Arbeitsrecht

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit der Rüge einer unangemessenen Verfahrensdauer mangels Rechtswegerschöpfung bei unterlassener Klage auf angemessene Entschädigung gem §§ 198, 201 GVG – Zur Möglichkeit des nachträglichen Entfallens der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (hier: aufgrund Inkrafttretens des ÜberlVfRSchG) – Mangels grundsätzlicher Bedeutung der im Ausgangsverfahren aufgeworfenen Rechtsfragen keine Verletzung des Justizgewährungsanspruchs durch Nichtzulassung der Revision

Aktenzeichen  1 BvR 2292/11

Datum:
30.5.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20120530.1bvr229211
Normen:
Art 2 Abs 1 GG
Art 20 Abs 3 GG
§ 23 Abs 1 S 2 BVerfGG
§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG
§ 92 BVerfGG
§ 198 Abs 1 GVG vom 24.11.2011
§ 201 GVG vom 24.11.2011
ÜberlVfRSchG
§ 543 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO
Spruchkörper:
1. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BGH, 19. Juli 2011, Az: VI ZR 50/10, Beschlussvorgehend BGH, 10. Mai 2011, Az: VI ZR 50/10, Beschlussvorgehend OLG München, 4. Februar 2010, Az: 1 U 4650/08, Urteilvorgehend LG München I, 20. August 2008, Az: 9 O 22406/97, Urteil

Gründe

I.
1
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist eine amtshaftungsrechtliche Streitigkeit.

2
1. Der Beklagte zu 1) des Ausgangsverfahrens ist Direktor einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, deren Träger der
ebenfalls beklagte Freistaat B. ist (im Folgenden: Beklagte zu 1) und zu 2). Auf Bitten der Ehefrau des Beschwerdeführers,
aber ohne dessen Kenntnis und Einwilligung erstellte der Beklagte zu 1) zwei Gutachten über den Geisteszustand des Beschwerdeführers,
die er dessen Ehefrau aushändigte. Der Beschwerdeführer nahm die Beklagten hierauf mit einer im Dezember 1997 eingereichten
Klage auf Feststellung und Schadensersatz in Anspruch. Im Jahre 2008 verurteilte das Landgericht nach Einholung diverser Gutachten
und Ergänzungsgutachten die Beklagten zu 1) und zu 2) gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 5.000 € und wies die Klage im Übrigen
ab. Auf die Berufung des Beschwerdeführers und des Beklagten zu 2) hob das Oberlandesgericht die Entscheidung des Landgerichts
auf und fasste sie dahingehend neu, dass es den Beklagten zu 1) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 15.000 € verurteilte
und darüber hinaus feststellte, dass dieser zum Ersatz aller materiellen Schäden verpflichtet sei, die dem Beschwerdeführer
aus der Fertigung und Weitergabe der Gutachten entstünden. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung führte es aus,
dass eine Haftung des Beklagten zu 2) entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht in Betracht komme, da der Beklagte zu 1)
nicht als dessen Organ gehandelt habe. Insoweit sei auf objektive Kriterien abzustellen. Darauf, ob die Atteste unter dem
Briefkopf der Klinik abgefasst worden seien, komme es nicht an. Hier habe es sich um eine gutachterliche Tätigkeit gehandelt,
die regelmäßig eigenverantwortlich wahrgenommen werde und nicht von den Aufgaben umfasst sei, die dem Beklagten zu 1) als
Leiter der Klinik des Beklagten zu 2) übertragen worden seien.

3
Die Revision ließ das Oberlandesgericht nicht zu. Die hierauf erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof
zurück; eine hiergegen gerichtete Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg.

4
2. Gegen die genannten Entscheidungen hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt eine Verletzung seines
Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG. So stelle die lange Verfahrensdauer von über 13 Jahren eine Verletzung des Anspruchs auf
effektiven Rechtsschutz dar. Des Weiteren sei Art. 103 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 34
Satz 1 GG verletzt worden. Der Bundesgerichtshof habe die grundsätzliche Bedeutung der Sache verneint, obwohl der Fall mehrere
obergerichtlich noch nicht geklärte Fragen aufwerfe; hierin liege eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör sowie ein
Entzug der Revisionsinstanz ohne sachlichen Grund. So werfe der Fall die Frage auf, ob “bei Ausstellung und Weitergabe eines
psychiatrischen Unterbringungsattests auf dem Briefpapier eines Universitätsklinikums der das Gesundheitszeugnis ausstellende
verbeamtete Direktor persönlich oder der Dienstherr und Klinikträger” hafte oder ob von gesamtschuldnerischer Haftung beider
auszugehen sei. Des Weiteren habe die Frage geklärt werden müssen, nach welchen Kriterien die Haftung für Pflicht- und Dienstaufgaben
von der Haftung für Nebentätigkeiten des Beamten im Anwendungsbereich von Art. 34 Satz 1 GG in Verbindung mit §§ 31, 89, 839,
840 BGB abzugrenzen sei.

5
3. Nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wurde der Beschwerdeführer auf das zwischenzeitlich in Kraft getretene Gesetz über
den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl I
S. 2302) sowie auf § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG hingewiesen. Der Beschwerdeführer hat seine Verfassungsbeschwerde aufrechterhalten.

II.
6
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (vgl. BVerfGE
90, 22 ). Sie hat weder grundsätzliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung
der als verletzt gerügten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Denn die
Verfassungsbeschwerde ist teilweise bereits unzulässig und im Übrigen jedenfalls unbegründet.

7
1. Soweit der Beschwerdeführer rügt, die lange Verfahrensdauer stelle eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz
dar, ist die Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig.

8
a) Gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten, wenn dort nach der Art des
gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen. Die Vorschrift zielt
darauf ab, eine ordnungsgemäße Vorprüfung der Beschwerdepunkte durch die zuständigen gerichtlichen Instanzen zu gewährleisten,
dadurch das Bundesverfassungsgericht zu entlasten und für seine eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes frei zu machen
(vgl. BVerfGE 4, 193 ). Es gehört zu den Aufgaben eines jeden Gerichts, im Rahmen seiner Zuständigkeit bei Verfassungsverletzungen
Rechtsschutz zu gewähren (vgl. BVerfGE 47,144 ; 68, 376 ; 74, 69 ). Dadurch ist gewährleistet, dass dem Bundesverfassungsgericht
nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell
zuständiges Gericht unterbreitet wird. Insoweit enthält der Grundsatz der Subsidiarität eine generelle Aussage über die Aufgabenverteilung
zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten (vgl. BVerfGE 49, 252 ; 55, 244 ; 74, 69 ). Er trägt
auf diese Weise dazu bei, den Rechtsschutz den besonderen Funktionen von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten entsprechend
auszugestalten (vgl. BVerfGE 51, 130 ; 69, 122 ; 74, 69 ).

9
b) Hier hat der Beschwerdeführer nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, beim zuständigen Oberlandesgericht eine Klage
auf angemessene Entschädigung für infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens erlittene Nachteile gemäß § 198 Abs.
1, § 201 GVG n.F. zu erheben. Dieser Rechtsbehelf muss ergriffen worden sein, bevor eine zulässige Verfassungsbeschwerde erhoben
werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2011 – 1 BvQ 44/11 -, juris). Das mit
dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeführte Rechtsmittel
hätte die Möglichkeit einer Abhilfe der verfassungsrechtlichen Beschwer durch die zuständige fachgerichtliche Instanz geboten;
darüber hinaus ist es nicht auf die Feststellung der unangemessenen Verzögerung beschränkt, sondern bietet – insoweit über
die Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts hinausgehend – auch die Aussicht auf eine unmittelbare Entscheidung über eine
eventuelle Entschädigung, ohne dass es hierzu eines weiteren Verfahrens bedürfte.

10
c) Der fehlenden Rechtswegerschöpfung steht nicht entgegen, dass die Möglichkeit einer Klage auf Entschädigung gemäß § 198
Abs. 1 GVG n.F. bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde noch nicht bestand, sondern erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes
über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zum 3. Dezember 2011 eingeführt
wurde. Denn entgegen der Rechtsansicht des Beschwerdeführers entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,
dass die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde auch nachträglich entfallen kann (vgl. BVerfGE 21, 139 ; 30, 54 ;
33, 247 ; 50, 244 ; 56, 99 ; 72, 1 ; 81, 138 ). Dies gilt nicht nur dann, wenn die geltend gemachte
Beschwer nachträglich wegfällt; auch in Fällen, in denen ein Akt des Gesetzgebers die in einer angegriffenen Entscheidung
enthaltene Beschwer nicht unmittelbar beseitigt, aber einen Weg eröffnet, auf dem der Beschwerdeführer diese Beseitigung ohne
Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts erwirken kann, ist eine Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht
mehr gerechtfertigt (vgl. BVerfGE 85, 109 ).

11
2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 GG) rügt, ebenfalls unzulässig, da der Vortrag des Beschwerdeführers insoweit nicht über eine bloße Behauptung hinausgeht
und damit die Substantiierungsanforderungen der §§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG nicht erfüllt.

12
3. Soweit der Beschwerdeführer rügt, der Bundesgerichtshof habe den Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 3 GG) verletzt, indem er den Zugang zur Revisionsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender
Weise erschwert habe, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

13
a) Dem Nichtannahmebeschluss des Bundesgerichtshofs liegt die Auslegung und Anwendung von Vorschriften der Zivilprozessordnung,
mithin einfachen Rechts, zu Grunde. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt es lediglich, die Beachtung der grundrechtlichen
Normen und Maßstäbe durch die ordentlichen Gerichte sicherzustellen (vgl. BVerfGE 42, 143 ). Ein zu korrigierender
Verstoß gegen Verfassungsrecht liegt nur dann vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung Auslegungs- oder Anwendungsfehler erkennen
lässt, die die Annahme objektiver Willkür rechtfertigen oder die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung
und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereiches, beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 ; 42, 143
).

14
b) Dies ist hier nicht der Fall. Der Bundesgerichtshof musste den hier aufgeworfenen Rechtsfragen aus verfassungsrechtlicher
Sicht keine grundsätzliche Bedeutung beimessen.

15
aa) Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt einer Sache dann zu, wenn sie eine klärungsbedürftige
und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das
abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Klärungsbedürftig
sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden
und die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind. Hat der Bundesgerichtshof eine Rechtsfrage bereits
geklärt, kann sich weiterer Klärungsbedarf ergeben, wenn neue Argumente ins Feld geführt werden können, die den Bundesgerichtshof
zu einer Überprüfung seiner Auffassung veranlassen könnten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27.
Mai 2010 – 1 BvR 2643/07 -, FamRZ 2010, S. 1235 ; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Dezember 2010
– 1 BvR 381/10 -, NJW 2011, S. 1276 ; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. April 2011 – 1 BvR 3007/07 -,
NJW 2011, S. 2276 ).

16
bb) Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof jedenfalls nicht in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkannt. Hinsichtlich
der vom Beschwerdeführer formulierten Frage, ob “bei Ausstellung und Weitergabe eines psychiatrischen Unterbringungsattests
auf dem Briefpapier eines Universitätsklinikums der das Gesundheitszeugnis ausstellende verbeamtete Direktor persönlich oder
der Dienstherr und Klinikträger” hafte oder ob von gesamtschuldnerischer Haftung beider auszugehen sei, kann offen bleiben,
ob von Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit auszugehen ist. Denn es ist nicht ansatzweise ersichtlich, insbesondere
vom Beschwerdeführer schon im Ausgangsverfahren nicht dargetan, inwieweit diese spezifische Fragestellung über den vorliegenden
Fall hinaus, geschweige denn für eine unbestimmte Vielzahl weiterer Fälle, Bedeutung haben könnte.

17
Soweit die Frage betroffen ist, nach welchen Kriterien die Ausübung eines öffentlichen Amtes im Anwendungsbereich von Art.
34 Satz 1 GG in Verbindung mit § 839 BGB von der Wahrnehmung sonstiger Tätigkeiten eines Beamten abzugrenzen ist, fehlt es
jedenfalls am Merkmal der Klärungsbedürftigkeit. Denn die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Staatshaftung gemäß Art.
34 GG in Verbindung mit § 839 BGB zu bejahen ist, war bereits Gegenstand zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen (vgl.
BGHZ 4, 138 ; 9, 145 ; 108, 230 ). Auch das enger gefasste Problem, ob die Erstellung von Gutachten durch
einen verbeamteten Arzt als Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne des Art. 34 GG anzusehen ist, hat der Bundesgerichtshof
bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1972 einer Klärung zugeführt (BGHZ 59, 310 ). Warum die Frage dennoch
weiterhin oder erneut klärungsbedürftig sein sollte, ist nicht ersichtlich.

III.
18
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

19
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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