Aktenzeichen S 30 VG 12/14
BVG § 29, § 30 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
1. Wenn eine nicht genau datierbare Schädigung durch Missbrauch und Misshandlung einer 1963 geborenen Antragstellerin in ihrer Kindheit anerkannt ist und die ärztliche Begutachtung einen GdS von 30 ergibt, dann scheitert die Versorgung an § 10 a OEG. (Rn. 28)
2. Ein im Erwachsenenalter und mithin nach 1976 erlittener minderschwerer sexueller Übergriff ist nach traumatisch belasteter Kindheit nicht geeignet, mit einem eigenständigen GdS von 30 doch noch eine Versorgung zu begründen. (Rn. 29)
Tenor
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 19.01.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheides vom 14.01.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2014 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig.
Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf staatliche Versorgung, der infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
Auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wird verwiesen. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigtenrente die Beurteilung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolgen anerkannten körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen, S. 2 der Vorschrift. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 sind vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt nach § 30 Abs. 1 Satz 4 ein Zeitraum bis zu sechs Monaten.
§ 31 BVG lässt einen Rentenanspruch ab einem GdS von 30 zu.
Nach § 29 BVG entsteht ein Anspruch auf höhere Bewertung des Grades der Schädigungsfolgen nach § 30 Abs. 2 GVG frühestens in dem Monat, in dem erfolgversprechende und zumutbare Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgeschlossen werden.
Nach § 10 a OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag eine Versorgung, solange sie
1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und
2. bedürftig sind und
3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Die Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 gibt unter Nr. 3.7 für die Bewertung von „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen“ als Richtlinien für die Zuweisung eines GdS vor:
– leichtere psychovegetative oder psychische Störungen: 0-20
– stärker behindernde Störungen mit wesentliche Einschränkung der Erlebnisund Gestaltungsfähigkeit: 30-40
– schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 50-70/ mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten: 80-100.
Nach dieser Maßgabe muss den Einschätzungen sowohl von Frau Dr. H. als auch von Frau Dr. I. gefolgt werden, die insoweit übereinstimmen, als die für Schädigungen vor 16.05.1976 maßgebliche Schwelle eines GdS 50 nicht erreicht wird. Zur Einschätzung des Ausmaßes psychischer Folgen von Traumatisierungen in Kindheit, Jugend oder Erwachsenenalter ist unverzichtbar die vergleichende Betrachtung verschiedener biografischer Verläufe nach einer solchen Schädigung. Der Beklagte wie auch das Gericht müssen sich immer wieder um Gewaltopfer kümmern, denen befriedigende und stabile Partnerschaften niemals gelingen, die keine Kinder haben oder bei denen die Erziehung der eigenen Kinder alsbald scheitert, die im „ersten Arbeitsmarkt“ nicht auf Dauer fußfassen und die mit einer ordnungsgemäßen Haushaltsführung in eigener Wohnung überfordert sind. Die Klägerin hingegen hat bisher ein durchaus erfolgreiches Arbeitsleben absolviert, führt eine stabile Ehe und hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten drei Kindern gute Voraussetzungen für ihre Entwicklung bieten können. Die traumatisch bedingten Beschwerden können nicht isoliert betrachtet werden. Mit ins Blickfeld genommen werden müssen die außerordentlich ungünstigen Bedingungen in der Herkunftsfamilie der Klägerin, die der gesunden Entwicklung eines Kindes keinesfalls zuträglich waren. Durchaus auffällig ist, dass der Klägerin schon frühzeitig ein durchaus stabiles Selbstbewusstsein mitgegeben wurde, mit dem sie sämtliche sexuelle Bedrängungen durch Partner und Gäste der Mutter abwehren konnte. Zu einem vollendeten sexuellen Missbrauch ist es dank der Standhaftigkeit der Klägerin nie gekommen. Insgesamt wird für die Folgen aus der Summe der Bedrängungen im mütterlichen Haushalt, der früher leider nur allzu alltäglichen Gewaltausübung in der Schule und der letztlich schnell abgewehrten folgenlosen Attacke eines Exhibitionisten ein GdS-Wert zwischen 20 (Dr. H.) und 30 (Dr. I.) anzunehmen sein. Jedenfalls wird die Schwelle von 50 nicht erreicht.
Eine Versorgung käme in Betracht, wenn allein aufgrund von Schädigungen nach dem 15.05.1976 ein GdS von 30 erreicht wäre. Dafür wäre erforderlich, dass
– der Übergriff durch einen Exhibitionisten mit Sicherheit nach dem 15.05.1976 zu datieren wäre
– und dass hieraus allein ein GdS von 30 resultieren würde.
Beide Kriterien sind nicht erfüllt. Wenn die Klägerin den Vorfall auf ein Lebensalter von 12 bis 12 1/2 datiert, käme eine Tatzeit zwischen Oktober 1975 und April 1976 in Betracht. Auch ist allein aus diesem Übergriff keine medizinisch definierbare Folge ableitbar, die mit einem GdS von 30 bewertet werden könnte. Die Klägerin konnte durch entschlossene und erfolgreiche Gegenwehr die Situation in größter Schnelligkeit bereinigen. Von daher ist der Vorfall keinesfalls mit einem Ereignis des vollendeten sexuellen Missbrauchs gleichzusetzen.
In der Gesamtbilanz bleibt daher die Klage ohne Erfolg. Vorliegend wie auch schon in anderen Streitsachen muss das Gericht mit Bedauern beobachten, dass der Beklagte Gutachtensaufträge an externe Sachverständige vergibt, die dann zu unverständlich hohen GdS-Werten gelangen, die dann verwaltungsseitig nicht übernommen werden. Im Widerspruchs- und Klageverfahren ist es Rechtssuchenden und ihren Vertretern nicht zu verdenken, wenn sie sich auf diese selbstverständlich in der Akte bleibenden Gutachten beziehen und damit aus dem vom Beklagten selbst geschaffenen Material Ansprüche herleiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).