Aktenzeichen 6 K 508/18
FGO § 100 Abs. 1 S. 1
VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. e, Art. 67 S. 1, Art. 68 Abs. 2 S. 1, S. 2, S. 3
Leitsatz
Tenor
1. Der Bescheid vom 05.12.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 19.03.2018 werden aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
3. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Das Urteil ist wegen der zu erstattenden Aufwendungen der Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Aufwendungen der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie nur gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.03.2018 gerichtet ist und keinen Verpflichtungsantrag enthält. Ein solcher wäre unzulässig, weil es insoweit an einem vorherigen, erfolglos gebliebenen Vorverfahren (vgl. § 44 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung -FGO-) und am Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Denn die Beklagte hat bisher lediglich zeitlich befristete Kindergeldfestsetzungen aufgehoben und über Zeiträume nach dem Befristungsende noch nicht entschieden. Da die Erhebung einer unzulässigen Klage dem Willen der Klägerin nicht entspricht, ist davon auszugehen, dass ihre Klage nur einen Anfechtungs- und keinen Verpflichtungsantrag enthält.
Die so verstandene Klage ist zulässig und begründet. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzungen vom 05.12.2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Der Begründetheit der Klage stehen die Grundsätze der Bestandskraft nicht entgegen. Der Aufhebungsbescheid vom 05.12.2017 ist nicht bestandskräftig geworden, weil die Klägerin rechtzeitig Einspruch eingelegt hat.
Zwar gilt im Streitfall der Aufhebungsbescheid nicht einen Monat nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, weil § 122 Abs. 2 Nr. 2 Abgabenordnung (AO) nicht zur Anwendung kommt, da die Beklagte die förmliche Zustellung des Aufhebungsbescheids durch Einschreiben mit Rückschein anordnete und deshalb die Zustellung grundsätzlich durch den Rückschein nachgewiesen werden kann (vgl. §§ 122 Abs. 5 AO, 9 Abs. 1 Nr. 1 VwZG, 9 Abs. 2 Satz 1 VwZG).
Im Streitfall ist jedoch wegen der undeutlichen, handschriftlichen Datumsangabe auf dem Rückschein nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Klägerin der Aufhebungsbescheid am 11.12.2017 zugestellt wurde. Zwar spricht das Schriftbild eher für den 11.12.2017. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass der Zusteller den 21.12.2017 auf dem Rückschein als Auslieferungstag notierte, zumal die Beklagte den Rückschein erst am 22.01.2018 erhielt.
Zugunsten der Klägerin ist deshalb davon auszugehen, dass die Zustellung des Aufhebungsbescheids erst am 21.12.2017 erfolgte, weil die Beklagte die Feststellungslast für den Zeitpunkt der Bekanntgabe trägt. Die Klägerin hat somit die einmonatige Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO gewahrt, da die Beklagte ihren Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid am 18.01.2018 erhielt.
Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 10.05.2016 für A ab Juli 2017 ist bereits deshalb rechtswidrig und aufzuheben, weil der Bescheid vom 10.05.2016 lediglich Kindergeld für Oktober 2015 und November 2015 festsetzte und für Zeiträume ab Dezember 2015 keine Regelung enthält, die ab Juli 2017 aufgehoben werden könnte.
Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung vom 10.05.2016 für A kann nicht als rechtmäßige Ablehnung eines Antrags auf Kindergeld ab Juli 2017 ausgelegt oder in eine solche umgedeutet werden. Eine Auslegung kommt nicht in Betracht, weil der Bescheid vom 05.12.2017 ausdrücklich und eindeutig als Aufhebungsbescheid bezeichnet ist und nach Aktenlage über den Kindergeldantrag für die Zeit ab Dezember 2015 noch nicht entschieden wurde. Eine Umdeutung ist nicht möglich, da der Kindergeldanspruch ab Juli 2017 aus den nachfolgend dargelegten Gründen nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 ausgeschlossen ist.
Der Bescheid vom 05.12.2017 ist auch rechtswidrig und deshalb aufzuheben, soweit er Kindergeldfestsetzungen für C und B vom 30.12.2014 ab Juli 2017 aufhob.
Durch den angefochtenen Bescheid hat die Beklagte für C das für den Zeitraum Juli 2017 bis Dezember 2017 festgesetzte Kindergeld und für B das für den Zeitraum Juli 2017 bis April 2023 festgesetzte Kindergeld aufgehoben, weil die Beklagte mit Bescheid vom 30.12.2014 für C bis Dezember 2017 und für B bis April 2023 Kindergeld festsetzte.
Für diese Aufhebungen besteht jedoch keine Rechtsgrundlage, insbesondere liegen weder die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG noch die des § 70 Abs. 3 EStG vor, weil der Klägerin für C für Juli 2017 bis Dezember 2017 und für B für Juli 2017 bis April 2023 Kindergeld zu gewähren ist.
Der Kindsvater ist unstreitig für C bis Dezember 2017 und für B bis April 2023 kindergeldberechtigt, weil er in Deutschland wohnt, die Kinder in Italien im Haushalt ihrer Mutter leben, C am 14.12.2017 das 18. Lebensjahr vollendete und B am 21.04.2023 das 18. Lebensjahr vollenden wird (§§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 6, § 32 Abs. 3 EStG).
Der Kindergeldanspruch für C und B steht allerdings nicht dem Kindsvater, sondern nach Art. 67 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) Nr. 987/2009 sowie § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG der vorrangig anspruchsberechtigten Klägerin zu.
Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 ist eröffnet, weil der Kindsvater als italienischer Staatsangehöriger die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt (Art. 2 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004) und das Kindergeld eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z VO (EG) Nr. 883/2004 ist (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j VO (EG) Nr. 883/2004).
Nach Art. 11 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO (EG) Nr. 883/2004 ist für den Kindsvater Deutschland der zuständige Mitgliedstaat, weil er in Deutschland seinen Wohnsitz hat und deshalb den Rechtsvorschriften Deutschlands unterliegt.
Eine Person hat nach Art. 67 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004 Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats auch für Familienangehörige, die zwar in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, die aber so behandelt werden, als wohnten sie im zuständigen Mitgliedstaat. Denn bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO (EG) Nr. 883/2004 ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO (EG) Nr. 987/2009 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Beteiligten -insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangtunter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Deutschland) fallen und dort wohnen (vgl. BFH-Urteil vom 23.08.2016 V R 2/14, BFH/NV 2016, 1725).
Im Streitfall wird somit fingiert, dass die Klägerin mit ihren Kindern, die sie in ihren Haushalt aufgenommen hat, nicht im Mitgliedsstaat Italien, sondern in Deutschland wohnt, weil es sich um Familienangehörige des Kindsvaters handelt. Die Klägerin erfüllt somit alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld und ist wegen der Aufnahme der Kinder in ihren Haushalt vorrangig anspruchsberechtigt. Deshalb stehen ihr und nicht dem Kläger für C bis Dezember 2017 und für B bis April 2023 nach §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Sätze 2 und 6, § 32 Abs. 3, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG die Ansprüche auf Kindergeld zu.
Diese Ansprüche sind nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 Vorrang haben (Art. 68 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 883/2004). Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 VO (EG) Nr. 883/2004). Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004).
Nach dem eindeutigen Wortlaut setzt Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO EG Nr. 883/2004 voraus, dass tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat Ansprüche auf Familienleistungen bestehen, die dem Kindergeld vergleichbar sind.
Dies folgt zum einen aus Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004, wonach die folgenden Prioritätsregelungen nur gelten, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Dass mit „folgenden Prioritätsregeln“ nicht nur die in Art. 68 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 enthaltenen, sondern die Regelungen in sämtlichen Absätzen des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004 gemeint sind, ergibt sich aus der Überschrift des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004, die wie folgt lautet: „Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen“.
Zum anderen ist in Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO nicht nur von einem Unterschiedsbetrag, sondern von einem „derartigen Unterschiedsbetrag“ die Rede. Dadurch wird unzweifelhaft auf die vorangehenden Sätze des Art. 68 Abs. 2 EG (VO) Nr. 883/2004 Bezug genommen. Aus diesen ergibt sich jedoch eindeutig, dass der Unterschiedsbetrag dadurch zu ermitteln ist, dass auf den nachrangigen Anspruch der vorrangige anzurechnen ist. Somit kann die Formulierung „derartiger Unterschiedsbetrag“ nur so verstanden werden, dass Art. 68 Abs. 2 Satz 3 EG (VO) Nr. 883/2004 voraussetzt, dass tatsächlich anrechenbare, vorrangige Ansprüche auf Familienleistungen bestehen.
Wegen seines eindeutigen Wortlauts ist Art. 68 Abs. 2 Satz 3 EG (VO) Nr. 883/2004 keiner Auslegung zugänglich. Deshalb kann auch die Argumentation der Beklagten, wonach die Vorschrift erst recht anzuwenden sei, wenn keine anrechenbaren, vorrangigen Ansprüche bestünden, nicht Platz greifen, weil es sich dabei um eine Auslegung nach dem Sinn und Zweck handelt.
Kindergeldansprüche sind demnach auch dann zu erfüllen, wenn sie allein durch den Wohnort ausgelöst werden, die Kinder in einem anderen Mitgliedstaat wohnen und dieser Mitgliedstaat vorrangig zuständig wäre, wenn er tatsächlich mit dem Kindergeld vergleichbare Leistungen erbringen würde (vgl. BFH-Urteil vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl II 2018, 717, Tz. 26 in der juris-Dokumentation; Gerichtsbescheid des Finanzgerichts Bremen vom 27.02.2017 3 K 77/16 (1), NZFam 2017, 669 (rkr.) m.w.N. zur insoweit gefestigten Rechtsprechung der Finanzgerichte; Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich – Kommentar – Fach D I. Kommentierung Europarecht VO Nr. 883/2004, Art. 68 Rz 36, 24).
Im Streitfall sind die Kindergeldansprüche der Klägerin für ihre Kinder somit nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 ausgeschlossen, weil in Italien keine Ansprüche auf Familienleistungen für die Kinder bestehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Tätigkeit eines Bevollmächtigten im Vorverfahren diente der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.