Arbeitsrecht

Fahrtkostenentschädigung: Auslegung einer tarifvertraglichen Regelung (“kürzeste mit dem Pkw zurückzulegende verkehrsübliche Fahrstrecke”)

Aktenzeichen  4 Ca 5054/15

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 124040
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
TVG § 1

 

Leitsatz

Sieht ein Tarifvertrag (hier: TV Ratio) eine Fahrtkostenentschädigung auf der Grundlage der “kürzesten mit dem Pkw zurückzulegenden verkehrsüblichen Fahrstrecke zwischen Wohnung und alter bzw. neuer Regelarbeitsstelle/ständiger Dienststelle” vor, ist wegen des zusätzlichen Merkmals “verkehrsüblich” nicht auf die kürzeste Straßenverbindung abzustellen. Maßgeblich ist, welche Strecke ein verständiger Fahrer – abstrakt – für seine Fahrten wählen würde. Bei dieser Entscheidung spielen nicht nur die Länge der Strecke und die Fahrdauer eine Rolle, sondern insbesondere auch die Sicherheit und das Fahrverhalten (wie LAG Nürnberg BeckRS 2015, 70842 Rn. 47 ff. zu Art. 12 Abs. 1 BayUKG; OVG Münster BeckRS 9998, 29265 zu § 6 NRWTEVO; vgl. auch VGH München BeckRS 2011, 33573 zu Art. 12 Abs. 1 BayUKG; entgegen – nachgehend – LAG Nürnberg BeckRS 2016, 120926, Revision anhängig: BAG, 1 AZR 37/17) (Rn. 25 – 33) (red. LS Alke Kayser)

Gründe

I.
Die Klage ist zulässig.
1. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3a) ArbGG eröffnet.
2. Das Arbeitsgericht Nürnberg ist für die Entscheidung des Rechtsstreits gem. § 48 Abs. 1a ArbGG örtlich zuständig, da die Klägerin ihre Arbeit seit 29.06.2015 in der B-Straße in B-Stadt verrichtet.
3. Das für die Feststellungsklage gem. §§ 46 Abs. 2 Satz 1, 495 ZPO, 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben. Ein Feststellungsinteresse liegt vor, wenn dem Recht oder der Rechtslage eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen (vgl. BGH v. 19.11.2014 – VIII ZR 79/14). Bei der positiven Feststellungsklage ist das Feststellungsinteresse in der Regel gegeben, wenn der Beklagte das Recht des Klägers ernsthaft bestreitet (vgl. BGH v. 07.02.1986 – V ZR 201/84). Dies ist vorliegend der Fall, da die Beklagte von anderen Ausgangsvoraussetzungen zur Berechnung des Erstattungsbetrags ausgeht. Nichts anderes folgt daraus, dass § 258 ZPO bei wiederkehrenden Leistungen eine Klage auf künftige Entrichtung auch wegen der erst nach Erlass des Urteils fällig werdenden Leistungen zulässt. Denn eine solche Klage könnte die Klägerin nicht mit Erfolg erheben. Wiederkehrend im Sinne des § 258 ZPO sind Ansprüche, die sich als einheitliche Folgen aus einem Rechtsverhältnis ergeben, so dass die einzelne Leistung in ihrer Entstehung nur noch vom Zeitablauf abhängig ist. Allerdings muss dazu die Leistungspflicht im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach Grund und Höhe mit ausreichender Sicherheit feststehen. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil die von der Beklagten zu zahlenden Abschläge gem. Anlage 5 des TV Ratio davon abhängen, dass sich die Entfernung zum Arbeitsort nicht – beispielsweise durch Umzug – verändert. Es kann dahinstehen, ob es der Klägerin möglich und zumutbar wäre, eine Klage auf künftige Leistung der Abschläge gem. § 259 ZPO zu erheben. Denn die Möglichkeit einer solchen Klage steht der Zulässigkeit der Feststellungsklage und dem dafür nach § 256 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderlichen Feststellungsinteresse nicht entgegen (vgl. BGH v. 19.11.2014, aaO).
II.
Die Klage ist begründet.
1. Die Klägerin hat gemäß der Gesamtbetriebsvereinbarung zwischen der TDG und dem GBR über den Interessenausgleich und Sozialplan nach §§ 111,112 BetrVG zur Umsetzung des Standortkonzepts VSD GK in Verbindung mit Anlage 5 zum TV Ratio in Verbindung mit Anlage 5 zur genannten Gesamtbetriebsvereinbarung für die Vergangenheit einen Anspruch auf Zahlung einer zusätzlichen Fahrtkostenentschädigung in Höhe von 259 € brutto.
a) Die Fahrtkostenentschädigung der Klägerin muss auf Basis einer einfachen Mehrstrecke von 107,90 Kilometern berechnet werden, so dass die Beklagte der Klägerin eine Fahrtkostenentschädigung von insgesamt 14.286,00 € schuldet.
aa) Die Klägerin erfüllt unstreitig die Voraussetzungen für den Bezug einer Fahrtkostenerstattung. Sie wurde von ihrer alten Regelarbeitsstelle in W-Stadt in die neue Regelarbeitsstelle nach B-Stadt versetzt und muss nun angesichts ihres Wohnsitzes in A-Stadt einen deutlich weiteren Arbeitsweg zurücklegen. Da sie in Entgeltgruppe 7 eingruppiert ist, gehört sie gemäß § 9 Abs. 2 der Gesamtbetriebsvereinbarung zu den Mitarbeitern, die Fahrtkostenerstattung nach den Vorgaben der Anlage 5 zum TV Ratio sowie – was die Höhe anbelangt – nach Anlage 5 der Gesamtbetriebsvereinbarung erhalten.
bb) Nach Auffassung der Kammer ist bei dem Vergleich der Wegstrecken, der gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 der Anlage 5 des TV Ratio vorzunehmen ist, nicht auf die Route über die Bundesstraße B8, sondern auf die Route über die Autobahn A3 abzustellen.
(1) Ausgangspunkt ist die Auslegung von § 4 Abs. 2 Satz 2 der Anlage 5 zum TV Ratio. Demnach richtet sich die Ermittlung der zusätzlich zurückzulegenden Entfernungskilometer nach der kürzesten mit dem Pkw zurückzulegenden verkehrsüblichen Fahrstrecke zwischen Wohnung und alter bzw. neuer Regelarbeitsstelle/ständiger Dienststelle. Eine Definition, was unter der „kürzesten verkehrsüblichen Strecke“ zu verstehen ist, findet sich weder in Anlage 5 zum TV Ratio noch in der oben genannten Gesamtbetriebsvereinbarung. Dementsprechend muss von Amts wegen eine Auslegung der tarifvertraglichen Vorschrift vorgenommen werden.
(2) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Dabei ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei einem nicht eindeutigen Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in der tariflichen Norm seinen Niederschlag gefunden hat. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen. Führen diese Grundsätze nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ist letztlich der Auslegung der Vorzug zu geben, die bei einem unbefangenen Durchlesen der Regelung als näherliegend erscheint und folglich von den Normadressaten typischerweise als maßgeblich empfunden wird (vgl. BAG v. 22.04.2010 – 6 AZR 962/08).
(3) Vorliegend ist der Wortlaut der getroffenen Regelung nicht eindeutig, da die Bedeutung des Wortes „verkehrsüblich“ offen ist. Dies kann zum einen einfach nur bedeuten, dass es sich um eine öffentliche Straße handeln muss, die für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen geeignet und zulässigerweise zu befahren ist (so die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Zusammenhang mit der Gewährung von Fahrtkostenerstattung nach Art. 12 Abs. 2 BayUKG; vgl. bspw. BayVGH v. 14.07.2011 – 14 B 09.2349; vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 13.09.2012 – 10 Sa 128/12). Es kann zum anderen aber auch ausdrücken, dass es sich um die Wegstrecke handeln muss, die ein verständiger Autofahrer in der Situation des Betroffenen wählen würde (vgl. LAG Nürnberg v. 14.04.2015 – 7 Sa 432/14; so auch VG Würzburg v. 04.04.2008 – W 1 K 07.1383). Hinweise zur gewollten Auslegung durch die Tarifvertragsparteien finden sich im Tarifvertrag nicht.
(a) Nach Auffassung der Kammer ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien mit der Verwendung des Wortes „verkehrsüblich“ nicht nur etwas Selbstverständliches festhalten wollten, sondern tatsächlich ein zusätzliches Kriterium für die Festlegung der maßgeblichen Strecke aufstellen wollten.
Dass es sich bei der gewählten Straße um eine geeignete und zulässigerweise befahrene Straße handeln muss, bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Es kann nicht davon ausgegangen werden, die Tarifvertragsparteien hätten auch nur in Erwägung gezogen, die betroffenen Mitarbeiter könnten sich auf anderen Straßen bewegen. Insbesondere gibt es keine Veranlassung, anzunehmen, die Tarifvertragsparteien hätten Selbstverständlichkeiten regeln wollen.
Hätte die Tarifvertragsparteien andererseits gewollt, dass es ausschließlich auf die kürzeste Entfernung ankommen soll, wäre das Wort „verkehrsüblich“ überflüssig gewesen. Der Begriff der „Verkehrsüblichkeit“ muss vielmehr eine eigene, über die Länge der benutzten Strecke hinausgehende Bedeutung haben. Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass eine Wegstrecke dann verkehrsüblich ist, wenn sie von einem verständigen Autofahrer in der Situation des Betroffenen gewählt wird. Auch ein durchschnittlicher Leser wird die tarifvertragliche Regelung typischerweise so verstehen.
(b) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es bei einem solchen Verständnis der Vorschrift nicht erforderlich, empirische Erhebungen zu unterschiedlichen Tageszeiten, bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen, und während bzw. außerhalb der Ferienzeiten durchzuführen. Bei der Feststellung der „verkehrsüblichen“ Strecke geht es nicht darum, welche Strecke zum konkreten Zeitpunkt am schnellsten befahren werden kann, sondern darum, welche Strecke ein verständiger Fahrer – abstrakt – für seine Fahrten wählen würde. Bei dieser Entscheidung spielen nicht nur die Länge der Strecke und die Fahrdauer eine Rolle, sondern insbesondere auch die Sicherheit und das Fahrverhalten.
(4) Vorliegend würde ein verständiger Autofahrer ohne jeden Zweifel die Strecke über die A3 wählen. Die Strecke ist zwar 7,4 Kilometer länger als die alternative Strecke über die B8, die Fahrzeit ist hingegen – unabhängig davon, welchen Routenplaner man heranzieht – deutlich kürzer. Zudem ist zu beachten, dass die Strecke über die Autobahn als wesentlich sicherer anzusehen ist – auf Autobahnen ereignen sich erheblich weniger Unfälle als auf Bundesstraßen. Schließlich ist die Fahrt auf einer Autobahn für den Autofahrer auch angenehmer und stressfreier.
b) Gem. § 4 Abs. 4 der Anlage 5 des TV Ratio iVm Anlage 5 der Gesamtbetriebsvereinbarung erfolgt die Zahlung der Fahrtkostenerstattung in sechs Teilbeträgen jeweils halbjährlich im Voraus zusammen mit dem Monatsentgelt. Da die Versetzung mit Wirkung zum 29.06.2015 durchgeführt wurde, waren bislang zwei Teilbeträge – für das zweite Halbjahr 2015 und für das erste Halbjahr 2016 – zur Zahlung fällig. Vor dem Hintergrund, dass die Beklagte von einem Anspruch auf Fahrtkostenerstattung in Höhe von insgesamt 13.509 € brutto ausging, während die Klägerin tatsächlich einen Anspruch auf Zahlung von 14.286,00 € brutto hat, ergibt sich eine Differenz von insgesamt 777,00 € brutto, von der 2/6 bislang zu bezahlen waren.
c) Die Parteien haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, dass die erste Rate der Fahrtkostenentschädigung am 15.06.2016 und die zweite Rate am 15.12.2015 fällig waren. Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Anspruch auf Zinszahlung in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 129,50 € seit 16.06.2015 bzw. seit 16.12.2015 aus §§ 286 Abs. 2 Nr. 1, 288 BGB in Verbindung mit § 187 Abs. 1 BGB.
2. Auch der Feststellungsantrag ist begründet. Wie bereits oben dargelegt, hat die Klägerin einen Anspruch auf Berechnung der neuen Fahrtstrecke unter Zugrundelegung der Strecke über die Autobahn A3. Dementsprechend liegt die Differenz zwischen der bisherigen und der neuen Strecke bei 107,90 Kilometern und somit über den in der Gesamtbetriebsvereinbarung genannten 101 Kilometern.
III.
1. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 92 Abs. 1 ZPO und begründet sich damit, dass die Klägerin zwar mit ihren zuletzt gestellten Anträgen obsiegt hat, der zunächst angekündigte Antrag aber mangels Fälligkeit sämtlicher Raten teilweise unbegründet war. Vor diesem Hintergrund war im Hinblick auf die Kosten eine anteilige Quotelung vorzunehmen.
2. Der Streitwert war gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 3 ff. ZPO auf insgesamt 777,00 € festzusetzen. Dies ist der Betrag, der zwischen den Parteien insgesamt im Streit steht. Ein Abschlag für den Feststellungsantrag war nach Auffassung der Kammer nicht vorzunehmen.
3. Die Berufung war gem. § 64 Abs. 3 Nr. 2b) ArbGG gesondert zuzulassen, da es entscheidungserheblich um die Auslegung eines Tarifvertrages geht, dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk eines Arbeitsgerichts hinaus erstreckt.

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