Aktenzeichen S 46 AS 446/17
SGB X SGB X § 63 Abs. 3 S. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 1
SGG SGG § 193, § 197a
Leitsatz
Der Toleranzrahmen von 20% bei der anwaltlichen Bestimmung der billigen Gebühr nach § 14 Abs. 1 RVG hat nicht den Zweck, die eindeutig angemessene Gebühr in zahlreichen gleichartigen Fällen regelmäßig um 20% zu erhöhen. Eine derartige Gebührenbestimmung ist unbillig und nicht verbindlich gemäß § 14 Abs. 1 S. 4 RVG. (Rn. 25 – 28)
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 2. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Januar 2017 wird abgewiesen.
II. Die außergerichtlichen Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Die Klage ist jedoch unbegründet, weil der angegriffene Bescheid dem Gesetz entspricht und die Klägerin dadurch nicht in ihren Rechten verletzt ist. Der Klägerin steht kein weiterer Aufwendungsersatz zu. Die dem Gesetz entsprechende Geschäftsgebühr beträgt höchstens 150,- Euro (halbe Schwellengebühr) und ein Aufschlag von 20% kommt hier wegen Ermessensfehlgebrauch nicht in Betracht.
1. Statthaft ist eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage. Klagegegenstand ist allein die Entscheidung der Beklagten nach § 63 Abs. 3 S. 1 SGB X, in welcher Höhe die zu erstattenden Aufwendungen festzusetzen sind. Dass die Kosten dem Grunde nach übernommen werden (§ 63 Abs. 1 SGB X) und dass die Hinzuziehung des Rechtsanwalts notwendig war (§ 63 Abs. 2 SGB X), hat die Beklagte bereits im Abhilfebescheid entschieden.
2. Die Geschäftsgebühr Nr. 2302 VV RVG ist mit 150,- Euro anzusetzen.
Die zu erstattenden Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts nach § 63 Abs. 2 SGB X bemessen sich nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) und gemäß § 2 Abs. 2 RVG nach dem Vergütungsverzeichnis (VV RVG) in Anlage 1 des RVG. Nach § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen Betragsrahmengebühren, weil es sich hier um ein Verfahren handelt, in dem das Gerichtskostengesetz nicht zu Anwendung kommt, vgl. § 197a Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Gebührenrahmen der Geschäftsgebühr beträgt gemäß Nr. 2302 VV RVG 50,- bis 640,- Euro. Eine Gebühr von mehr als 300,- Euro, die sog. Schwellengebühr, kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig war.
Nach § 14 Abs. 1 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers, nach billigem Ermessen. Bei Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Ein Gutachten nach § 14 Abs. 2 RVG ist für das Gericht nicht erforderlich.
Die dem Gesetz entsprechende Geschäftsgebühr beträgt höchstens 150,- Euro, d.h. die halbe Schwellengebühr. Das ergibt sich aus dem Urteil des BSG vom 09.03.2016, B 14 AS 5/15 R.
a) Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit war höchstens unterdurchschnittlich. Die Begründung des Widerspruchs umfasste dreieinhalb Zeilen. Ob angesichts des sehr übersichtlichen Sachverhalts eine kurze Besprechung nötig war oder bereits ein Telefonat genügte, kann dahinstehen (vgl. dazu BSG, a.a.O., Rn. 18 bei Juris). Der Bevollmächtigte führt eine Vielzahl derartiger Widerspruchsverfahren gegen den Beklagten durch, so dass auch eine ausgeprägte Routine besteht.
b) Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit war weit unterdurchschnittlich. Dass eine Mahnung u.a. die Bekanntgabe des Forderungsbescheids voraussetzt, ist eine schlichte juristische Erkenntnis.
c) Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin waren weit unterdurchschnittlich. Sie bezog laufend Arbeitslosengeld II.
d) Das Haftungsrisiko war angesichts der strittigen Summe und der Einfachheit der Rechtsfragen gering.
e) Die Bedeutung der Angelegenheit war durchschnittlich. Streitig war als Verwaltungsakt die Festsetzung der Mahngebühr in Höhe von 5,- Euro. Gebührenrechtlich im Verhältnis des Rechtsanwalts zur Klägerin ist aber auf den weiten Angelegenheitsbegriff des § 15 Abs. 2 RVG abzustellen und bei der Bedeutung der Angelegenheit auch der angemahnte Betrag von 305,87 Euro einzubeziehen (BSG a.a.O., Rn. 20 ff). Beim BSG ging es um eine Hauptforderung von 1520,- Euro und das BSG bejahte deshalb eine durchschnittliche Bedeutung. Ob bei einer nicht zum Verwaltungsakt gehörenden Hauptforderung von 305,87 Euro für Arbeitslosengeld II-Bezieher wie die Klägerin eine durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Bedeutung besteht, kann dahinstehen, weil sich insgesamt jedenfalls keine höhere Geschäftsgebühr als 150,- Euro ergibt.
f) Es trifft zwar zu, dass § 14 Abs. 1 RVG für weitere Kriterien der Gebührenbemessung offen ist (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Rn. 21). Jedoch sind die vom Bevollmächtigten angeführten Kriterien nicht geeignet, eine höhere Gebühr zu rechtfertigen. Dass der Bevollmächtigte Fachanwalt für Sozialrecht ist, ist unerheblich, weil es bei einem Widerspruch gegen einen Mahnbescheid nicht auf sozialrechtliches Spezialwissen ankommt. Dass die Klägerin, die seit vielen Jahren in Deutschland ist, für einen derart schlichten Vorgang wie eine Mahnung auf einen Dolmetscher angewiesen sein könnte, ist nicht ersichtlich.
g) Eine Ermessensbindung auf Seiten des Beklagten durch eine von der Klägerin behauptete frühere Praxis kann nicht bestehen, weil die Entscheidung nach § 63 Abs. 3 S. 1 SGB X der Behörde kein Ermessen einräumt.
Insgesamt ist bei der Gesamtabwägung bei höchstens unterdurchschnittlichem Umfang, weit unterdurchschnittlicher Schwierigkeit, weit unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Klägerin, geringem Haftungsrisiko und allenfalls durchschnittlicher Bedeutung höchstens eine halbe Schwellengebühr von 150,- Euro anzusetzen. Dass auch der Bevollmächtigte der Klägerin davon ausging, zeigt er im Widerspruch, der allein auf den Toleranzrahmen von 20% abhebt.
3. Ein Toleranzzuschlag von 20% kommt hier nicht in Betracht.
§ 14 Abs. 1 S. 1 RVG räumt dem Rechtsanwalt – unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Kriterien – einen Entscheidungsspielraum ein („… nach billigem Ermessen.“). Nach Satz 4 dieser Vorschrift ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist und die Bestimmung unbillig ist. Rechtsprechung und Literatur gestehen dem Rechtsanwalt deshalb grundsätzlich einen Spielraum von 20% als Toleranzgrenze zu, der von der erstattungspflichtigen Behörde und den Gerichten zu beachten ist (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Rn. 19).
Die 20% stehen dem Rechtsanwalt als Entscheidungsspielraum zu, wenn ein derartiger Spielraum besteht. Die Anerkennung des grundsätzlichen Toleranzbereichs bedeutet nicht, dass jegliche Gebührenbestimmung verbindlich wäre, wenn sie sich nur innerhalb des 20%-Rahmens bewegt. Insbesondere ist eine Bestimmung nicht hinzunehmen, wenn auf Seiten des Rechtsanwalts ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt (Bay LSG, Beschluss vom 01.04.2015, L 15 SF 259/14 E, Rn. 34.).
Hier liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor. Auf Grundlage des Urteils des BSG vom 09.03.2016, B 14 AS 5/15 R, gehen alle Beteiligten, auch der bevollmächtigte Rechtsanwalt, zu Recht davon aus, dass in Fällen dieser Art eine Geschäftsgebühr von höchstens 150,- Euro angemessen ist. Diesen als angemessen erkannten Wert erhöht der Bevollmächtigte in dutzenden von Fällen um 20% und beruft sich dann auf den Toleranzrahmen. Dabei ist dem Bevollmächtigten dieses BSG-Urteil bekannt, nicht zuletzt aus zahlreichen Kostenbescheiden der Beklagten, und er macht in Kenntnis dieser Vorgaben des BSG im Widerspruch lediglich den Toleranzrahmen geltend. Die Erhöhung um bis zu 20% ist daher unbillig und nicht verbindlich, § 14 Abs. 1 S. 4 RVG.
4. Zu den 150,- Euro für die Geschäftsgebühr kommen die Post- und Telekommunikationspauschale von 20,- Euro nach Nr. 7002 VV RVG und die Umsatzsteuer von 19% von 170,- Euro gleich 32,30 Euro nach Nr. 7008 VV RVG. Dies ergibt zusammen die 202,30 Euro, die die Beklagte bereits zugesprochen hat. Die Klage auf Erstattung weiterer Aufwendungen ist daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Am Sozialgericht München und am Sozialgericht Augsburg sind zahlreiche gleichgelagerte Fällen dieses Bevollmächtigten anhängig. Es bedarf zu dieser Kostenfrage obergerichtlicher Rechtsprechung.