Arbeitsrecht

Definition der Nachtarbeit

Aktenzeichen  3 Sa 653/17

Datum:
25.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1871
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
MTV für die Nährmittelindustrie und Fettschmelzen zwischen dem Arbeitgeberverband der Bayerischen Ernährungswirtschaft e.V. und der Gewerkschaft NGG vom 03.06.2005 § 3, § 4, § 5
ArbGG § 64 Abs. 6, § 66 Abs. 1

 

Leitsatz

Nachtarbeit i.S.v. § 4 Ziff. 2 MTV Nährmittelindustrie v. 03.06.2005 liegt vor, wenn Arbeit außerhalb eines rechtzeitig und wirksam aufgestellten Schichtplanes oder außerhalb des in der Betriebspraxis üblichen Schichtplanzeitraumes geleistet wird. (Rn. 19 – 22)

Verfahrensgang

8 Ca 127/17 2017-07-04 Urt ARBGAUGSBURG ArbG Augsburg

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Augsburg vom 04.07.2017 – 8 Ca 127/17 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
i. Die nach § 64 Abs. 2 lit. a) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte zu Recht und mit überwiegend zutreffender Begründung verurteilt, dem Kläger den beantragten Nachtarbeitszuschlag zu zahlen und weitere 1,25 Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben. Der Kläger hat gemäß § 5 Ziff. 1 a) MTV Anspruch auf Zuschlag zum Stundenentgelt für die am 30.10.2016 in der Zeit von 20:54 Uhr bis 05:00 Uhr geleistete Arbeit, weil es sich dabei um Nachtarbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV gehandelt hat(1.). Dementsprechend hat der Kläger auch Anspruch auf Feststellung einer Zeitgutschrift gemäß § 5 Ziff. 1 a), 4 Satz 2 MTV i.V.m. Ziff. 3.6 BV Arbeitszeitsystem (2.).
1. Mit der am 30.10.2016 geleisteten Arbeit liegt Nachtarbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV vor. Dies folgt aus der Auslegung der Tarifnorm.
a) Maßgeblich für die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zur erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in der tariflichen Norm seinen Niederschlag gefunden hat. Abzu stellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung, ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. Führen diese Grundsätze nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ist letztlich der Auslegung der Vorzug zu geben, die bei einem unbefangenen Durchlesen der Regelung als näherliegend erscheint und folglich von den Normadressaten typischerweise als maßgeblich empfunden wird (vgl. BAG, Urteil vom 22.04.2010 – 6 AZR 692/08 – Rn. 17; vgl. auch ErfK/Franzen, 18. Aufl. 2018, § 1 TVG, Rn. 92).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Kläger am 30.10.2016 Nachtarbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV geleistet.
aa) Nach § 4 Ziff. 2 MTV ist Nachtarbeit die in der Zeit von 20:00 Uhr bis 06:00 Uhr unregelmäßig geleistete Arbeit. Eine Bestimmung, was unter „unregelmäßig geleistete Arbeit“ zu verstehen ist, haben die Tarifvertragsparteien nicht getroffen. Nach dem deshalb heranzuziehenden allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet „unregelmäßig“ im Um-kehrschluss zu „regelmäßig“, dass etwas keiner Regel folgt bzw. dass es sich nicht in gleichen Abständen wiederholt (vgl. BAG, Urteil vom 19.09.2007 – 4 AZR 617/06 – Rn. 16 m.w.N.). Der Kläger hat die am 30.10.2016 geleistete Arbeit im Rahmen von Schichtarbeit erbracht. Schichtarbeit wird üblicherweise in einem Schichtplan geregelt. Demzufolge ist Schichtarbeit dann unregelmäßig, wenn sie außerhalb eines rechtzeitig und wirksam aufgestellten Schichtplanes erfolgt (vgl. BAG, Urteil vom 19.09.2007 – 4 AZR 617/06 – Rn. 16). Darüber hinaus weist die Wortbedeutung „sich nicht in gleichen Abständen wiederholend“ darauf hin, dass unregelmäßige Schichtarbeit mit einer außerhalb eines in der Betriebspraxis üblichen Schichtplanzeitraumes geleisteten Arbeit vorliegt (vgl. BAG, Urteil vom 19.09.2007 – 4 AZR 617/06 – Rn. 14 und 18).
bb) Dieses am Wortlaut orientierte Auslegungsergebnis wird durch die Tarifsystematik bestätigt. § 4 Ziff. 3 MTV definiert die regelmäßige Arbeit und damit den Gegensatz von „unregelmäßig geleistete Arbeit“. Regelmäßige Arbeit im Sinne von § 4 Ziff. 3 MTV ist die in der Zeit von 21:00 Uhr bis 05:00 Uhr oder von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr auch im wöchentlichen Schichtwechsel geleistete Nachtschichtarbeit. Da Nachtschichtarbeit und Schichtwechsel üblicherweise in einem Schichtplan geregelt werden, liegt regelmäßige Arbeit bei Schichtarbeit auf der Grundlage eines rechtzeitig und wirksam aufgestellten Schichtplanes vor. Des Weiteren führt die Anknüpfung der Nachtschichtarbeit an den wöchentlichen Schichtwechsel dazu, dass regelmäßig geleistete Nachtschichtarbeit nur dann anzunehmen ist, wenn sie innerhalb des in der Betriebspraxis üblichen Schichtplanzeitraums geleistet worden ist.
cc) Für die Auslegung, dass Nachtarbeit als unregelmäßige Arbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV vorliegt, wenn sie außerhalb eines rechtzeitig und wirksam aufgestellten Schichtplanes oder außerhalb des in der Betriebspraxis üblichen Schichtplanzeitraums geleistet wird, spricht zudem der Sinn und Zweck des Zuschlags für unregelmäßig geleistete Nachtarbeit im Vergleich zu demjenigen für schichtplankonforme Nachtarbeit in regulärer Wechselschicht. Durch die höheren Zuschläge für unregelmäßig geleistete Nachtarbeit sollen zum einen die besonderen Erschwernisse abgegolten werden, die dadurch verursacht werden, dass sich die Belastung des Arbeitnehmers durch den kurzfristigen Arbeitsrhythmuswechsel ändert und er sich in seinen gesamten Lebensgewohnheiten -Schlafen, Einnahme der Mahlzeiten, aber auch Gestaltung der Freizeit – umstellen muss, und zum anderen den Arbeitgeber dazu veranlasst werden, die im Verhältnis zur ständigen und zur schichtplankonformen Nachtarbeit in Wechselschicht teurere unregelmäßige Nachtarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden (vgl. BAG, Urteil vom 19.09.2007 – 4 AZR 617/06 – Rn. 18).
dd) Im Übrigen hat die Beklagte dieses Verständnis von Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit selbst in der Protokollnotiz „Nachtarbeit“ zur BV Arbeitszeitsystem vom 20.01.2003 zugrunde gelegt. Danach erhalten die in Nachtschicht eingesetzten Arbeitnehmer statt des tariflichen Nachtschichtzuschlags den tariflichen Nachtarbeitszuschlag, wenn die zeitliche Befristung der Dreischichtigkeit nicht mehr als drei Kalenderwochen beträgt. Damit kommt es auch nach ihrer Auffassung für die Frage, ob Nachtarbeit vor liegt, nicht allein auf das Bestehen eines Schichtplanes, sondern auch auf die Kontinuität der Dreischichtigkeit und damit auf einen etwaig neuen betriebsüblichen Schichtplanzeitraum an.
c) Bezogen auf die seitens des Klägers am 30.01.2016 geleistete Arbeit ergibt sich deshalb Folgendes:
aa) Der im Betrieb der Beklagten übliche Schichtplanzeitraum ist durch Ziff. 3.4 BV Arbeitszeitsystem bei der vorliegenden 38-Stunden-Woche auf das Basismodell Frühschicht / Spätschicht / Nachtschicht montags bis donnerstags und freitags mit den bestimmten Zeitvorgaben festgelegt worden. Hiermit übereinstimmend bestimmt Ziff. 3.6 BV Arbeitszeitsystem, dass „in unserem Modell“ Mehrarbeitszeiten diejenigen Arbeitszeiten sind, die abweichend vom Basismodell geleistet werden (Freitag „lang“ und Samstagsarbeit). In einer Feiertagswoche, die wie hier in der KW 44 mit dem Feiertag Allerheiligen vorliegt, können die Anzahl und die Lage der Nachtschichten zwar verändert werden, wozu ausdrücklich auch der Beginn der Nachtschicht am Sonntag um 21:00 Uhr gehört. Allerdings dienen diese Änderungen des Basismodells dem Ausgleich etwaig wegen Feiertags ausfallender Schichten, nicht wie hier der Leistung von Zusatzschichten wegen anhaltend guter Auftragslage bei einer angespannten Personalsituation, die im Aushang vom 12.10.2016 als Gründe für die Zusatzschicht angegeben sind. Damit setzen die Ziff. 3.4 und 3.6 BV Arbeitszeitsystem die Rahmenbedingungen um, die die Betriebspartner bei Einführung des Wechselschichtsystems beachten wollten: die regelmäßige betriebliche Arbeitszeit verteilt sich auf die Werktage Montag bis Freitag, wobei eine Ausdehnung auf den Samstag „im Bedarfsfall“ und mithin nur ausnahmsweise möglich ist.
bb) Die Beklagte weicht von dem in der Betriebspraxis üblichen Schichtmodell der Nachtschichten montags bis freitags ab, indem sie mit der Zusatzschicht am 30.10.2016 einen sechsten Arbeitstag und zwar am Sonntag aus den bereits genannten Gründen in der KW 44 eingefügt hat. Die am 30.10.2016 unstreitig geleistete Arbeit des Klägers ist deshalb Nachtarbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV. Dieser Bewertung steht nicht entgegen, dass der Kläger ab Donnerstag, den 03.11.2016, Urlaub genommen hat und mithin keine sechs Nachtschichten hintereinander Arbeit leistete. Urlaub wird durch Freistellung des Arbeitnehmers von der Arbeitspflicht zur Erfüllung des Anspruchs auf Erholungsurlaub gewährt (vgl. st.Rspr. des BAG, Urteil vom 10.02.2015 – 9 AZR 455/13 – Rn. 19 m.w.N.).
Damit bestand für den Kläger in der KW 44 die Pflicht zur Leistung von sechs Nachtschichten, von der er lediglich durch die Urlaubsgewährung ab 03.11.2016 befreit worden ist (vgl. in diesem Sinn auch Protokollnotiz zu Abs. 1 und 2 des § 27 TVöD, S. 2). Im Übrigen blieb es bei der Belastung durch die vorzeitige Nachtarbeit bereits ab Sonntag, die den Rhythmus der Ruhetage zwischen den Schichten verkürzte.
cc) Hilfsweise stützt die Kammer ihre Entscheidung darauf, dass nach der Regelung des § 5 Ziff. 4 Satz 2 MTV der Mehrarbeitszuschlag von 25% – in gleicher Höhe von 24,93 € brutto – und nicht der Nachtschichtarbeitszuschlag hätte gezahlt werden müssen. Sind nämlich mit Mehrarbeit zusammentreffende Zuschläge für Nachtarbeit zusätzlich zu bezahlen, wie dies § 5 Ziff. 4 Satz 2 MTV bestimmt, heißt dies in Bezug auf Nachtschichtzuschläge, dass diese nicht zusätzlich zu zahlen sind. Es bleibt aber bei der Verpflichtung der Beklagten, Mehrarbeitszuschläge zu zahlen.
dd) Dementsprechend war die Beklagte zur Zahlung weiterer 24,93 € brutto verpflichtet, deren Höhe zwischen den Parteien unstreitig war. Die Zinsen rechtfertigen sich aus §§ 291, 288 BGB, nachdem die Klageschrift dem Beklagtenvertreter am 14.03.2017 zugestellt worden ist.
2. Die Beklagte ist zudem verpflichtet, für die streitgegenständlichen Stunden eine Zeitgutschrift auf dem Zeitkonto im Umfang von 25% zu erfassen, § 5 Ziff. 4 Satz 2 MTV i.V.m. § 3 Ziff. 6 BV Arbeitszeitsystem. Dieser Anspruch ist gegeben, wenn Nachtarbeit im Sinne des § 4 Ziff. 2 MTV vorliegt. Gegen diese Konsequenz hat sich die Beklagte in ihrer Berufung auch nicht gewandt.
III.
Die Beklagte hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.
IV.
Die Revision wird für die Beklagte gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen, weil die Frage, ob Nachtarbeit im Sinne von § 4 Ziff. 2 MTV bei Anordnung von Zusatzschichten außerhalb der Feiertagsregelung in Ziff. 3.4 BV Arbeitszeitsystem vorliegt, grundsätzliche Bedeutung hat. Der maßgebliche Manteltarifvertrag für die Ernährungsmittelindustrie und Fettschmelzen zwischen dem Arbeitgeberverband der Bayerischen Ernährungswirtschaft e.V. und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Landesbezirk Bayern, vom 03.06.2005 gilt räumlich für das Land Bayern und mithin über den Bezirk des Landesarbeitsgerichts München hinaus. Die angesprochene Rechtsfrage stellt sich häufig in der betrieblichen Praxis und damit unabhängig vom Rechtsverhältnis der Parteien.

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