Arbeitsrecht

Eingruppierung einer Physiotherapeutin nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen – Stellenbeschreibung als Grundlage für eine Tätigkeitsbewertung

Aktenzeichen  4 AZR 773/09

Datum:
16.11.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
Normen:
Teil B Abschn I § 1 Abs 1 S 1 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Teil B Abschn I § 1 Abs 1 S 2 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Teil B Abschn I § 2 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Teil B Abschn II Entgeltgr 7.2 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Teil B Abschn II Entgeltgr 8 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Teil B Abschn II Entgeltgr 9.2 EvKiKonfödArbVtrRL ND
Spruchkörper:
4. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Oldenburg (Oldenburg), 17. Oktober 2008, Az: 3 Ca 621/07 E, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen, 7. September 2009, Az: 9 Sa 1879/08 E, Urteil

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 7. September 2009 – 9 Sa 1879/08 E – aufgehoben, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 17. Oktober 2008 – 3 Ca 621/07 E – zurückgewiesen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 17. Oktober 2008 – 3 Ca 621/07 E – auf die Berufung der Beklagten abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
3. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 7. September 2009 – 9 Sa 1879/08 E – wird zurückgewiesen.
4. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits insgesamt zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die zutreffende Eingruppierung der Klägerin nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen für diakonische Einrichtungen (AVR-K).
2
Die 1958 geborene Klägerin ist seit dem 1. Januar 1996 mit der Bezeichnung „Leitende Physiotherapeutin“ im sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von derzeit 25 Stunden beschäftigt. Nach § 2 des am 14. Dezember 1995 geschlossenen Arbeitsvertrages finden auf das Arbeitsverhältnis die Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werkes der evangelischen Kirche in Deutschland in der jeweils gültigen Fassung Anwendung. Die Klägerin ist staatlich geprüfte Physiotherapeutin und verfügt über Zusatzausbildungen nach „Bobath“ und „Vojta“. Darüber hinaus nahm sie an mehreren Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teil.
3
Bei dem SPZ handelt es sich um eine Einrichtung iSd. § 119 SGB V. Hier werden Entwicklungsstörungen und -verzögerungen sowie drohende oder bestehende Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen ambulant behandelt. Jährlich werden ca. 2.200 Patienten sowohl einmalig vorgestellt als auch über mehrere Jahre interdisziplinär betreut. In der Physiotherapie im SPZ werden ca. 800 Kinder pro Jahr diagnostiziert und behandelt. Physiotherapeutische Diagnostiken erfolgen ua. bei cerebralen Bewegungsstörungen, psychomotorischen Störungen, Wahrnehmungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten im sozialen und emotionalen Bereich, bei Kindern mit autistischen Zügen oder Autismus, Kindern mit Muskelerkrankungen oder hyperkinetischen Störungen (ADHS). Nach der Stellenbeschreibung aus Oktober 2003 sind der Klägerin folgende Aufgaben und Befugnisse übertragen:
        
„14.   
Einzelaufgaben:
        
a)    
Die Stelleninhaberin führt Erstgespräche und die physiotherapeutische Befundaufnahme durch.
        
b)    
Sie erstellt individuelle Behandlungs- und Übungsprogramme.
        
c)    
Sie führt Beratungs- und Abschlußgespräche mit Eltern, Therapeuten und anderen Bezugspersonen durch.
        
d)    
Sie führt Gruppen- und Einzeltherapie bei Kindern des SPZ durch.
        
e)    
Eltern, andere Bezugspersonen und Therapeuten werden von ihr beraten und angeleitet.
        
f)    
Sie führt die Praktikumsbetreuung von Schwesternschülern/-innen der Klinik durch.
        
g)    
Auf konsiliarische Anforderung werden Diagnostik, Beratung und Einzeltherapie in der Kinderklinik durchgeführt.
        
h)    
Sie führt physiotherapeutische Behandlungen nach neurophysiologischen Erkenntnissen und Erfahrungen durch.
        
i)    
Sie beobachtet und wertet den Verlauf der Therapien aus, um ggf. notwendige Veränderungen in der Konzeption vorzunehmen.
        
j)    
Sie führt Fallbesprechungen im interdisziplinären Team durch.
        
k)    
Sie bereitet Therapiesitzungen vor und nach.
        
l)    
Sie nimmt regelmäßig an internen und externen Fortbildungen nach Genehmigung durch die Leitung teil.
        
m)    
Sie organisiert Fortbildungen für Teammitglieder, externe Therapeuten und Elterngruppen.
        
n)    
Sie führt die Mundsprechstunde durch.
        
o)    
Sie führt videogestützte Elternberatung bei verhaltensauffälligen und mental retadierten Kindern durch.
        
p)    
Sie fertigt Kunststoffschienen in Zusammenarbeit mit einem Orthopädietechniker an.
        
q)    
Sie ist verantwortlich für die Anleitung neuer ihr nachgeordneten Mitarbeiter/innen.
        
r)    
Sie übt die Dienst- und Fachaufsicht über die ihr unmittelbar nachgeordneten Mitarbeiter/innen aus.
        
s)    
Die Stelleninhaberin hat nach Weisung ihres Vorgesetzten weitere Aufgaben zu erfüllen, die entweder wesensmäßig zu ihrem Tätigkeitsbereich gehören oder sich aus betrieblichen Notwendigkeiten ergeben.
        
15.     
Befugnisse:
        
a)    
Die Stelleninhaberin baut aufgrund der ärztlichen Diagnose selbständig und eigenverantwortlich die physiotherapeutische Behandlung auf.
        
b)    
Sie unterschreibt den von ihr erstellten Teil des Arztberichtes.
        
16.     
Zusammenarbeit mit anderen Stellen:
        
a)    
Die Stelleninhaberin arbeitet mit dem Team der Einrichtung zusammen.
        
b)    
Sie arbeitet zusammen mit den Eltern, anderen Bezugspersonen, der Kinderklinik, Ärzten, Kindergärten, Schulen und anderen Institutionen, z. B. in Form von Hospitation, Besprechungen sowie Beratungen.
        
…       
        
        
18.     
Anforderungen an die Stelleninhaberin der Stelle:
        
        
Die Stelleninhaberin muß eine Ausbildung als Physiotherapeutin haben. … Neben fundiertem, vielseitigem und erheblich erweitertem Fachwissen wird Interesse an interdisziplinärer Teamarbeit erwartet, die Eignung für Vorgesetztenverantwortung, …“
4
Der Klägerin sind drei teilzeitbeschäftigte Beschäftigte unterstellt, wobei eine Beschäftigte in der Vergangenheit in Elternzeit war. Neben der Klägerin ist eine zweite leitende Physiotherapeutin tätig, der zwei Beschäftigte unterstellt sind. Weitere Physiotherapeutinnen werden bei der Beklagten nicht beschäftigt. Die physiotherapeutische Diagnostik führt die Klägerin teilweise zusammen mit einem Arzt und teilweise allein durch. Sie erhielt bis zur Neufassung der AVR-K zum 1. Januar 2004 eine Vergütung nach der VergGr. VI b AVR-K in der damals geltenden Fassung. Nach der Überleitung in das Entgeltsystem der neu gefassten AVR-K erhält sie eine Vergütung nach Entgeltgruppe E 7 AVR-K sowie eine Zulage iHv. 25 vH der Differenz zwischen den Vergütungen der Entgeltgruppen E 7 und E 8 AVR-K. Mit Schreiben vom 13. Januar 2004 widersprach die Klägerin der Überleitung in die Entgeltgruppe E 7 AVR-K. Mit weiterem Widerspruch vom 30. August 2006 forderte sie erfolglos eine Vergütung nach Entgeltgruppe E 9 AVR-K rückwirkend ab 1. Januar 2004.
5
Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Ihre Tätigkeit sei mit der der in der Entgeltgruppe E 7.1 AVR-K aufgeführten Altenpflegerinnen, Erzieherinnen, Heilerziehungspflegerinnen oder Krankenschwestern vergleichbar. Deshalb sei dies die zutreffende Eingangsvergütungsgruppe. Die Fort- und Zusatzausbildungen seien für die Arbeit im SPZ erforderlich. Zudem rechtfertige bereits der Umstand, dass sie nach allgemeinen Anweisungen selbständig tätig sei, eine Eingruppierung nach der Entgeltgruppe E 7.2 AVR-K. Ihre weiteren Fachkenntnisse begründeten daher einen Anspruch nach der Entgeltgruppe E 8 AVR-K. Ihre Arbeit verlange grundsätzlich erheblich erweiterte Fachkenntnisse und Fertigkeiten. Das Qualifizierungsmerkmal rechtfertige sich bereits deshalb, weil die zu behandelnden Kinder und Jugendlichen überwiegend schwere Mehrfachbehinderungen und häufig auch Verhaltensstörungen aufwiesen. Ihre wöchentliche Arbeitszeit von 25 Stunden teile sich wie folgt auf:
        
Diagnostik
7,5 Stunden pro Woche
30 vH 
        
Therapie
8 Stunden pro Woche
32 vH 
        
Interdis. Fallbesprechung
3 Stunden pro Woche
12 vH 
        
Vor- und Nachbereitung/Berichte
2 Stunden pro Woche
8 vH   
        
Supervision
0,5 Stunden pro Woche
2 vH   
        
Leitung
3,5 Stunden pro Woche
14 vH 
        
Qualitätsmanagement
0,5 Stunden pro Woche
2 vH. 
6
Aufgrund ihrer Leitungstätigkeit ergebe sich dann weiter eine Eingruppierung nach der Entgeltgruppe E 9.2 AVR-K.
7
Die Klägerin hat zuletzt beantragt
        
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab 1. April 2004 Vergütung nach Entgeltgruppe E 9 AVR-K nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf den jeweiligen Differenzbetrag ab dem jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt zu zahlen.
8
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Grundeingruppierung der Klägerin richte sich nach der Entgeltgruppe E 6.1 AVR-K. Die Aufzählung der in der Entgeltgruppe E 7.1 AVR-K genannten Berufsgruppen sei abschließend. Eine entsprechende Anwendung auf Physiotherapeutinnen komme nicht in Betracht. Abweichend zu den Altenpflegerinnen und Krankenschwestern stehe bei der Tätigkeit der Klägerin die Diagnostik im Vordergrund. Da Physiotherapeutinnen immer selbständig tätig seien, sei die Selbständigkeit kein Hervorhebungsmerkmal aus der Entgeltgruppe E 7.2 AVR-K. Die erweiterten Fachkenntnisse und Fertigkeiten, über die die Klägerin verfüge, seien mit der Höhergruppierung in die Entgeltgruppe E 7.2 AVR-K verbraucht. Die Zusatzausbildungen seien für ihre Tätigkeit nicht erforderlich. Die vorgelegten Fallbeschreibungen entsprächen ihrem Berufsbild. Die Leitungsaufgabe der Klägerin sei mit der Zulage nach § 2 Satz 2 Teil I B AVR-K hinreichend abgegolten.
9
Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich einer Vergütung nach Entgeltgruppe E 8 AVR-K stattgegeben und im Übrigen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichteten Berufungen beider Parteien zurückgewiesen und jeweils die Revision zugelassen. Die Klägerin verfolgt mit ihrer Revision ihr Begehren weiter, die Beklagte begehrt, die Klage insgesamt abzuweisen. Beide Parteien beantragen, die Revision der jeweils anderen Partei zurückzuweisen.

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