Aktenzeichen L 4 KR 257/16
Leitsatz
1. Eine an einen bezugsberechtigten Hinterbliebenen aus einer im Wege der Direktversicherung begründeten Lebensversicherung ausgezahlte Kapitalleistung ist auch dann beitragspflichtiger Versorgungsbezug nach § 229 Absatz 1 Satz 1 Nummer 5 SGB V (Rente der betrieblichen Altersversorgung), wenn der Hinterbliebene zuvor nicht vom Versicherten wirtschaftlich abhängig, zum Beispiel unterhaltsberechtigt, war.
2. Ein Fall der Hinterbliebenenversorgung liegt bereits dann vor, wenn die Einsetzung der hinterbliebenen Person als Bezugsberechtigte eine freiwillige Zuwendung zu ihren Gunsten, etwa im Sinne einer nicht nach § 1601 BGB geschuldeten Unterhaltsleistung, darstellt. Auch in diesem Fall weist die Einnahme die vom § 229 Abs. 1 SGB V geforderte Unterhaltsersatzfunktion auf.
Verfahrensgang
S 10 KR 289/14 2016-04-27 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27.04.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Der Senat konnte in Abwesenheit der Beklagten verhandeln und entscheiden, da diese ordnungsgemäß geladen waren und in der jeweiligen Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung auch im Falle des Ausbleibens hingewiesen wurde (§§ 110, 126, 132 SGG).
Die Berufung ist zulässig; insbesondere ist sie ohne Zulassung statthaft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG – im Streit stehen Beiträge für mehr als ein Jahr) und wurde form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 SGG).
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zutreffend abgewiesen.
1. Streitgegenstand ist die mit den Bescheiden vom 13.06.2013 und vom 20.12.2013, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2014, geregelte Beitragspflicht. Hinsichtlich des Bescheides vom 12.02.2014 (Ruhen des Leistungsanspruchs) hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 15.03.2018 die Berufung zurückgenommen, indem er erklärt hat, dass der Antrag nicht mehr aufrechterhalten werde. Nicht Streitgegenstand ist ferner der Bescheid vom 24.02.2014, mit dem die Beklagte zu 1 den Überprüfungsantrag der Klägerin nach § 44 SGB X abgelehnt hat. Schließlich ist auch nicht Streitgegenstand die Beitragspflicht der Klägerin ab 01.05.2014. Seit diesem Tag ist die Klägerin nicht mehr bei den Beklagten zu 1 und zu 2, sondern bei der Techniker Kranken- und Pflegekasse versichert. Mit dem Ende des Versicherungsverhältnisses haben sich die streitgegenständlichen Bescheide auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X).
2. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) zulässig. Etwas anderes ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass der Widerspruch vom 21.01.2014 gegen den Bescheid vom 13.06.2013 verfristet war. Dieser Umstand bleibt jedoch außer Betracht, weil die Beklagte zu 1 im Widerspruchsbescheid eine Sachentscheidung getroffen hat. Nach Auffassung des BSG, der sich der Senat anschließt, liegt es im freien Ermessen der Behörde, trotz Verfristung eine Sachentscheidung zu treffen, weil die Sachherrschaft bei der Behörde verbleibt. Das Fristversäumnis wird durch die sachliche Entscheidung geheilt. Letztere hat in einem sich ggf. anschließenden Klageverfahren keine Auswirkungen mehr auf die Prüfung der Zulässigkeit des Widerspruchs (Gall in: jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 84 Rn. 34 m.w.N.; ähnlich B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 84 Rn. 7 m.w.N.).
3. Die Klage ist unbegründet. Die berufstätige Klägerin ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bei der Beklagten zu 1 pflichtversichert; daher gilt hinsichtlich beitragspflichtiger Einnahmen § 226 SGB V, insbesondere auch § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V, wonach der Zahlbetrag der der Rente vergleichbaren Einnahmen (Versorgungsbezüge) der Beitragsbemessung zugrunde gelegt wird. Die streitgegenständlichen Einnahmen stellen Versorgungsbezüge dar. Zu Recht hat das SG die Voraussetzungen von § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. Satz 3 SGB V bejaht. Danach gelten Renten der betrieblichen Altersversorgung einschließlich der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und der hüttenknappschaftlichen Zusatzversorgung als der Rente vergleichbare Einnahmen (Versorgungsbezüge), soweit sie wegen einer Einschränkung der Erwerbsfähigkeit oder zur Alters- oder Hinterbliebenenversorgung erzielt werden. Tritt an die Stelle der Versorgungsbezüge eine nicht regelmäßig wiederkehrende Leistung oder ist eine solche Leistung vor Eintritt des Versicherungsfalls vereinbart oder zugesagt worden, gilt ein Einhundertzwanzigstel der Leistung als monatlicher Zahlbetrag der Versorgungsbezüge, längstens jedoch für einhundertzwanzig Monate.
a) Insbesondere hat die Klägerin die streitgegenständliche Versicherungsleistung zum Zweck ihrer Versorgung als Tochter – und damit als Hinterbliebene – erhalten.
aa) Voraussetzung hierfür ist nicht, dass ihr gleichzeitig ein Anspruch auf eine Waisenrente nach § 48 SGB VI zusteht. Für eine solche Auslegung finden sich weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung Anhaltspunkte. Sie würde auch zu Differenzierungen führen, für die ein sachlicher Grund nicht erkennbar wäre. So hinge die Qualifikation als Leistung zur Hinterbliebenenversorgung – und damit die Beitragspflicht – auch davon ab, ob der verstorbene Elternteil die allgemeine Wartezeit erfüllt hat (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 SGB VI). Hätte der verstorbene Elternteil die Wartezeit nicht erfüllt, bestände kein Rentenanspruch und damit keine Beitragspflicht. Im Übrigen sind auch Zahlungen an die versicherte Person selbst oder an die Witwe bzw. den Witwer nicht nur dann als Versorgungsbezüge im Sinne von § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zu qualifizieren, wenn parallel ein Rentenanspruch besteht.
Ebenfalls nicht Voraussetzung ist, dass Hinterbliebene die in § 48 Abs. 4 SGB VI normierte Altersgrenze noch nicht überschritten haben. Bei der Einhaltung der Altersgrenze handelt es sich um eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen, die für einen Anspruch auf Waisenrente erfüllt sein müssen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber in § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V ebenfalls darauf abstellen wollte.
bb) Schließlich kann sich die Klägerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass ihr zuletzt kein Unterhaltsanspruch gegen ihren Vater zugestanden habe. Denn ob die streitgegenständliche Einnahme als Hinterbliebenenversorgung erzielt wurde, hängt nicht vom Bestehen eines Unterhaltsanspruchs zu Lebzeiten des Vaters ab. Auch hierfür findet sich weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung ein Anhaltspunkt.
cc) Die Klägerin geht in ihrem unter aa) und bb) dargestellten Vortrag davon aus, dass ein Fall der Hinterbliebenenversorgung und damit eine Beitragspflicht besteht, wenn sich die hinterbliebene Person typischerweise in wirtschaftlicher Abhängigkeit von der verstorbenen Person befunden hat, also als Kind insbesondere bei Minderjährigkeit, in Ausbildung oder in einer sonstigen Situation, die einen Unterhaltsanspruch begründen konnte. Wenn dagegen eine wirtschaftliche Abhängigkeit nicht bestand, die hinterbliebene Person also in wirtschaftlicher Hinsicht „auf eigenen Füßen steht“ und eine existenzielle Bedeutung der Versicherungsleistung besonders unwahrscheinlich ist, soll nach Auffassung der Klägerin eine Beitragspflicht nicht bestehen.
Damit würden gerade solche Hinterbliebenen mit Beiträgen belastet, die in besonderem Maße schutzbedürftig sind, während diejenigen, die – wie die Klägerin – die Zahlung von Beiträgen auf die zusätzliche Einnahme leichter realisieren können, bevorzugt würden. Dies würde dem Gesetzeszweck, die Erhebung von Beiträgen in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu vorzusehen, in besonderem Maße zuwiderlaufen.
dd) Ein Fall der Hinterbliebenenversorgung liegt daher zur Überzeugung des Senats bereits dann vor, wenn die Einsetzung der hinterbliebenen Person als Bezugsberechtigte eine freiwillige Zuwendung zu ihren Gunsten, etwa im Sinne einer nicht nach § 1601 BGB geschuldeten Unterhaltsleistung, darstellt. Auch in diesem Fall weist die Einnahme die vom § 229 Abs. 1 SGB V geforderte Unterhaltsersatzfunktion (dazu KassKomm/Peters SGB V § 229 Rn. 5) auf. Eine Prüfung der Frage, ob und ggf. in welchem Umfang nach zivilrechtlichen Maßstäben ein Unterhaltsanspruch bestand oder nach dem Tod der zuwendenden Person bestanden hätte, ist in § 229 Abs. 1 SGB V nicht vorgesehen. Feststellungen zur Bedürftigkeit der Klägerin und zur Leistungsfähigkeit ihres Vaters (§§ 1602, 1603 BGB) sind also nicht erforderlich.
b) Die Klägerin kann sich nicht darauf stützen, dass ihr verstorbener Vater nicht in der GKV versichert war und damit selbst keine Beiträge auf die Versicherungsleistung gezahlt hätte. Für die Beitragspflicht von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer, zu dessen Gunsten die Versorgung begründet wurde, während des Anspruchserwerbs gesetzlich krankenversichert war (BSG, Urteil vom 25.04.2012, B 12 KR 19/10 R).
c) Die Klägerin kann nicht verlangen, wie eine Erbin gestellt zu werden, weil die streitgegenständliche Zuwendung nicht aus ererbtem Vermögen stammt. Eine Lebensversicherungssumme, die ein überlebender Ehegatte als Bezugsberechtigter aus der Versicherung des Verstorbenen erhält, gehört zu keinem Zeitpunkt zum vererbbaren Vermögen des Verstorbenen; sie fällt dem überlebenden Ehegatten vielmehr aufgrund seiner vertraglichen Bezugsberechtigung kraft eigenen Rechts unmittelbar aus dem Vermögen des Versicherers zu. Die Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung verstößt in diesen Fällen weder gegen Art. 3 Abs. 1 noch gegen Art. 14 Abs. 1 GG (BSG, Urteil vom 05.03.2014 – B 12 KR 22/12 R). Anhaltspunkte dafür, dass für die Klägerin als Tochter etwas anderes gelten könnte, liegen nicht vor. Die Klägerin ist insoweit an die Disposition ihres Vaters gebunden, der davon abgesehen hat, die streitgegenständliche Geldanlage zu Lebzeiten aufzulösen und den Erlös der Klägerin zu vererben.
d) Die streitgegenständliche Zuwendung ist keine Leistung aus Altersvorsorgevermögen im Sinne des § 92 EStG, so dass die entsprechende Änderung von § 229 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V durch das Betriebsrentenstärkungsgesetz vom 17.08.2017 (BGBl I 3214) im vorliegenden Verfahren keine Auswirkungen hat.
e) Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagten den jeweiligen Beitragssatz oder die Höhe der Einkünfte des Klägers mit unzutreffenden Werten angesetzt hätte oder dass ihnen ein rechnerischer Fehler unterlaufen wäre, liegen nicht vor und wurden auch von der Klägerin nicht geltend gemacht. Insbesondere haben die Beklagten keine Beiträge auf Kapitalleistungen erhoben, die auf Beiträgen beruhen, die der Vater der Klägerin nach Beendigung seiner Erwerbstätigkeit auf den Lebensversicherungsvertrag unter Einrücken in die Stellung des Versicherungsnehmers eingezahlt hat. Damit haben sie den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 28.09.2010, 1 BvR 1660/08) Rechnung getragen.
f) Ergänzend wird auf die Ausführungen des SG (§ 153 Abs. 2 SGG) verwiesen, so dass eine weitere Darstellung der Entscheidungsgründe nicht erforderlich ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).