem Hintergrund, dass § 20 Abs. 5 TV-Ä hinsichtlich des Umfangs einer Vorweggewährung dem Arbeitgeber einen weiten Ermessungsspielraum zubilligt. Insoweit ist möglicherweise das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats inhaltlich nicht sehr weitgehend. Dennoch hat der Betriebsrat jedenfalls ein Mitbestimmungsrecht bei der Frage, ob die Anspruchsvoraussetzungen der Tarifnorm vorliegen; jedenfalls insoweit handelt es sich um Rechtsanwendung.

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