Arbeitsrecht

Organisationspflicht des Prozessbevollmächtigten für den Fall seiner Erkrankung

Aktenzeichen  11 BV 17.891

Datum:
22.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 124692
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 60 Abs. 1, § 67 Abs. 4 S. 4, S. 5, § 124a Abs. 3 S. 1, S. 5, § 125 Abs. 2 S. 1, S. 2
ZPO § 85 Abs. 2
BRAO § 53 Abs. 2
BGB § 278

 

Leitsatz

1 Das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, steht gemäß § 173 VwGO iVm § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. Ein schuldhaftes Handeln der Hilfspersonen des Rechtsanwalts, insbesondere von Büropersonal, ist als solches dem bevollmächtigten Rechtsanwalt und damit der Partei nicht zurechenbar. Wenn Fehler von Hilfspersonen jedoch auf eine in der eigenen Verantwortungssphäre des bevollmächtigten Rechtsanwalts liegende Ursache zurückzuführen sind, kann diesen unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens ein eigener Schuldvorwurf treffen.  (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für den Fall einer unvorhergesehenen Abwesenheit hat ein Prozessbevollmächtigter organisatorische Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Hierzu gehört, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass im Falle einer Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Prozesshandlungen vornimmt (Fortführung von BGH BeckRS 2005, 05895). (Rn. 11 – 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 6 K 16.4214 2017-03-15 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Berufung wird verworfen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Entscheidung ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 15.000,- Euro festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Mit Bescheid vom 8. September 2016 entzog das Landratsamt München dem Kläger die Fahrerlaubnis aller Klassen sowie die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung und forderte ihn zur Abgabe des Führerscheins und des Fahrgastbeförderungsscheins auf. Die Klage gegen diesen Bescheid wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 15. März 2017, der Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 24. März 2017, ab und ließ die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.
Mit Schriftsatz vom 22. April 2017 legte der Kläger Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 24. Mai 2017 beantragte eine Rechtsanwaltsfachangestellte aus der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat, da die Rechtsanwältin kurzfristig schwer erkrankt sei. Der Vorsitzende des Senats lehnte den Antrag am 29. Mai 2017 ab, da er nicht von einem postulationsfähigen Vertreter unterschrieben worden sei.
Mit Schriftsatz vom 6. Juni 2017 begründete die Prozessbevollmächtigte die Berufung und beantragte unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit der Diagnose ICD-10 N13.6 Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist. Am 22. Mai 2017 gegen 11 Uhr sei sie mit starken Schmerzen in eine Klinik gegangen und am 23. Mai 2017 überraschend operiert worden. Auch am 24. Mai 2017 sei sie krankheitsbedingt nicht telefonisch ansprechbar gewesen. Die Rechtsanwaltsfachangestellte habe am 24. Mai 2017 gegen 14.30 Uhr die noch ausstehenden Fristen kontrolliert und festgestellt, dass die Berufungsbegründungsfrist an diesem Tag ablaufen werde. Nachdem bei sämtlichen Kollegen, mit denen die Prozessbevollmächtigte zusammenarbeite, telefonisch niemand mehr erreichbar gewesen sei, habe die Angestellte versucht, die Geschäftsstelle des 11. Senats zu erreichen. Da auch dort niemand erreichbar gewesen sei, sei sie mit der Pressestelle des Verwaltungsgerichtshofs verbunden worden. Dort sei ihr die Auskunft erteilt worden, dass die Berufungsbegründungsfrist verlängert werden könne und dies schriftlich beantragt werden müsse. Es sei ihr jedoch nicht mitgeteilt worden, dass der Antrag auf Fristverlängerung von einem Rechtsanwalt unterschrieben werden müsse. Die Pressestelle hätte darauf hinweisen müssen, da bekannt war, dass die Rechtsanwältin erkrankt war. Den Kläger treffe daher keine Schuld.
Aus der beigefügten eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten ergibt sich, dass sie versucht habe, Kollegen der Rechtsanwältin zu erreichen. Nachdem ihr das nicht gelungen sei, habe sie in der Pressestelle des Verwaltungsgerichtshofs angerufen und dort mitgeteilt, dass die Prozessbevollmächtigte erkrankt sei und die Berufungsbegründungsfrist heute ablaufe. Sie habe mehrfach gefragt, ob die Frist verlängerbar sei und ob sie die Verlängerung beantragen und unterzeichnen dürfe, da sich kein anderer Rechtsanwalt in der Kanzlei befinde. Die Pressestelle habe mehrmals bestätigt, dass die Fristverlängerung von ihr beantragt werden könne. Deshalb habe sie den Antrag verfasst, selbst unterzeichnet und an das Gericht gefaxt.
Nach einer vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahme der Pressesprecherin des Verwaltungsgerichtshofs habe diese der Anruferin nicht mitgeteilt, dass sie als Rechtsanwaltsfachangestellte den Antrag selbst unterzeichnen könne, sondern nur, dass die Berufungsbegründungsfrist verlängert werden könne. Sie könne aber nicht ausschließen, dass die Anruferin die Auskunft falsch verstanden habe.
Der Senat hat die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss angehört. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 3 Satz 5 und § 125 Abs. 2 Satz 1 und 2 VwGO durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, weil der Kläger die Frist zur Berufungsbegründung gemäß § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht eingehalten hat und ihm auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren ist. Die Beteiligten wurden hierzu angehört.
1. Der Kläger hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung nicht innerhalb der Zwei-Monatsfrist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet. Das Urteil wurde der Bevollmächtigten des Klägers am 24. März 2017 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt. Die Begründungsfrist endete daher mit Ablauf des 24. Mai 2017 (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Der Begründungsschriftsatz des Klägers ging beim Verwaltungsgerichtshof am 6. Juni 2017 und damit erst nach Fristablauf ein.
2. Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist nicht zu gewähren. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegen trotz der glaubhaft gemachten Erkrankung der Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht vor, weil das Fristversäumnis nicht unverschuldet war.
„Verschulden“ i.S.v. § 60 VwGO ist anzunehmen, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (stRspr; vgl. BVerwG, B.v. 26.6.2017 – 1 B 113.17 u.a. – juris Rn. 5 m.w.N.). Das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, steht dabei gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. Ein schuldhaftes Handeln von Hilfspersonen des Rechtsanwalts, insbesondere von Büropersonal, ist als solches dem bevollmächtigten Rechtsanwalt und damit auch der Partei nicht zurechenbar, da eine dem § 278 BGB entsprechende Vorschrift über die Haftung für das Verschulden von Erfüllungsgehilfen im Prozessrecht fehlt. Allerdings können Fehler von Hilfspersonen auf eine in der eigenen Verantwortungssphäre des bevollmächtigten Rechtsanwalts liegende Ursache zurückzuführen sein, im Hinblick auf die diesen unter dem Gesichtspunkt des sog. Organisationsverschuldens ein eigener Schuldvorwurf treffen kann (vgl. BayVGH, B.v. 14.5.2013 – 11 B 12.1522 – juris Rn. 11). In dem Wiedereinsetzungsantrag ist deshalb darzulegen, dass kein schuldhaftes Handeln des Prozessbevollmächtigten vorliegt, sondern dieser hinreichende organisatorische Maßnahmen getroffen hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.4.2017 – 1 B 66.17 – InfAuslR 2017, 261 Rn. 2).
Im vorliegenden Fall liegt ein schuldhaftes Versäumnis der Prozessbevollmächtigten vor, da sie schon nicht dargelegt hat, dass sie hinreichende organisatorische Sicherheitsvorkehrungen für den Fall ihrer unvorhersehbaren Abwesenheit getroffen hat.
Der Prozessbevollmächtigte einer Partei muss alles ihm Zumutbare tun und veranlassen, damit die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels gewahrt wird. Dementsprechend hat er nach gefestigter Rechtsprechung Vorkehrungen zu treffen, dass im Falle seiner Erkrankung ein Vertreter die notwendigen Prozesshandlungen vornimmt (stRspr; z.B. BGH, B.v. 17.3.2005 – IX ZB 74.04 – juris Rn. 5 m.w.N.). Für den Fall, dass die Krankheit von Anfang an so schwer sein sollte, dass die zur Fristwahrung erforderliche Einschaltung eines Vertreters durch den erkrankten Rechtsanwalt selbst oder eine Anordnung an das Büropersonal betreffend die Unterrichtung eines Vertreters nicht möglich oder zumutbar sein sollte, muss der Rechtsanwalt seine Kanzlei allgemein anweisen, zwecks Erledigung fristgebundener Geschäfte um eine Vertretung durch einen Anwaltskollegen bemüht zu sein oder erforderlichenfalls einen Antrag nach § 53 Abs. 2 BRAO zu stellen (BGH a.a.O. Rn. 5). Dies gilt insbesondere, wenn der Anwalt oder die Anwältin – wie hier – seine oder ihre Kanzlei alleine betreibt (BGH a.a.O. Rn. 5). Solche organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen sind hier weder hinreichend vorgetragen noch aus dem geschilderten Geschehensablauf ersichtlich.
Soweit die Prozessbevollmächtigte erstmals mit ihrer Stellungnahme zur Anhörung nach § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO vorträgt, für solche Fälle sei eine Vertretung durch Frau Rechtsanwältin F* … Y* … vorgesehen, wäre eine solche Regelung zwar grundsätzlich ausreichend (vgl. SächsLSG, U.v. 14.1.2016 – L 3 AS 976/14 – juris Rn. 29). Im konkreten Fall ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, ob und wenn ja in welcher Weise dies der Rechtsanwaltsfachangestellten überhaupt bekannt gemacht worden ist, welche Anweisungen hinsichtlich der Kontaktaufnahme bestanden und welche Vorkehrungen für den Fall vorgesehen waren, dass Frau Rechtsanwältin Y* … nicht erreichbar sein sollte (vgl. SächsLSG a.a.O. Rn. 29). Auch die Rechtsanwaltsfachangestellte hat keine Angaben dazu gemacht, zu welchem Vorgehen sie im Falle einer unvorhergesehenen Erkrankung der Rechtsanwältin allgemein angewiesen war. Die Rechtsanwaltsfachangestellte hat in ihrer eidesstattlichen Versicherung auch weder angegeben, in der Kanzlei Y* … angerufen, noch anderweitig versucht zu haben, Kontakt mit dieser Kanzlei aufzunehmen. Sie hat nur pauschal behauptet, versucht zu haben, Kollegen der Rechtsanwältin zu erreichen. Sie hat aber nicht ausgeführt, welche Kollegen dies gewesen sein sollen, mit wem sie in der jeweiligen Kanzlei gesprochen hat und aus welchen Gründen nachmittags um 15 Uhr dort niemand erreichbar gewesen sein soll.
Da schon nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass für den Fall einer unvorhergesehenen Erkrankung der Rechtsanwältin hinreichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen waren, kann dahinstehen, ob die Rechtsanwaltsfachangestellte unverschuldet den Fristverlängerungsantrag selbst unterschrieben hat, weil sie die telefonische Auskunft der Pressestelle des Verwaltungsgerichtshofs falsch verstanden hatte.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 46.3 und 46.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, Anh. § 164 Rn. 14).
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

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