Aktenzeichen 10 C 15.2641
Leitsatz
1 Ein Rechtsmittel gegen die Ablehnung einer Duldung ist unzulässig, wenn der betreffende Ausländer mit unbekanntem Aufenthalt untergetaucht ist und die Abschiebung dadurch gegenwärtig unmöglich macht. In dieser Situation steht die Abschiebung nicht unmittelbar bevor, sodass kein Rechtsschutzbedürfnis für gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz besteht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Abschiebung ist auszusetzen, wenn zu minderjährigen Kindern eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung die Kinder zu ihrem Wohl angewiesen sind (vgl. BVerfG BeckRS 2013, 53078). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. November 2015 wird dem Kläger für das Verfahren Au 1 K 15.1648 Prozesskostenhilfe gewährt und Rechtsanwalt M., M1, beigeordnet.
Gründe
I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Erteilung einer Duldung weiter.
Der am 13. Oktober 1983 geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger. Er reiste 1991 zusammen mit seiner Mutter in das Bundesgebiet ein und wurde in einem Asylfolgeverfahren als Flüchtling anerkannt. Der Kläger war bis 20. Oktober 2006 in Besitz von Aufenthaltserlaubnissen. Mit Bescheid vom 5. August 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 7. August 2012 ab. Einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 21. April 2015 ab.
Mit Bescheid vom 2. November 2009 lehnte die damals für den Kläger zuständige Ausländerbehörde den Antrag vom 5. Oktober 2006 auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis ab, weil er vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und somit ein Ausweisungsgrund vorliege. Dem Kläger wurde eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt. Zuletzt hatte die Beklagte dem Kläger am 26. August 2014 eine bis 4. Mai 2015 gültige Duldung ausgestellt und ihm die Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit gestattet.
Der Kläger beging im Zeitraum vom 1999 bis 2014 eine Reihe von Straftaten im Betäubungsmittelbereich und zahlreiche Eigentums- sowie Körperverletzungsdelikte. Das Bundeszentralregister weist 14 Eintragungen auf. Er war mehrfach inhaftiert. Im Jahr 2011 absolvierte er eine Drogentherapie.
Am 8. August 2011 wurde seine Tochter A. geboren. Sie ist türkische Staatsangehörige. Am 16. Februar 2013 wurde der Kläger Vater der Tochter Z., die ebenfalls türkische Staatsangehörige ist. Zu den beiden Mädchen hat er seit seiner Haftentlassung im Mai 2015 wieder regelmäßig Kontakt. Zuletzt verbrachten sie jedes Wochenende bei ihm.
Mit Bescheid vom 25. März 2015 wies die Beklagte den Kläger wegen seiner Straffälligkeit aus dem Bundesgebiet aus, lehnte seine Anträge vom 2. April 2013 und 25. Juni 2014 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und drohte die Abschiebung in sein Heimatland an. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Augsburg (Au 1 K 15.559). Zugleich beantragte er, die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Duldung für sechs Monate zu erteilen (Au 1 K 15.746).
Der Kläger verzog während des laufenden verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aus dem Stadtgebiet der Beklagten in den Landkreis A.-F. und meldete sich dort beim Einwohnermeldeamt an.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Augsburg am 27. Oktober 2015 nahm der damalige Bevollmächtigte des Klägers die Klage im Verfahren Au 1 K 15.746 zurück. Im Verfahren Au 1 K 15.559 beschränkte er seinen Klageantrag auf die Aufhebung der Ausweisungsverfügung (dann Au 1 K 15.1594). Mit Urteil vom 27. Oktober 2015 hob das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg die im Bescheid vom 25. März 2015 verfügte Ausweisung und die diesbezügliche Befristungsentscheidung auf. Bezüglich der Abschiebungsandrohung wies es die Klage ab.
Nach der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober 2015 übergab die Beklagte dem Bevollmächtigten des Klägers ein Schreiben, in dem sie die Abschiebung des Klägers in den Iran für den 6. November 2015 ankündigte und ihm aufgab, sich an diesem Tag ab 7.30 Uhr vor dem Anwesen L.-weg … in O., seiner neuen Adresse, zur Abholung durch die Polizei bereitzuhalten.
Aufgrund dieses Schreibens beantragte der Kläger am 28. Oktober 2015 beim Landratsamt A.-F. die Erteilung einer Duldung für zunächst sechs Monate, um den Kontakt zu seinen Töchtern aufrechterhalten zu können. Diesen Antrag lehnte das Landratsamt mit Bescheid vom 4. November 2015 wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit ab. Es berief sich auf § 50 Abs. 4 und § 61 Abs. 1d AufenthG.
Die für den 6. November 2015 geplante Abschiebung des Klägers konnte die Beklagte nicht durchführen, weil der Kläger sich nicht an seinem Wohnort aufhielt. Auch in der Wohnung der Mutter seiner beiden Töchter und der Wohnung seiner ehemaligen Verlobten wurde er nicht angetroffen.
Am selben Tag beantragte der Kläger sowohl bei der Beklagten als auch beim Landratsamt A.-F. die Erteilung einer Duldung und erhob gegen die Beklagte eine diesbezügliche Verpflichtungsklage (Au 1 K 15.1648) mit dem zusätzlichen Antrag, ihm Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren zu bewilligen. Zugleich beantragte er beim Verwaltungsgericht Augsburg, es der Beklagten bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage zu untersagen, weitere aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen (Au 1 E 15.1649). Er machte geltend, dass die beabsichtigte Abschiebung wegen des Verhältnisses zu seinen beiden Töchtern rechtswidrig sei.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg lehnte den Antrag auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung im Verfahren Au 1 E 15.1649 mit Beschluss vom 17. November 2015 ab. Der Antrag sei bereits wegen des Untertauchens des Antragstellers unzulässig. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof untersagte unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. November 2015 der Beklagten mit Beschluss vom 26. Januar 2016 (10 CE 15.2640), bis zu einer Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde über die Anträge auf Erteilung einer Duldung aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem Kläger einzuleiten bzw. durchzuführen und gewährte ihm insoweit Prozesskostenhilfe. Der Kläger habe hinreichend glaubhaft gemacht, dass er nicht untergetaucht sei. Bezogen auf die Zuständigkeit für die Erteilung einer Duldung seinen komplexe Rechtsfragen zu klären. Im Hinblick auf einen etwaigen Duldungsanspruch wegen der Beziehung zu seinen Töchtern fehlten Sachverhaltsfeststellungen zum Kindeswohl.
Ebenfalls mit Beschluss vom 17. November 2016 (Au 1 K 15.1648) lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Klage auf Erteilung einer Duldung ab. Wegen des „Untertauchens“ des Klägers und der mangelnden Angabe einer ladungsfähigen Anschrift fehle es bereits am Rechtsschutzbedürfnis.
Gegen diesen Beschluss erhob der Kläger Beschwerde mit dem Antrag,
ihm unter Aufhebung des Beschlusses vom 17. November 2015 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und seinen Bevollmächtigten beizuordnen.
Dem Kläger gehe es nur darum, dass über seinen Antrag auf Erteilung einer Duldung in der Sache entschieden werde. Er sei nach wie vor der Auffassung, dass das Landratsamt A.-F. zuständige Behörde sei, sonst hätte er seine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und einer Duldung nicht in der mündlichen Verhandlung vom 27. Oktober 2015 zurücknehmen können. Der Kläger habe ein sehr inniges Verhältnis zu seinen beiden Töchtern. Die Mutter der Töchter habe inzwischen beim Notar eine gemeinsame Sorgerechtsentscheidung abgegeben, die der Kläger angenommen habe.
Ergänzend wird auf die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten, auch in den Verfahren 10 CE 15.2640 und 10 ZB 15.2656, verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Klage des Klägers auf Erteilung einer Duldung zu Unrecht abgelehnt. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 und § 121 Abs. 2 ZPO liegen vor.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Rechtsverfolgung des Klägers bietet zum für die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (st. Rspr.; vgl. z. B. BayVGH, B.v. 11.1.2016 -10 C 15.724 -juris Rn. 14 m. w. N.) hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil die Erfolgsaussichten seiner Klage auf Erteilung einer Duldung zumindest offen sind.
Das Verwaltungsgericht ist letztlich zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für seine Klage habe, weil er untergetaucht sei, und er gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen habe, weil er keine ladungsfähige Anschrift angegeben habe.
Zwar vertritt auch der Senat in ständiger Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 22.1.2016 – 10 CE 15.2799 m. w. N.) die Auffassung, dass ein Rechtsmittel gegen die Ablehnung einer Duldung unzulässig ist, wenn der betreffende Ausländer mit unbekanntem Aufenthalt untergetaucht ist und die Abschiebung dadurch gegenwärtig unmöglich macht. In dieser Situation steht nämlich die Abschiebung nicht unmittelbar bevor, so dass kein Rechtsschutzbedürfnis für gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz besteht. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 26. Januar 2016 (10 CE 15.2640) ausgeführt hat, ist der Kläger aber nicht „untergetaucht“. Die Beklagte hat zwar die Tatsache, dass er sich am Tag der geplanten Abschiebung nicht an seinem Wohnort aufgehalten hat, zum Anlass genommen, den Kläger als „untergetaucht“ zu führen und die Abmeldung von seiner Wohnadresse vorzunehmen. Aus den Akten und dem Vorbringen des Bevollmächtigten ergibt sich aber, dass der Kläger von seinem jetzigen Wohnort weiter Kontakt zu seinem Prozessbevollmächtigten gehalten und sogar einen neuen Bevollmächtigten beauftragt hat und offensichtlich nicht nur für seine beiden Töchter und deren Mutter und seine Eltern dort erreichbar ist. Ergänzend wird insoweit auf die Ausführungen im Beschluss vom 26. Januar 2016 verwiesen.
Die Voraussetzungen des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegen entgegen der Ansicht des Erstgerichts ebenfalls vor. Der Kläger hat als ladungsfähige Anschrift diejenige Adresse angegeben, unter der er bis zur Abmeldung durch die Beklagte gemeldet und jedenfalls schriftlich zu erreichen war, auch wenn er sich im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags nicht ständig dort aufgehalten hat. Bestehen Zweifel, dass sich der Kläger an der genannten Adresse tatsächlich aufhält, so muss ihm zunächst gemäß § 82 Abs. 2 VwGO Gelegenheit gegeben werden, eine Adresse, an der er tatsächlich zu erreichen ist, anzugeben, bevor die Klage wegen Fehlens einer Voraussetzung nach § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO als unzulässig abgewiesen werden darf.
Hinreichende Erfolgsaussichten der Klage bestehen auch im Hinblick auf die Passivlegitimation der Beklagten. Aufgrund fehlender tatsächlicher Feststellungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und noch zu klärender komplexer Rechtsfragen zur Anwendung des § 61 Abs. 1d AufenthG ist derzeit offen, ob die Klage auf Erteilung einer Duldung gegen den richtigen Beklagten gerichtet ist. Nach dem Umzug des Klägers aus dem Stadtgebiet der Beklagten in den Landkreis A.-F. ist nach § 5 Abs. 1 Satz 1 ZustVAuslR grundsätzlich das Landratsamt A.-F zuständig geworden. Nach Rücknahme der Klage auf Erteilung einer Duldung gegen die Beklagte in der mündlichen Verhandlung wegen fehlender Passivlegitimation hat der Kläger daher zunächst beim Landratsamt A.-F. einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt, der mit Bescheid vom 4. November 2015 wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit abgelehnt worden ist. Das Landratsamt A.-F. war der Ansicht, der Aufenthalt des Klägers sei gemäß § 61 Abs. 1d AufenthG auf das Stadtgebiet der Beklagten beschränkt. Fraglich ist jedoch, ob die vom Landratsamt A.-F. vertretene Rechtsauffassung zutreffend ist und die Tatbestandsvoraussetzungen des § 61 Abs. 1d AufenthG überhaupt vorliegen. Es fehlen tatsächliche Feststellungen dazu, ob der Lebensunterhalt des Klägers gesichert ist. Zum anderen ist (ober-)gerichtlich noch nicht abschließend entschieden, ob § 61 Abs. 1d AufenthG auch dann Anwendung findet, wenn dem betreffenden Ausländer tatsächlich keine Aussetzung der Abschiebung gewährt, also nur negativ über seinen Antrag auf Erteilung einer Duldung entschieden worden ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.1.2016 – 10 CE 15.2640 – Rn. 24 m.w.N).
Auch in Bezug auf den geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Duldung bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es ist zumindest offen, ob die Abschiebung des Klägers auszusetzen ist, weil zwischen ihm und seinen Töchtern eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung die Kinder zu ihrem Wohl angewiesen sind (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). Aufgrund der Aussagen der Mutter der Kinder steht zwar fest, dass der Kläger seine Töchter regelmäßig sieht und sie die Wochenenden bei ihm verbringen. Zudem ist er inzwischen gemeinsam mit der Mutter formal sorgeberechtigt. Es fehlen jedoch Feststellungen dazu, ob das Wohl der Kinder erheblich beeinträchtigt wäre, wenn sie über einen längeren Zeitraum keinen regelmäßigen persönlichen Kontakt mit dem Kläger hätten.
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Weder fallen Gerichtskosten an, noch können Kosten erstattet werden. Gerichtskosten können im Prozesskostenhilfeverfahren gemäß § 3 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage zu § 3 Abs. 2 GKG) nur erhoben werden, soweit anders als hier eine Beschwerde gegen die erstinstanzliche Prozesskostenhilfeentscheidung verworfen oder zurückgewiesen wird. Eine Kostenerstattung ist sowohl für das Bewilligungs- als auch für das Beschwerdeverfahren ausgeschlossen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 und § 127 Abs. 4 ZPO). Da Gerichtskosten nicht erhoben werden können, ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).