Aktenzeichen 6 AZR 416/09
§ 1 TVG
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Köln, 22. Juli 2008, Az: 17 Ca 4582/08, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln, 13. März 2009, Az: 10 Sa 1151/08, Urteil
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 13. März 2009 – 10 Sa 1151/08 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über eine Versetzungszulage nach § 06 Abs. 3 der Dienstvereinbarung ProDAK (DVb ProDAK).
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Die in Ko wohnende Klägerin ist seit 1991 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als Teilzeitbeschäftigte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Wochenstunden. Zum 18. Februar 2008 wurde sie von D nach K versetzt. Die Entfernung zwischen ihrem Wohnort und der bisherigen Dienststelle in D betrug maximal 28 km. Die neue Arbeitsstätte der Klägerin in K liegt rund 48 km von ihrer Wohnung entfernt.
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Auf der Grundlage der tariflichen Öffnungsklausel in § 10 der Anlage 12 zum Ersatzkassen-Tarifvertrag (EKT) schlossen die Beklagte und deren Hauptpersonalrat die DVb ProDAK. Darin ist in § 06 (Mobilitätsfördernde Leistungen) geregelt:
„(1) Mit den nachfolgend genannten Leistungen soll die Motivation der Beschäftigten geweckt bzw. gefördert werden, sich über die Zumutbarkeitsgrenzen des § 6 Absatz 6 – 8 der Anlage 12 EKT hinaus freiwillig versetzen zu lassen. Dabei sollen auftretende Nachteile für die Beschäftigten kompensiert oder abgemildert werden.
…
(3) Entscheiden sich Beschäftigte, obwohl ein Wohnortwechsel gemäß § 6 Absatz 8 der Anlage 12 EKT möglich ist, nicht für einen solchen, erhalten sie die Versetzungszulage nach dem Tarifvertrag über Versetzungszulagen. Zusätzlich wird die tägliche Arbeitszeit für 6 Monate um 30 Minuten ohne Gehaltskürzung verringert.
…
(5) Bei Teilzeitbeschäftigten, die nicht jeden Arbeitstag in der Woche tätig sind, ist zur Berechnung der Leistungen des Absatzes 2 und 4 die Anzahl der durchschnittlich pro Woche gegebenen Arbeitstage in das Verhältnis zu der Anzahl der Tage zu setzen, die bei einem Vollzeitbeschäftigten zugrunde gelegt wird. …
…“
4
In § 08 (Besondere Regelungen) haben die Betriebsparteien für Teilzeitbeschäftigte bestimmt:
„(1) Die teilzeitbeschäftigten Beschäftigten genießen den gleichen Schutz wie Vollzeitbeschäftigte. Bei einem erheblichen Missverhältnis von Arbeitszeit zur Fahrzeit besteht für die Beschäftigten die Möglichkeit, die Lage der Arbeitszeit zu verändern. Von einem erheblichen Missverhältnis zwischen vereinbarter Arbeitszeit und aufzubringender Fahrzeit ist z.B. dann auszugehen, wenn
–
der Arbeitsplatz gem. § 6 Abs. 7 Anlage 12 zum EKT als unzumutbar anzusehen wäre … oder
–
die Fahrtzeit 1/3 und mehr der durchschnittlichen täglichen Arbeitszeit (je vereinbarten Arbeitstagen) beträgt.
…“
5
Bei der in § 06 Abs. 3 DVb ProDAK in Bezug genommenen Anlage 12 zum EKT handelt es sich um einen Tarifvertrag über Rationalisierungsschutz (Stand 1. Mai 1988). In § 6 ist darin unter der Überschrift „Weiterbeschäftigung“ bestimmt:
„(1) Ist eine gleichwertige Weiterbeschäftigung am bisherigen Arbeitsplatz nicht möglich, hat die Kasse den Angestellten bei der Besetzung eines höherwertigen Arbeitsplatzes … bevorzugt zu berücksichtigen.
(2) Steht kein Arbeitsplatz im Sinne des Absatzes 1 zur Verfügung, hat die Kasse dem Angestellten einen gleichwertigen, geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz in nachstehender Reihenfolge
…
anzubieten.
(3) Steht kein Arbeitsplatz im Sinne der Absätze 1 und 2 zur Verfügung, hat die Kasse dem Angestellten einen niedriger bewerteten, geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz in nachstehender Reihenfolge
…
anzubieten.
(4) Ein Arbeitsplatz ist gleichwertig, wenn …
(5) Ein Arbeitsplatz ist geeignet, wenn …
(6) Ein Arbeitsplatz ist zumutbar, wenn entweder die tägliche Rückkehr zum Wohnort oder ein Wohnsitzwechsel möglich ist. …
(7) Die tägliche Rückkehr zum Wohnort im Sinne des Absatzes 6 ist möglich, wenn
–
die neue Dienststelle nicht weiter von der Wohnung des Angestellten entfernt ist als die bisherige Dienststelle oder
–
die neue Dienststelle nicht weiter als 25 km von der Wohnung des Angestellten entfernt ist oder
–
sich die Fahrzeit für die Hin- und Rückfahrt unter Beibehaltung des bisher benutzten Beförderungsmittels nur unwesentlich erhöhen würde oder
–
der zeitliche Aufwand für den Hin- und Rückweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zweieinhalb Stunden nicht überschreitet.
(8) Ein Wohnsitzwechsel im Sinne des Absatzes 6 ist möglich, wenn nicht familiäre, gesundheitliche oder sonstige persönliche Umstände des Angestellten einen Wohnsitzwechsel unzumutbar machen.
(9) Der Angestellte hat einen ihm in der Reihenfolge der Absätze 2 und 3 angebotenen, geeigneten und zumutbaren Arbeitsplatz anzunehmen. Ist er hierzu nicht bereit, kann die Kasse unter Einhaltung der Fristen nach § 32 Absatz 1 EKT das Beschäftigungsverhältnis kündigen; …
…“
6
Die Klägerin begehrt nach außergerichtlicher Geltendmachung und Ablehnung durch Schreiben der Beklagten vom 29. April 2008 mit ihrer im Juni 2008 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage die Versetzungszulage nach § 06 Abs. 3 DVb ProDAK für die Zeit vom 18. Februar 2008 bis zum 31. Mai 2008. Diese beträgt unstreitig 153,39 Euro monatlich. Welche Fahrzeiten die Klägerin aufzuwenden hätte, sofern sie – wie bis zu ihrer Versetzung – den privaten Pkw für die Fahrt zur Arbeit benutzte, ist streitig geblieben. Bei einer ausschließlichen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist eine Fahrzeit von 244 Minuten täglich erforderlich.
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Die Klägerin hat behauptet, ihre Fahrzeit habe sich bei ausschließlicher Benutzung des Pkw von bisher 60 bis 80 Minuten auf 100 bis 180 Minuten für Hin- und Rückfahrt erhöht. Auf ihrer Fahrstrecke komme es ständig zu Staus. Seit einiger Zeit nach ihrer Versetzung fahre sie ua. wegen des Stresses im innerstädtischen Verkehr mit dem Pkw bis zum Bahnhof G und nutze von dort aus den Zug und die U-Bahn. Daraus ergebe sich eine tatsächliche Fahrzeit für Hin- und Rückweg von 156 Minuten. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Wesentlichkeit einer Fahrzeiterhöhung beurteile sich allein anhand der Dauer der tatsächlichen Fahrzeit, die nicht anhand von Routenplanern ermittelt werden könne. Diese berücksichtigten die konkreten Verkehrsverhältnisse nicht. Selbst wenn man jedoch auf die von einem Routenplaner angegebene Fahrzeit abstelle, habe sich die Differenz für die einfache Fahrt um 11 Minuten, nämlich von 25 auf 36 Minuten und damit um 44 %, also nicht nur unwesentlich, erhöht. Diesen Angaben der Klägerin liegt der Routenplaner map 24 zugrunde.
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Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 533,21 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.
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Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, die Klägerin könne ihren neuen Arbeitsplatz gemäß § 6 Abs. 7 der Anlage 12 zum EKT mit täglicher Hin- und Rückfahrt erreichen. Die tägliche Fahrzeit habe sich bei Benutzung eines Pkw für Hin- und Rückweg nur um 14 Minuten erhöht.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die zugelassene Berufung der Klägerin das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren auf Klageabweisung weiter. Sie vertritt nunmehr die Rechtsauffassung, der Wortlaut der tariflichen Regelung allein führe weder zu eindeutigen noch zu sachgerechten Ergebnissen. Zu unbilligen und gleichheitswidrigen Ergebnissen komme es insbesondere dann, wenn man auf die prozentuale Veränderung der Fahrzeit abstelle. Darum seien ergänzend systematische Erwägungen bei der Auslegung heranzuziehen. Die Tarifvertragsparteien hätten in der vierten Variante des § 6 Abs. 7 der Anlage 12 zum EKT eine eindeutige Untergrenze für den zeitlichen Aufwand für den Hin- und Rückweg festgelegt. Der Tarifzusammenhang verlange darum, bei Beibehaltung des bisher benutzten Beförderungsmittels die Wesentlichkeitsgrenze des dritten Kriteriums des § 6 Abs. 7 der Anlage 12 zum EKT erst dann als erreicht anzusehen sei, wenn die Fahrzeit für die Hin- und Rückfahrt 2,5 Stunden überschreite. Erst dann sei eine tägliche Rückkehr an den Wohnort nicht mehr möglich im tariflichen Sinn. Diese Auslegung führe zudem zu praktikablen Ergebnissen und trage dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung.
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Jedenfalls sei eine Steigerung der Gesamtfahrzeit von 14 bis 22 Minuten nicht wesentlich im Sinne der tariflichen Regelung. Eine solche Steigerung bleibe unterhalb der Grenze von 30 Minuten, um die gemäß § 06 Abs. 3 Satz 2 DVb ProDAK die Arbeitszeit für die ersten sechs Monate verkürzt werde. Dies sei erkennbar als Kompensation für die Verlängerung der Fahrzeit gedacht.