Aktenzeichen M 18 K 17.3303
BKGG § 1
Leitsatz
1. Der Zweck des sozialrechtlichen Kindergeldes beschränkt sich bei Vollwaisen auf die Unterhaltssicherung. Wird diese bereits durch eine Heimunterbringung gewährleistet, liegt Zweckidentität zwischen der jugendhilferechtlichen Leistung und der Kindergeldleistung vor, so dass das Kindergeld nach § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII einzusetzen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der steuerrechtliche Kindergeldbegriff in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII umfasst nicht auch das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 BKGG. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Klägerin kann aus dem von ihr als Vollwaise bezogenen Kindergeld nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) von der Beklagten nach § 92 Abs. 2 i.V.m. 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII herangezogen werden, da Kindergeld nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG (im Folgenden: sozialrechtliches Kindergeld) dem gleichen Zweck wie die der Klägerin geleistete Jugendhilfe dient.
Nach § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII zählen Geldleistungen, die dem gleichen Zwecke wie die jeweilige Leistung der Jugendhilfe dienen, nicht zum Einkommen und sind unabhängig von einem Kostenbeitrag einzusetzen. Eine Doppelverwendung staatlicher Mittel für denselben Zweck soll dadurch vermieden werden (Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 93 Rn. 11). Die Prüfung der Zweckidentität muss jeweils bezogen auf die konkrete Maßnahme der Jugendhilfe ermittelt werden (BVerwG, U.v.22.12.1998 – 5 C 25/97 – juris Rn. 18).
Die der Klägerin konkret geleistete Heimunterbringung nach § 27 Abs. 1 i.V.m. § 34 Satz 1 und 2 Nr. 3 SGB VIII soll ihr eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und sie auf ein selbstständiges Leben vorbereiten. Diese jugendhilferechtliche Leistungen stellt neben der Heimunterbringung und Erziehung der Klägerin auch den notwendigen Lebensunterhalt sowie Krankenhilfe sicher, §§ 34, 39, 40 SGB VIII.
Der Zweck des sozialrechtlichen Kindergeldes beschränkt sich bei Vollwaisen auf die Unterhaltssicherung. Da diese im vorliegenden Fall bereits durch die von der Beklagten gewährleisteten Heimunterbringung gewährt wird, liegt Zweckidentität zwischen den jugendhilferechtlichen Leistung und der Kindergeldleistung vor.
Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer Vollwaise ist. Zweck hierbei ist es, eine finanzielle Schlechterstellung von Vollwaisen nach dem Tod ihrer Eltern zu verhindern.
Aus der Gesetzeshistorie ergibt sich, dass das Kindergeld zum Familienlastenausgleich eingeführt wurde, um die wirtschaftliche Lage der Familien zu stärken (Bt-Drs. IV/818, S. 11f.). Bereits in dem Entwurf eines Bundeskindergeldgesetzes vom 7. Dezember 1962 erhielten Eltern und andere, Kinder an Eltern statt betreuende Personen Kindergeld ab dem zweiten betreuten Kind. Darunter fielen auch Geschwister, die ihre Geschwister in ihren Haushalt aufnehmen oder überwiegend unterhalten (Bt-Drs. IV/818, S. 2). Die im Jahr 1985 vorgenommene Änderung des Wortlautes der Vorschrift auf den Kindergeldbezug für Vollwaisen hatte den Zweck, haushaltsführenden Geschwistern nach dem Tod der Eltern neben dem Anspruch auf Kindergeld für die betreuten Geschwister einen eigenen Kindergeldanspruch für sich selbst einzuräumen, da ansonsten – neben dem Verlust des Einkommens der Eltern – eine (weitere) Verschlechterung der Finanzen durch den Verlust des Kindergeldes für das nun haushaltsführende bzw. das jüngste Geschwister wegen der Gewährung ab dem zweiten Kind eintreten würde (so BT-Drs. 10/2886, S. 9 Punkt 4). Der Kindergeldanspruch für Vollwaisen wurde dem o.g. Zweck entsprechend in § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 BKGG a.F. übernommen, ohne im Gesetzestext auf das Merkmal der Haushaltsführung einzugehen (BT-Drs. 10/3369 S. 11f.). 1996 erfolgte die Aufsplittung des Kindergeldes in ein Kindergeld nach § 31 i.V.m. Abschnitt X des Einkommensteuergesetz (im Folgenden: steuerrechtliches Kindergeld) für Personen, die dem EStG unterliegen und einem Kindergeld für andere Personenkreise (Jahressteuergesetz 1996 vom 11.Oktober 1995, BGBl. I S. 1250, 1378f.).
Mit Urteil vom 5. Mai 2015 bestätigte das Bundessozialgericht die Zwecksetzung des sozialrechtlichen Kindergelds, finanzielle Belastungen durch die Personensorge für Kinder und finanzielle Mehrbelastungen durch die Kindererziehung bzw. besonderen Bedürfnisse von Kindern und Heranwachsenden auszugleichen („Kinder kosten“). Im Fall von alleinstehenden Vollwaisen dient es als Ausgleich für die eigenen Belastungen (Az. B 10 KG 1/14 R – juris Rn. 10, 27).
Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Zweck des steuerrechtlichen Kindergeldes steht einer Klageabweisung nicht entgegen:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes dient das steuerrechtliche Kindergeld dem allgemeinen Zweck des Familienlastenausgleiches, wobei den Eltern ein weiter Verwendungsrahmen zugunsten des Kindes für das Geld zukommt (BVerwG, U.v. 22.12.1998 – 5 C 25/97 – juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 12.5.2011 – 5 C 10/10 – juris Rn.15). Systematisch handelt es sich hierbei um die steuerliche Freistellung des Elterneinkommens in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung, § 31 Abs. 1 S. 1 EStG. Soweit das Kindergeld dafür nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie, § 31 Abs. 1 Satz 2 EStG (BVerwG, U.v. 12.5.2011 – 5 C 10/10 – juris Rn.14).
Im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Dezember 1998 (a.a.O.) wurde bei der jugendhilferechtlichen Unterbringung einer (halbwaisen) Leistungsberechtigten in einem Heim eine Zweckidentität mit dem steuerrechtlichen Kindergeld, das der Vater bezog, verneint. Das Bundesverwaltungsgericht stützte sich hierbei auf den dem Vater eingeräumten weiten Verwendungsrahmen des Kindergeldes. Wegen der in diesem Fall noch fortbestehenden Eltern-Kind-Kontakte und erheblichen finanziellen Belastungen des Vaters durch das Aufkommen für Schulgeld und Hobbys der Klägerin lasse die Heimunterbringung unter Berücksichtigung des weiten Verwendungsrahmens noch Raum für die besondere Zweckbestimmung des Kindergeldes.
Der dem Urteil zu Grunde liegende Fall ist insoweit jedoch mit dem der Klägerin nicht vergleichbar, da vorliegend kein Eltern-Kind-Kontakt mehr bestehen kann und eine (finanzielle) Entlastung der „Herkunftsfamilie“ von den für die Klägerin getätigten Aufwendungen durch den Status der Klägerin als Vollwaise denklogisch nicht mehr möglich ist.
Weiter erklärte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 12. Mai 2011 (Az. 5 C 10/10 – juris Rn. 11, 14ff.) ausdrücklich, dass das steuerrechtliche Kindergeld kostenbeitragsrechtlich dem Einkommen der Eltern des Leistungsberechtigten zuzurechnen sei, da der Zweck des Familienlastenausgleichs durch die Bedarfsdeckung und Sicherstellung des notwendigen Unterhalts des leistungsberechtigten Kindes in der Jugendhilfe erreicht werde. Dies ergebe sich auch aus der Einführung des § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII im Jahr 2005.
Auch das Bundesverfassungsgericht sieht das steuerrechtliche Kindergeld als eine Leistung zur Förderung der Familie, die dazu dient, die wirtschaftliche Lage von Familien mit Kindern im Verhältnis zu solchen ohne Kinder zu verbessern und deren Lebensunterhalt zu sichern (BVerfG, B.v.11.3.2010 – 1 BvR 3163/09 – juris Rn. 5). Das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BKGG dient damit ausschließlich dem Unterhalt und ist als zweckidentische Leistung nach § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII einzusetzen.
§ 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII steht einer Subsumtion des Kindergeldes nach § 1 Abs. 2 BKGG unter § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII nicht entgegen.
Nach dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ist Kindergeld nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Eine Unterscheidung bezüglich der Rechtsgrundlage des Kindergeldes ist der Vorschrift nach dem Wortlaut nicht zu entnehmen.
Aus der Gesetzesbegründung bezüglich der Einfügung der Formulierung „Kindergeld“ in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Einfügung lediglich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht nachvollziehen wollte, die jedoch nur das steuerrechtlichen Kindergeld betraf (Bt-Drs. 17/13023, S. 14 Punkt 7a). Aus dem Zusammenhang der Begründung mit der Begründung zur Änderung des § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII unter Nr. 8a) (Bt-Drs. 17/13023 S. 15) folgt, dass der Gesetzgeber bei der Einfügung des Begriffs „Kindergeld“ in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII lediglich das steuerrechtliche Kindergeld, das die Eltern der Leistungsempfänger beziehen, bedacht hatte.
Auch ist der Grund, weshalb das steuerrechtliche Kindergeld in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII ausgenommen wurde, nicht für die Situation des Kindergelds nach § 1 Abs. 2 BKGG anwendbar. Das steuerrechtliche Kindergeld sollte nach § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII unabhängig von einem etwaigen einkommensbezogenen Kostenbeitrag nach § 93 Abs. 1 SGB VIII als eigenständiger Kostenbeitrag erhoben werden, um eine Ungleichbehandlung der Elternteile bei der Kostenheranziehung zu verhindern. Da nur ein Elternteil das steuerrechtliche Kindergeld bezieht, konnte dieser das Kindergeld zur Erfüllung des Kostenbeitrags heranziehen und musste nur die Differenz zwischen dem Kindergeld und Kostenbeitrag aus seinem Einkommen bestreiten, während der andere Elternteil den gesamten Kostenbeitrag aus seinem Einkommen bezahlen musste. Deshalb sollte zur Gleichbehandlung der Eltern untereinander ein eigenständiger Kostenbeitrag in Höhe des Kindergeldes nur beim kindergeldbeziehenden Elternteil erfolgen, während der einkommensabhängige Kostenbeitrag ohne das steuerrechtliche Kindergeld berechnet wurde (Bt-Drs. 17/13023 S. 15 unter Punkt 8a); Wiesner, Kommentar SGB VIII, § 93 Rn. 13f.). Dieser Zweck der Ausgliederung des Kindergeldes aus dem Einkommensbegriff im Sinne des § 93 Abs. 1 SGB VIII durch die Aufnahme in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII kann offensichtlich im Fall des hier vorliegenden Kindergeldes für Vollwaise nicht erreicht werden. Der Kindergeldbegriff in § 93 Abs. 1 S. 4 SGB VIII umfasst daher nicht auch das Kindergeld für Vollwaisen nach § 1 Abs. 2 BKGG.
Entgegen der Ansicht der Klagepartei fehlt es auch nicht an einer vorherigen Aufklärung der Klägerin über ihre Beitragspflicht nach § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII. Denn sowohl nach dem Wortlaut, als auch nach dem Telos des § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII kommt eine Anwendung dieser Vorschrift auf den Fall der Klägerin als kindergeldberechtigter Leistungsempfängerin nicht in Betracht. Denn § 92 Abs. 3 S. 1 SGB VIII nimmt lediglich auf die Personengruppen des § 92 Abs. 1 Nr. 4 und 5 SGB VIII Bezug, während die Klägerin nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII herangezogen wird.
Einer Analogie zu § 94 Abs. 3 S. 1 SGB VIII – wie von der Widerspruchsbehörde angenommen -bedarf es wegen der Subsumtion des Kindergeldes für Vollwaisen unter § 93 Abs. 1 S. 3 SGB VIII nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 S. 2 VwGO.
Die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.