Aktenzeichen L 1 R 429/15
Leitsatz
1 Ein Altersrentner bleibt dauerhaft Bezieher der ihm bewilligten Altersrente. Das Vertrauen auf den Fortbestand der Möglichkeit eines Wechsels von einer bindend festgestellten Rente wegen Alters in eine andere Rente wegen Alters ist über die allgemeine Regelung des § 300 SGB VI hinaus nicht geschützt. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Hineinwachsen in eine günstigere Rentenart dergestalt, dass zunächst eine vorgezogene Altersrente mit entsprechend höheren Abschlägen in Anspruch genommen wird, die dann je nach Erfüllung der Voraussetzungen für eine andere Altersrentenart in eine Altersrente umgewandelt wird, die aufgrund des späteren Rentenbeginns mit niedrigeren Abschlägen verbunden ist, ist ausgeschlossen. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 13 R 1318/14 2015-05-07 GeB SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 07. Mai 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Über sie konnte der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG)
Die Berechnung der Altersrente mit Bescheid vom 25.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2014 ist rechtmäßig auf der Grundlage der Vorschriften des Sechstes Buchs Sozialgesetzbuchs (SGB VI) erfolgt und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit der dabei zugrunde gelegten Regelungen sind für den Senat nicht erkennbar.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer abschlagsfreien Rente für besonders langjährige Versicherte.
Gemäß § 236b SGB VI i.d.F. vom 23.06.2014 haben Versicherte, die das 63. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben, Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte, wenn sie vor dem 1. Januar 1964 geboren sind. Versicherte, die vor dem 1. Januar 1953 geboren sind, haben Anspruch auf diese Altersrente bereits nach Vollendung des 63. Lebensjahres. Diese Regelung wurde mit Wirkung vom 01.07.2014 eingeführt durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes vom 23.06.2014 (RV-Leistungsverbesserungsgesetz – BGBI I, S. 787). Abschläge nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2a SGB VI werden bei einem Renteneintritt nach § 236b SGB VI, anders als bei der dem Kläger seit dem 01.08.2013 gewährten Altersrente für langjährig Versicherte (§ 236 SGB VI), nicht vorgenommen. Es handelt sich nicht um einen „vorzeitigen“ Renteneintritt iSd § 77 Abs. 2 SGB VI, sondern um einen regulären (O Sullivan in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 236b SGB VI, Rn. 19).
Diese Voraussetzungen hat der Kläger zwar zum 01.07.2014 erfüllt. Der Gewährung einer abschlagsfreien Rente nach § 236b SGB VI steht aber die Regelung in § 34 Abs. 4 SGB VI entgegen.
§ 34 Abs. 4 SGB VI in der ab 01.01.2008 geltenden – hier anwendbaren – Fassung lautet:
„Nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters oder für Zeiten des Bezugs einer solchen Rente ist der Wechsel in eine 1. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, 2. Erziehungsrente oder 3. andere Rente wegen Alters ausgeschlossen.“
Hier stehen dem Wechsel in eine andere Art der Altersrente beide Ausschlussgründe entgegen. Denn dem Kläger ist mit Bescheid vom 03.07.2013 eine Altersrente für langjährig Versicherte nach der Regelung in § 236 SGB VI bindend bewilligt worden. Da der Kläger gegen den Bescheid vom 03.07.2013, mit dem ihm Altersrente für langjährig Versicherte ab 01.08.2013 bewilligt worden ist, keinen Widerspruch erhoben hat, ist dieser noch vor dem 01.07.2014 bestandskräftig und damit bindend geworden (§ 77 SGG). Anhaltspunkte für eine Nichtigkeit liegen nicht vor. Diese Bewilligung kann auch nachträglich nicht mehr durch eine Rücknahme des Antrags auf Altersrente wegen Altersteilzeit gegenstandslos werden (zur Rücknahme eines Antrags, vgl. BSG, Urteil vom 06.02.1991 – 13/5 RJ 18/89 -, BSGE 68, 144-148). Auch ein etwaiger Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auf Rücknahme des Rentenbescheids würde die Bestandskraft des Bescheides vom 03.07.2013 nicht mehr berühren und hätte, da insoweit keine rechtlichen Fehler ersichtlich sind oder behauptet werden, auch keine Rechtsgrundlage.
Der zweite Ausschlussgrund „für Zeiten des Bezugs einer solchen Rente“ wurde erst durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl. 2007 I, S. 554) mit Wirkung ab 01.01.2008 eingefügt und ist ebenfalls erfüllt. Zur Begründung wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt (BT-Drucks 2/07 S. 84): „Durch die Änderung soll sichergestellt werden, dass der Wechsel von einer Altersrente in eine andere Rente auch dann ausgeschlossen ist, wenn bereits eine Altersrente bezogen wird und zu einem späteren Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Erziehungsrente oder eine andere Altersrente erfüllt werden. Nach der geltenden Regelung greift der Ausschluss des Wechsels in den Fällen nicht, in denen durch Einlegung eines Rechtsbehelfs der Rentenbescheid noch nicht bindend geworden ist. Nicht betroffen von der jetzt vorgesehenen Änderung ist der Anspruch auf eine andere Rente, wenn diese vor oder gleichzeitig mit der Altersrente beginnt, etwa weil das Vorliegen von Schwerbehinderung erst nachträglich festgestellt worden ist. In diesen Fällen liegt – wie schon nach geltendem Recht – kein Wechsel vor.“ Auf Auslegungsfragen zur Reichweite des zweiten Ausschlussgrunds (vgl. auch Urteil des Bayer. Landessozialgerichts – LSG – vom 20.07.2011 – L 20 R 259/11) kommt es hier allerdings nicht entscheidend an, weil bereits der erste Ausschlussgrund (Bestandskraft des Altersrentenbescheids) gegeben ist.
§ 34 Abs. 4 SGB VI stellt eine Sonderregelung zu § 89 SGB VI dar und steht im Zusammenhang mit der Anhebung der Altersgrenzen der Altersrenten und der nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI eintretenden Minderung der Altersrenten, wenn diese vorzeitig in Anspruch genommen werden. Ursprünglich sollte damit vor allem der Wechsel von einer vorzeitigen Altersrente in eine (abschlagsfreie) Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen werden (BT-Drs. 13/4336 S. 22 zu Nr. 3). Durch Art. 1 des Gesetzes vom 21.07.2004 (BGBl. I 1791) wurde § 34 Abs. 4 SGB VI mit Wirkung zum 01.08.2004 neu gefasst und der Wechsel von einer Rente wegen Alters in eine andere Rente wegen Alters ausdrücklich ausgeschlossen (BT-Drs. 15/2149, 21). Damit wurde klargestellt, dass es unterschiedliche, nebeneinander bestehende Renten wegen Alters gibt, auf die nach den gesetzlichen Vorschriften jeweils ein Anspruch bestehen kann (BT-Drs., a.a.O., S. 24). Die Klarstellung war erforderlich, nachdem zuvor der 4. Senat des BSG die Auffassung vertreten hatte, auch nach Einführung des Rentenreformgesetzes 1992 sei das zuvor bestehende „System von mehreren Rechtsgrundlagen für das eine (Stamm-) Recht“ weitergeführt worden und § 89 SGB VI garantiere einen Höchstwert in den Fällen, in denen eine weitere Rechtsgrundlage für ein Recht auf Altersrente erfüllt sei (vgl. Urteil vom 09.04.2002 – Az. B 4 RA 58/01 R).
Tatsächlich ist aber bereits mit dem Rentenreformgesetz 1992 eine systematische Neuausrichtung vorgenommen und in § 89 Abs. 1 SGB VI geregelt worden, welche von mehreren zeitgleich zusammentreffenden Altersrenten zu leisten ist. Die bis dahin noch bestehende Möglichkeit des Wechsels von einer Altersrente in eine andere stand im Widerspruch zum Rechtsgedanken des § 306 SGB VI, der Neufeststellungen allein aus Anlass einer Änderung rentenrechtlichen Vorschriften ausschließt. Nach der Neufassung bleibt ein Altersrentner dauerhaft Bezieher dieser Altersrente. Das Vertrauen auf den Fortbestand der Möglichkeit eines Wechsels von einer bindend festgestellten Rente wegen Alters in eine andere Rente wegen Alters ist über die allgemeine Regelung des § 300 hinaus nicht geschützt (BSG, Urteil vom 26.07.2007 – B 13 R 44/06 R; Gürtner in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 92. EL Dezember 2016, Rn. 51).
Dass es sich bei der Altersrente für langjährig Versicherte im Vergleich zur Altersrente für besonders langjährige Versicherte gemäß § 236b SGB V um eine andere Rente wegen Alters i.S.d. § 23 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI handelt, steht für den Senat außer Frage. Dies ergibt sich neben den unterschiedlichen Rechtsgrundlagen, dem unterschiedlichen In-Krafttreten der jeweiligen Regelungen auch aus der unterschiedlichen Berechnung des Zugangsfaktors. Schließlich handelt es sich bei der Altersrente für besonders langjährige Versicherte gemäß § 236b SGB VI anders als bei der Altersrente für langjährig Versicherte gerade nicht um eine vorgezogene Altersrente.
Ein Hineinwachsen in eine günstigere Rentenart dergestalt, dass zunächst eine vorgezogene Altersrente mit entsprechend höheren Abschlägen in Anspruch genommen wird, die dann je nach Erfüllung der Voraussetzungen für eine andere Altersrentenart in eine Altersrente umgewandelt wird, die aufgrund des späteren Rentenbeginns mit niedrigeren Abschlägen verbunden ist, ist mit der Neuregelung des § 34 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI gerade ausgeschlossen worden.
Diese Regelung ist auch verfassungsgemäß (BSG, a.a.O., und Bayer. LSG, Urteile vom 20.07.2011 – L 20 R 259/11 – und vom 29.02.2016 – L 13 R 784/13 -). Mit der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB VI wird in geeigneter und verhältnismäßiger Weise der Zweck verfolgt, die Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren und die Funktionsfähigkeit des Systems zu gewährleisten. Entschließt sich ein Versicherter, Rente zum denkbar frühesten Zeitpunkt in Anspruch zu nehmen, der gesetzlich möglich ist, hat er aufgrund der damit – zumindest statistisch – zu erwartenden längeren Rentenlaufzeit i.d.R. erhebliche Rentenabschläge in Kauf zu nehmen. Dass die in § 77 SGB VI vorgesehenen Rentenabschläge nicht verfassungswidrig sind, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mehrfach entschieden (vgl. zuletzt BVerfG Beschluss vom 11.01.2011 – 1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09). Mit der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB VI soll sichergestellt werden, dass ein Versicherter an seine Entscheidung, sich vorzeitig aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen, gebunden bleibt. Denn die Rentenlaufzeit verkürzt sich nicht durch den bloßen Wechsel in eine andere Rentenart wegen Alters. § 34 Abs. 4 SGB VI soll damit Dispositionen zu Lasten der Versichertengemeinschaft ausschließen (Bayer. LSG vom 29.02.2016, a.a.O.).
Ein Anspruch des Klägers auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen kann sich auch nicht aus dem Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ergeben. Denn die Entscheidung des Gesetzgebers für die vorübergehende (Wieder-)Einführung einer abschlagsfreien Altersrente für den Personenkreis der vor dem 01.01.1953 geborenen Versicherten war zum Zeitpunkt der Rentenbewilligung vom 03.07.2013 noch gar nicht getroffen. Der Entwurf des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes ist von der Bundesregierung erst im März 2014 in den Gesetzgebungsprozess eingebracht worden (O.Sullivan, a.a.O., Rn. 5 mwN). Vorliegend ist dabei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger, der ursprünglich eine Altersrente bei Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit beantragt hatte, sich nach der Auskunft der Beklagten, dass diese erst ab dem 01.08.2014 gewährt werden könnte, ausdrücklich für den früheren Rentenbeginn und damit für die Gewährung einer Altersrente mit entsprechenden Abschlägen entschieden hat.
Nach alledem ist die Berufung unbegründet. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger in der Berufungsinstanz erfolglos geblieben ist.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor. Der Senat legt seiner Bewertung die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde.