Aktenzeichen S 1 BA 1/18
Leitsatz
1 Die Tätigkeit als Physiotherapeut kann grundsätzlich sowohl in abhängiger Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden; maßgebend sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte ist für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht zwingend erforderlich. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine fehlende Kassenzulassung als Heilmittelerbringer steht der Annahme einer selbständigen Tätigkeit grundsätzlich nicht entgegen (ebenso BSG BeckRS 2016, 71461). (Rn. 29 und 33) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 21.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt festzustellen, dass der Kläger seine Tätigkeit in der Praxis des Beigeladenen als Physiotherapeut ab 01.01.2016 nicht im Rahmen einer abhängigen, dem Grunde nach sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausübt, sondern selbständig tätig ist.
III. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Gründe
Die Klage ist zulässig. Der Kläger hat auch zu Recht die kombinierte Anfechtungs-/ Verpflichtungsklage gewählt. Diese ist die statthafte Klageart, wenn es – wie hier – um feststellende und statusbegründende Verwaltungsakte geht (Meyer/Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, § 54 Anm. 20 ff).
Die Klage ist auch begründet.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger die Tätigkeit als Physiotherapeut in der Praxis des Beigeladenen nicht im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung ausübt, sondern dass es sich hierbei um eine selbständige Tätigkeit handelt. Unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 21.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.12.2017 war die Beklagte daher zu verurteilen, nach § 7 a Abs. 1 SGB IV festzustellen, dass in Bezug auf die Tätigkeit des Klägers als Physiotherapeut in der Praxis des Beigeladenen eine Beschäftigung nicht vorliegt.
1. Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Dieses Weisungsrecht kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinert“ sein.
Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet.
Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, richtet sich, ausgehend von den genannten Umständen, nach dem Gesamtbild der Tätigkeit und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen.
Ausgangspunkt der Prüfung ist dabei zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt und sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zur ursprünglich getroffenen Vereinbarung stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der nur formellen Vereinbarung vor, soweit eine – auch formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist.
Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört, unabhängig von ihrer Ausübung, auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (zum Ganzen: BSG, Urteil vom 24.01.2007 – B 12 KR 31/06 R, Urteil vom 04.07.2007 – B 11a AL 5/06 R, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, jeweils m.w.N.).
3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sprechen nach Überzeugung der Kammer die weit überwiegenden Umstände dafür, dass der Kläger seit 01.01.2016 seine Tätigkeit in den Praxisräumen des Beigeladenen nicht im Rahmen eines abhängigen, dem Grunde nach sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausübt, sondern die am Vertragsverhältnis Beteiligten zu Recht von einer selbständigen Tätigkeit ausgehen.
a) Die Tätigkeit als Physiotherapeut kann grundsätzlich sowohl in abhängiger Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden. Maßgebend sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhalts.
Dass der Kläger keine Kassenzulassung als Heilmittelerbringer besitzt, sondern seine Leistungen durch den Beigeladenen abrechnen lässt, steht der Annahme einer selbständigen Tätigkeit grundsätzlich nicht entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 24.03.2016 – B 12 KR 20/14 R, Randziffern 25, 28 ff, zitiert nach juris).
b) Vorwiegend sprechen folgende Umstände eindeutig gegen eine abhängige Beschäftigung:
* Der Kläger behandelt seine eigenen Patienten, nicht die Patienten der Physiotherapiepraxis des Beigeladenen.
* Der Erstkontakt mit dem (zukünftigen) Patienten erfolgt in aller Regel unmittelbar zwischen diesem und dem Kläger, nicht durch Zuweisung durch die Praxis des Beigeladenen. Soweit gelegentlich eine Vermittlung durch den Beigeladenen erfolgt, weil ansonsten keine zeitnahe Behandlungsmöglichkeit besteht, ändert dies nichts an der ansonsten strikten Trennung der Patientenstämme.
* Der Kläger behandelt seine Patienten nicht nach den Vorgaben des Beigeladenen, sondern entsprechend den fachlichen Erfordernissen, den ärztlichen Diagnosen und Vorgaben sowie den Regeln der Heilmittelverordnung. Für evtl. Schäden durch eine Fehlbehandlung würde der Kläger persönlich haften.
* Der Kläger und die Praxis des Beigeladenen führen getrennte Terminkalender.
* Der Kläger hat, vertraglich zugesichert, feste Behandlungstage. Er ist insoweit nicht, wie die Beklagte meint, auf das Wohlwollen und freie Kapazitäten des Beigeladenen angewiesen.
* Der Kläger tritt selbst am Markt auf, akquiriert neue Patienten selbst und behandelt diese – für jedermann erkennbar – im eigenen Namen als selbständiger Physiotherapeut.
* Der Kläger hat keine festen Arbeitszeiten und besitzt – zur Abdeckung des Haftungsrisikos (= Unternehmerrisiko) – eine eigene Betriebshaftpflichtversicherung.
* Kläger und Beigeladener wollten kein Beschäftigungsverhältnis begründen und haben ihre vertraglichen Beziehungen auch dementsprechend ausgestaltet und durchgeführt.
c) Vor diesem Hintergrund ist die Kammer der Überzeugung, dass die Tätigkeit des Klägers als Physiotherapeut in der Praxis des Beigeladenen als selbständige Tätigkeit zu qualifizieren ist. Er unterliegt weder einem irgendwie gearteten Weisungsrecht des Beigeladenen noch ist er in dessen Betrieb „eingegliedert“.
d) Dass der Kläger keine eigene Betriebsstätte hat und die Abrechnung seiner Leistungen über den Beklagten erfolgt, steht dem nicht entgegen.
Eine eigene Betriebsstätte ist zwar in vielen Fällen Ausdruck unternehmerischen Handelns, sie ist jedoch für die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht zwingend erforderlich (siehe Rechtsanwälte, Ärzte, Dolmetscher, Stundenbuchhalter etc). Dass der Kläger nicht selbst seine Leistungen mit den Patienten abrechnet, ist dem Zulassungserfordernis in der gesetzlichen Krankenversicherung geschuldet. Diese Zulassung setzt wiederum bestimmte räumliche Anforderungen voraus, die gerade für Berufsanfänger oder junge Selbständige eine hohe (finanzielle) Hürde darstellen. Im Ergebnis ist die vereinbarte 70/30 – Regelung nichts anderes als eine pauschalierte Aufwandsentschädigung für die teilweise Nutzung der Infrastruktur des Beigeladenen. Eine „Eingliederung“ in den Betreib des Beigeladenen lässt sich damit nicht begründen.
4. Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.03.2016 – B 12 KR 20/14 R (SozR 4 – 2400 § 7 Nr. 29). Der vorliegende Fall entscheidet sich von dem der Entscheidung des Bundessozialgerichts zugrundeliegenden Fall in wesentlichen Punkten: Der Erstkontakt zu den Patienten fand dort ausschließlich über die Auftraggeberin statt. Nur diese trat nach außen hin als verantwortliche Praxisbetreiberin und gegenüber den Patienten als Heilmittelerbringerin auf. Behandlungsangebote an die Auftragnehmerin erfolgten ausschließlich durch die Auftraggeberin. Die Auftragnehmerin besaß keine eigene Patientenkartei und erhielt die Fahrtkosten bei Hausbesuchen durch die Auftraggeberin erstattet. Wenn Behandlungen in den Räumen der Auftraggeberin stattfanden, bedurfte es stets neuer Absprachen. Die dortige Auftragnehmerin trat auch nicht in rechtlich relevantem Maße nach außen unternehmerisch am Markt auf, sondern erbrachte ihre Leistungen an Patienten ausschließlich im Namen der Auftraggeberin. Für die Patienten war nicht erkennbar, dass die Auftragnehmerin selbständige Physiotherapeutin sein soll (vgl. BSG a.a.O., Rd.Ziff. 20 ff).
Nach Auffassung der Kammer lässt eine objektive Wertung der in der zitierten BSG-Entscheidung als entscheidungserheblich dargestellten Kriterien nur den Schluss zu, dass bei der vorliegenden Fallgestaltung keine abhängige Beschäftigung, sondern eine selbständige Tätigkeit anzunehmen ist.
Der Klage war daher in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.