Arbeitsrecht

einstweiliges Verfüfungsverfahren, Anspruch auf Durchführung eines Tarifvertrages, Gewerkschaft, Globalantrag, REchtsscutzbedürfnis, Selbstwiderlegung der Dringlichkeit, Tarifverträge

Aktenzeichen  14 Ga 70/21

Datum:
25.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22349
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
TVG § 4a Abs. 2
ArbGG § 99
GG Art. 9 Abs. 3
BGB §§ 823, 1004
ZPO §§ 935, 941
ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

Unzulässiger und unbegründeter Antrag einer Gewerkschaft auf Anwendung ihrer Tarifverträge bzw. auf Unterlassen der Anwendung der Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft.

Tenor

1. Die Anträge werden zurückgewiesen.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf € 30.000,00 festgesetzt.

Gründe

I.
1. Das Arbeitsgericht ist gemäß §§ 2 Abs. 1 Nr. 3a, 62 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 937 Abs. 1, 943 Abs. 1 ZPO zuständig.
2. Das Arbeitsgericht München ist örtlich zuständig gem. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. § 21 Abs. 1 ZPO. Zuständig ist das Arbeitsgericht, in dessen Bezirk der Betrieb im Sinne des § 4a Abs. 1 TVG liegt. Nach dem insoweit unstreitigen Vortrag der Antragstellerin, der von der Antragsgegnerin nicht bestritten wurde und damit nach § 38 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt, werden die im Antrag genannten Wahlbetriebe in Bayern von der Niederlassung in C-Stadt aus einheitlich geleitet.
3. Das Urteilsverfahren ist gem. § 2a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 ArbGG die zutreffende Verfahrensart.
4. Dem einstweiligen Verfügungsantrag steht nicht eine anderweitige Rechtshängigkeit im Sinne des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG entgegen.
4.1 Nach dieser Norm ist eine Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig, wenn der Kläger bereits zuvor in derselben Streitsache gegen dieselbe Partei eine Klage erhoben hat und diese andere Klage bei der Entscheidung über die spätere Klage noch rechtshängig ist.
4.2 In dem genannten Verfahren vor dem ArbG B-Stadt, Az. 30 Ga 5272/21, richtet die Antragstellerin den Antrag nicht gegen die hiesige Antragsgegnerin, sondern gegen den Arbeitgeberverband. Zudem wollte die Antragstellerin dort im Wege der Einwirkung die Anwendung der von ihr geschlossenen Tarifverträge erreichen. Demgegenüber macht die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren Verpflichtungs- und Unterlassungsanträge gegen ein Mitgliedsunternehmen des AGV M. geltend. Es handelt sich somit bei dem in Bezug genommenen Verfahren weder um dieselben Parteien noch um denselben Streitgegenstand, weshalb anderweitige Rechtshängigkeit eines anderen Verfahrens der Antragstellerin einer Entscheidung in vorliegender Sache nicht entgegensteht.
5. Die Anträge waren gleichwohl als unzulässig zurückzuweisen. Zum einen sind die Anträge zu 1. bis 6. nicht hinreichend bestimmt. Zum anderen fehlt den Anträgen das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
5.1 Die Anträge zu 1. bis 6. sind nicht im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend bestimmt. Dies kann nur angenommen werden, wenn im Antrag der anwendbare Tarifvertrag nach seiner Bezeichnung und mit Abschlussdatum, der zeitliche Beginn der Tarifwirkungen, die erfasste betriebliche Einheit und die vom Tarifvertrag betroffenen Arbeitnehmer bzw. die vom Tarifvertrag betroffene Arbeitnehmergruppe angegeben sind (vgl. Germelmann/Schlewing, § 99 Rn. 4). Dementsprechend wäre auch ein etwaiges Ende der Tarifwirkungen anzugeben. Bei einer Unterlassungsverfügung ist die störende Handlung so genau wie möglich zu umschreiben (vgl. Zöller/Vollkommer, 33. Aufl. 2020, § 935 ZPO, Rn. 4).
5.1.1 Insbesondere die Formulierung in den Anträgen 1., 2., 4. und 5. „Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag eine arbeitsvertragliche Inbezugnahmeklausel bezüglich der im Betrieb oder Betriebsteil des Arbeitgebers betrieblich/fachlich einschlägigen Tarifverträge in ihrer jeweiligen Fassung beinhaltet“ ist nicht hinreichend bestimmt. Nach dem insoweit unstreitigen Vortrag der Antragsgegnerin, der damit als zugestanden gilt (§ 138 Abs. 3 ZPO), gibt es in den Betrieben unterschiedliche Arbeitsvertragsmuster. Die von den einschlägigen Tarifverträgen der Antragstellerin aufgrund Inbezugnahmeklausel erfassten Arbeitnehmer sind mit den Anträgen nicht ausreichend klar bestimmt oder bestimmbar, sondern es müsste jeweils im Rahmen einer Auslegung (§§ 133, 157 BGB) der jeweiligen arbeitsvertraglichen Inbezugnahmeklausel geklärt werden, ob die im Betrieb oder Betriebsteil einschlägigen Tarifverträge (ganz oder teilweise) aufgrund arbeitsvertraglicher Inbezugnahmeklausel auf das jeweilige Arbeitsverhältnis Anwendung finden.
5.1.2 Die Anträge zu 1. bis 6. sind außerdem in zeitlicher Hinsicht unbestimmt. Da die Tarifverträge der Antragstellerin zum 28.02.2021 gekündigt wurden und nur auf Arbeitsverhältnisse im Rahmen der Nachwirkung weiter Anwendung finden, für die bereits vor Ablauf des Tarifvertrages dieser unmittelbar und zwingend galt (vgl. BAG 27.09.2017 – 4 AZR 630/15, juris, Rn. 24), kommt eine Anwendung der Tarifverträge auf nach dem 28.02.2021 abgeschlossene Arbeitsverhältnisse nicht in Betracht.
5.1.3 Soweit die Anträge zu 4., 5. und 6. mit dem Zusatz gestellt werden „bis durch rechtskräftigen Entscheidung eines Arbeitsgerichts festgestellt wurde, dass die E. die meisten in einem Arbeitsverhältnis zur Antragstellerin stehenden Mitglieder hat“ ist nicht hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO auf welche Entscheidung über die Anwendbarkeit der Tarifverträge für welche betriebliche Einheit durch welches Arbeitsgerichts hier überhaupt Bezug genommen werden soll. Eine solche Entscheidung wird jedenfalls nicht im vorliegenden Verfahren getroffen. Hauptsacheverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6 ArbGG i.V.m. § 99 ArbGG wurden – soweit ersichtlich – von der Antragstellerin nicht eingeleitet. Die geltend gemachte vorläufige Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren bis zu der in Bezug genommenen rechtskräftigen Feststellungsentscheidung setzt voraus, dass ein solches Verfahren anhängig gemacht worden ist.
5.2 Den im einstweiligen Verfügungsverfahren geltend gemachten Verpflichtungsund Unterlassungsanträgen fehlt zudem das Rechtsschutzbedürfnis, weil mit § 99 ArbGG ein spezifisches Verfahren zur Verfügung steht, um die streitige Kernfrage, welcher Tarifvertrag im Falle konkurrierender Gewerkschaften zur Anwendung kommt, zu klären.
5.2.1 § 99 ArbGG wurde durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Regelung der Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz) vom 03.07.2015 (BGBl. I S. 1130) mit Wirkung vom 10.07.2015 in das ArbGG eingefügt. Mit dem (Beschluss-)Verfahren gem. § 2a Abs. 1 Nr. 6 ArbGG i.V.m § 99 Abs. 1 können die Tarifvertragsparteien eine Entscheidung über den nach § 4a Abs. 2 S. 2 TVG im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag herbeiführen. Die Antragstellerin bzw. der AGV M. haben bislang ein solches Verfahren nicht eingeleitet. Ein Antrag nach § 99 ArbGG ist auf die positive Feststellung zu richten, dass die Tarifnormen eines bestimmten Tarifvertrages entweder auf alle Arbeitnehmer oder bestimmte Arbeitnehmergruppen in der jeweiligen betrieblichen Einheit Anwendung finden (vgl. Germelmann/Schlewing, § 99 Rn. 3). Als Feststellungverfahren entzieht es sich naturgemäß einer Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren, da eine feststellende Entscheidung zur vorläufigen Sicherung eines Rechtes nicht vollstreckbar wäre. Insoweit ist neben dem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 99 ArbGG eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz nur denkbar, wenn das Hauptsacheverfahren nach § 99 ArbGG bereits eingeleitet wurde, jedoch in absehbarer Zeit eine Entscheidung nicht erreicht werden kann und im Rahmen der summarischen Prüfung eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit des Obsiegens im Hauptsacheverfahren zu bejahen ist. Dies ist hier nicht der Fall. Nach dem Gesetz gilt die nach § 4a TVG vorgesehene Verdrängung des Minderheitentarifvertrages auch während der Durchführung des Feststellungsverfahrens nach § 99 ArbGG; eine anderweitige Regelung für die Dauer des Verfahrens ist jedenfalls gesetzlich nicht vorgesehen. Nach der Intention des Gesetzgebers, die Frage der Geltung von Tarifverträgen im Falle konkurrierender Gewerkschaften in einem eigenen Verfahren, das als Beschlussverfahren mit (eingeschränktem) Untersuchungsgrundsatz ausgestaltet ist, erga omnes – für und gegen jedermann (§ 99 Abs. 3 ArbGG) – zu klären, würde es auch zuwiderlaufen, wenn im einstweiligen Verfügungsverfahren vorläufige Entscheidungen über die Geltung von Tarifverträgen gegenüber einzelnen Mitgliedsunternehmen getroffen würden. In seinem Beschluss vom 19.05.2020 (Az. 1 BvR 2832/19) hat das BVerfG den Tarifvertragsparteien aufgegeben, durch Anrufung der Fachgerichte zu klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden seien, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen könnten. Das wäre jeweils konkret und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG zu klären.
Im Einzelnen führte das BVerfG dazu aus: „Werden die Fachgerichte … angerufen, müssen diese klären, ob eine Mehrheitsgewerkschaft die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, die erst zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können. Nach den Gesetzesmaterialien hat der Gesetzgeber einen „prozeduralen Ansatz“ gewählt (vgl. BTDrucks 19/6146, S. 31) und die konkrete Ausgestaltung den Beteiligten überlassen; in der Literatur wird auf verschiedene Möglichkeiten der Interessenberücksichtigung hingewiesen, vom Mindestorganisationsgrad über Vorgaben der Satzung für die Willensbildung der Mehrheitsgewerkschaft bis zum Sitz in Tarif- und Verhandlungskommissionen oder einem Veto-Recht (vgl. Klein, DB 2019, S. 545 ; Sura, ZPR 2018, S. 171 ; von Steinau-Steinrück/Gooren, NZA 2017, S. 1149 ). Was hier den rechtlichen Anforderungen genügt, ist damit jeweils konkret und unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertungen des Art. 9 Abs. 3 GG (dazu BVerfGE 146, 71 ) zu klären. Dabei kann sich der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gerade nicht auf eine „Richtigkeitsvermutung“ (BTDrucks 19/6146, S. 31; zum Grundsatz BVerfGE 146, 71 ) zugunsten aller unter seinen Geltungsbereich fallenden Beschäftigten stützen, sondern die Gerichte haben gerade zu klären, ob alle Interessen berücksichtigt worden sind. Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stößt (dazu Bepler, in: jurisPR-ArbR 51/2018 Anm. 1; Klein, DB 2019, S. 545 ; weitergehend Drescher, DÖD 2019, S. 109; Löwisch, RdA 2019, S. 169; zurückhaltend Giesen/Rixen, NZA 2019, S. 577 ; Hromadka, NZA 2019, S. 215), muss sich zunächst „vor Ort“ zeigen, bevor das Bundesverfassungsgerichts die Frage beantworten kann, ob das noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist.“ Eine solche Klärung kann allein in einem Hauptsacheverfahren stattfinden; eine derart umfassende fachgerichtliche Klärung kann nicht in das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verlagert werden.
II.
Der Antrag ist zudem nicht begründet. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung gem. § 85 Abs. 2 ArbGG i.V.m. §§ 935, 940 ZPO ist stets die Glaubhaftmachung eines Verfügungsanspruchs und eines Verfügungsgrunds. Es fehlt im vorliegenden Fall sowohl der Verfügungsanspruch als auch der Verfügungsgrund. Da der Antrag, wie ausgeführt, bereits unzulässig ist, wird zur Begründetheit in der gebotenen Kürze wie folgt ausgeführt:
1.1 Die Anträge sind bereits als Globalanträge unbegründet.
1.1.1 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein Globalantrag, der eine Vielzahl von Fallgestaltungen erfasst, insgesamt als unbegründet abzuweisen, wenn es darunter zumindest auch Fallgestaltungen gibt, in denen sich der Antrag als unbegründet erweist (vgl. etwa BAG 03.06.2003 – 1 ABR 19/02, Rn. 27, juris, m.w.N.).
1.1.2 Wie bereits unter I.5.1.2 ausgeführt, sind die Anträge zu 1. bis 6. in zeitlicher Hinsicht unbestimmt. Da die Tarifverträge der Antragstellerin zum 28.02.2021 gekündigt wurden und nur auf Arbeitsverhältnisse in Rahmen der Nachwirkung weiter Anwendung finden, für die bereits vor Ablauf des Tarifvertrages dieser unmittelbar und zwingend galt (vgl. BAG 27.09.2017 – 4 AZR 630/15, juris, Rn. 24), kommt eine Anwendung der Tarifverträge auf nach dem 28.02.2021 abgeschlossene Arbeitsverhältnisse nicht in Betracht. Nach dem Wortlaut der Anträge soll die Antragsgegnerin aber ohne zeitliche Begrenzung – also auch in Bezug auf nach dem 28.02.2021 begründete Arbeitsverhältnisse – verpflichtet werden, die Tarifverträge der Antragstellerin anzuwenden bzw. die Anwendung der Tarifverträge der E. unterlassen. Insoweit sind für sämtliche Anträge Fallkonstellationen denkbar, in denen sich der Antrag – wegen Begründung des Arbeitsverhältnisses des betreffenden Arbeitnehmers nach dem 28.02.2021 – als unbegründet erweist.
1.2 Ein Anspruch auf Unterlassen der Anwendung der Tarifverträge der Antragstellerin gegen ein Mitgliedsunternehmen der AGV M. entgegen § 4a TVG ist zweifelhaft. Jedenfalls ist § 4a TVG nicht offensichtlich verfassungswidrig. Die Antragstellerin hat auch keinen Anspruch auf Anwendung und Durchführung der bereits zum 28.02.2021 gekündigten Tarifverträge.
1.2.1 Das BVerfG hat mit Urteil vom 11.07.2017 (Az. 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16) die Kollisionsregelung insoweit für verfassungswidrig gehalten, als Vorkehrungen dagegen fehlten, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen in einem solchen Fall einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber verabschiedete daraufhin zum 01.01.2019 die neue Regelung des § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG, gegen die sich die Antragstellerin nunmehr mit dem Unterlassungsantrag zu 3. und 6. sowie im Rahmen der Verpflichtungsanträge zu 1., 2., 4. und 5. wendet. Nach der Neuregelung sind neben dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft in einem Betrieb auch die Rechtsnormen des Minderheitstarifvertrags anwendbar, wenn beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrages die Interessen von Arbeitsnehmergruppen, die von dem Minderheitstarifvertrag erfasst werden, nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt sind. Welcher Tarifvertrag bei kollidieren Gewerkschaften zur Anwendung kommt, kann im Rahmen eines Verfahren gem. § 2a Abs. 1 Nr. 6 ArbGG i.V.m. § 99 ArbGG festgestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 19.05.2020 (Az. 1 BvR 2832/19) darauf hingewiesen, dass die – nunmehr auch hier streitgegenständliche Regelung – in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG anders als die vorhergehende, vom Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Tarifeinheit zum Teil beanstandete Regelung dazu führe, dass der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft nicht immer und voraussetzungslos verdrängt werde. Vielmehr gelte dies nun nur, soweit die Interessen der Arbeitnehmergruppe der Minderheitsgewerkschaft beim Zustandekommen des von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags keine „ernsthafte und wirksame Berücksichtigung“ gefunden haben. Gelingt es nicht, die Interessen der Arbeitnehmergruppen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam zu berücksichtigen, wird ihr Tarifvertrag auch nicht verdrängt (vgl. BVerfG 19.05.2021 – 1 BvR 2832/19, Rn. 5). Inwiefern die streitgegenständliche Neuregelung auf praktische Schwierigkeiten stoße, müsse sich zunächst „vor Ort“ – nach fachgerichtlicher Klärung, ob mit dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft alle Interessen berücksichtigt worden sind – zeigen, bevor das Bundesverfassungsgerichts die Frage beantworten kann, ob das noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen des BVerfG kann eine offensichtliche Verfassungswidrigkeit des § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG nicht angenommen werden. Auch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach § 100 Abs. 1 GG ist nicht tunlich, da zunächst, wie ausgeführt, die fachgerichtliche Klärung erfolgen muss bevor sich das BVerfG mit der Frage der Vereinbarkeit des § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 TVG mit Art. 9 Abs. 3 GG befassen kann.
1.2.2 Ein direkter Anspruch der Antragstellerin gegen ein Mitglied eines Arbeitgeberverbandes auf Durchführung eines Tarifvertrags ist nicht ersichtlich. Wie die Antragsgegnerin zutreffend ausführt, sieht das Tarifvertragsgesetz keine Verfahrensart vor, in der eine Gewerkschaft Tarifverträge unmittelbar gegenüber einem verbandsgebundenen Arbeitgeber durchsetzen kann. Die Durchsetzung ihrer tariflichen Rechte kann einerseits von den betroffenen Arbeitnehmern im Rahmen eines Individualstreitverfahrens geltend gemacht werden, bei dem inzidenter die Frage der Anwendbarkeit der Tarifverträge zu prüfen ist. Andererseits kann nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Gewerkschaft mittels einer sog. Einwirkungsklage gegen ihren Tarifvertragspartner – also hier gegen den AGV M. – vorgehen (vgl. BAG 29.04.1992 – 4 AZR 432/91, juris, Rn. 24 ff.). Dabei gehört es grundsätzlich auch zur Einwirkungspflicht einer Tarifvertragspartei gegenüber dem Tarifpartner, dass sie auf ihre Mitglieder einwirkt, tarifwidrige Maßnahmen, seien sie einseitig oder vereinbart, zu unterlassen. Darauf, ob die Satzung der Tarifvertragspartei bestimmte Einwirkungsmittel oder Sanktionen gegen die eigenen Verbandsmitglieder vorsieht, kommt es nicht an. Zumindest kann die Tarifvertragspartei – auch ohne besondere Regelung in der Satzung – ein Verbandsmitglied auffordern, sich tarifgerecht zu verhalten und bestimmte tarifwidrige Maßnahmen zu unterlassen (vgl. dazu BAG 29.04.1992 – 4 AZR 432/91, a.a.O., Rn. 27).
1.3 Der Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung wäre aber auch wegen des Nichtvorliegens eines Verfügungsgrundes abzulehnen.
1.3.1 Der neben dem Verfügungsanspruch erforderliche Verfügungsgrund besteht in der Eilbedürftigkeit, in der Dringlichkeit der Entscheidung (vgl. Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 935 ZPO Rn. 10); es muss ein Grund dafür vorhanden sein, dass schon vor Durchführung des Hauptsacheverfahrens Rechtsschutz gewährt werden darf (vgl. Dunkl/Moeller/Baur/Feldmeier, Handbuch des vorläufigen Rechtsschutzes, 3. Aufl., Teil A, Rn. 504). Bei einer Leistungs- und Befriedigungsverfügung sind an den Verfügungsgrund besonders hohe Anforderungen zu stellen, da durch die Leistungsverfügung die Hauptsache zumindest teilweise vorweggenommen wird (vgl. Dunkl/Moeller/Baur/Feldmeier, a.a.O., Teil A, Rn. 507). Anders als eine nur sichernde Maßnahme belastet eine Befriedigungsverfügung den Antragsgegner in besonderem Maße, da die Befriedigungsverfügung meist nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. LAG München 14.09.2005 – 9 Sa 891/05, Rn. 25, juris). Darüber hinaus schließt § 85 Abs. 2 die Anwendung von § 945 ZPO aus, so dass ein durch den Vollzug der einstweiligen Verfügung entstandener Schaden nicht ersetzt wird (vgl. Germelmann/Spinner, § 85 Rn. 36). Der Verfügungsgrund für eine Leistungsgewährung kann nicht mit dem Justizgewährungsanspruch als solchem begründet werden. Denn der Anspruch des vermeintlichen Schuldners, einen in Wirklichkeit nicht bestehenden Anspruch abzuwehren, hat durchaus denselben rechtlichen Stellenwert wie der Anspruch des Gläubigers, einen bestimmten Anspruch durchsetzen zu wollen. Erst schwerwiegende besondere Umstände des konkreten Einzelfalls, aus denen sich eindeutig ein überwiegendes Interesse einer Seite an einer ihr positiven Entscheidung ergibt, können es rechtfertigen, eine Leistungsverfügung zu erlassen. Es ist in erster Linie der zu erwartende Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen, sofern er sicher beurteilt werden kann. Zudem sind die Anforderungen an die Glaubhaftmachung umso höher, je weniger wahrscheinlich das Vorliegen eines Verfügungsanspruchs ist (vgl. LAG München 12.10.2005 – 9 Sa 856/05, Rn. 28).
1.3.2 Die Antragstellerin begehrt hier eine solche Befriedigungsverfügung. Mit einer positiven Entscheidung im einstweiligen Verfügungsverfahren wäre eine Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens auf Feststellung der Anwendbarkeit der Tarifverträge der Antragstellerin sowie Unterlassung der Anwendung der Tarifverträge der E. gegeben. Sinn und Zweck einer einstweiligen Verfügung ist es aber nicht, eine möglichst schnelle Erfüllung eines Verfügungsanspruchs zu ermöglichen (vgl. Germelmann/Spinner, 9. Aufl., § 85 Rn. 35). Es muss die Besorgnis bestehen, dass die Verwirklichung eines Rechts ohne eine baldige einstweilige Regelung vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Zur Abwendung dieser Gefahr muss die einstweilige Verfügung erforderlich sein (vgl. Germelmann/Spinner, a.a.O.). Die wegen des zweifelhaften Vorliegens eines Verfügungsanspruchs hier erhöhten Anforderungen an den Verfügungsgrund einer Befriedigungsverfügung sind jedoch nicht erfüllt, da die Antragstellerin auch keinen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht hat. Der Vortrag zum angeblich unwiederbringlichen Verlust einer „Vielzahl von tarifvertraglich vereinbarten Ansprüchen“ ist völlig pauschal und nicht ansatzweise glaubhaft gemacht. Zudem hat die Antragsgegnerin vorgetragen, dass die Feststellung der Mehrheitsgewerkschaften ergeben habe, dass in mindestens 16 Betrieben die Tarifverträge der Antragstellerin zur Anwendung kommen. Diesen Vortrag hat die Antragstellerin nicht bestritten, so dass er als zugestanden gilt (§ 138 Abs. 3 ZPO). Die Antragstellerin kann den Verfügungsgrund auch nicht damit begründen, ihr sei ein Abwarten dahingehend nicht zumutbar, dass die Gewerkschaftsmitglieder ihre durch die Nichtanwendung der Tarifverträge der Antragstellerin unwiederbringlich „untergegangenen“ tariflichen Ansprüche selbst klageweise geltend machen. Denn sie kann die Dringlichkeit einer Entscheidung nur auf eigene Rechtsverletzungen stützen, nicht jedoch auf solche Dritter.
1.3.3 Hinzukommt, dass die Antragstellerin die Dringlichkeit der Entscheidung durch ihre Untätigkeit von fast vier Monaten selbst widerlegt hat.
Ein Verfügungsgrund fehlt, wenn der Antragsteller trotz ursprünglich bestehender Regelungsbedürfnisse lange zugewartet hat, bevor er die einstweilige Verfügung beantragt (vgl. Zöller/Vollkommer, 33. Aufl. 2020, § 940 Rn. 4; m.w.N.). Der Antragstellerin war seit Zugang des Schreibens der AG M. vom 16.02.2021 (vgl. Anlage AG 3, Bl. 116 ff. d.A.) bekannt, dass die Mitgliedsunternehmen der Antragsgegnerin nur noch die Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb anwenden werden. Gleichwohl lehnte die Antragstellerin die Durchführung des angebotenen Verfahrens zur Feststellung der Mehrheitsverhältnisse mit Hilfe eines Notars ab und blieb offenbar im Übrigen bis zur Einreichung des vorliegenden Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 08.06.2021 untätig. Dieses lange Zuwarten von fast vier Monaten ist als dringlichkeitsschädlich anzusehen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Da die Antragstellerin unterlegen ist, hat sie die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstands erfolgt gem. §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 3 ZPO: Für jeden Antrag wurde der Grundwert des § 23 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz RVG zu Grunde gelegt.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil kann die Antragstellerin Berufung einlegen.
Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat schriftlich beim Landesarbeitsgericht München Winzerer straße 106
80797 München eingelegt werden.
Die Berufung muss innerhalb von zwei Monaten schriftlich begründet werden. Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des Urteils, spätestens jedoch mit Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung des Urteils.
Die Berufungsschrift und die Berufungsbegründungsschrift müssen jeweils von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Sie können auch von dem Bevollmächtigten einer Gewerkschaft, eines Arbeitgeberverbandes oder eines Zusammenschlusses solcher Verbände unterzeichnet werden, wenn sie für ein Mitglied eines solchen Verbandes oder Zusammenschlusses oder für den Verband oder den Zusammenschluss selbst eingelegt wird.
Mitglieder der genannten Verbände können sich auch durch den Bevollmächtigten eines anderen Verbandes oder Zusammenschlusses mit vergleichbarer Ausrichtung vertreten lassen.
Die Berufung kann auch in elektronischer Form eingelegt und begründet werden. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg entsprechend § 46c ArbGG übermittelt werden. Wegen näherer Einzelheiten wird verwiesen auf die Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) vom 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung.
Das Landesarbeitsgericht bittet, alle Schriftsätze in fünffacher Fertigung einzureichen.

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