Aktenzeichen S 46 SF 261/17 ERI
AktO-SG § 20
Leitsatz
Wenn überwiegende Gründe für eine Entlassung eines ehrenamtlichen Richters nach § 18 Abs. 3 SGG sprechen, eine endgültige Entscheidung aber noch nicht möglich ist, kann analog § 22 Abs. 3 S. 1 SGG eine vorläufige Entscheidung ergehen, dass dieser Richter bis zur endgültigen Entscheidung nicht als ehrenamtlicher Richter heranzuziehen ist. (Rn. 6)
Tenor
Es wird angeordnet, dass der Antragsteller bis zur endgültigen Entscheidung über die Entlassung nicht als ehrenamtlicher Richter heranzuziehen ist.
Gründe
I.
Der betroffene ehrenamtliche Richter (aus verfahrenstechnischen Gründen künftig Antragsteller) ist ehrenamtlicher Richter aus dem Kreis der Arbeitgeber. Seine laufende Amtsperiode dauert von 01.10.2014 bis 30.09.2019.
Anlässlich einer Ladung zur öffentlichen Sitzung am 29.06.2017 teilte der Antragsteller am 08.07.2017 per E-Mail mit, dass er an der Sitzung nicht teilnehmen könne, weil er für die nächsten drei Jahre in China sei. Der Versuch des Sozialgerichts, unter derselben E-Mail-Adresse weitere Informationen zu erlangen, blieb ohne Erfolg. Eine Antwort auf ein Schreiben des Gerichts an die bisherige Postanschrift in A-Stadt steht aus. Weitere Ermittlungen, z.B. über seinen (ehemaligen) Arbeitgeber, sind möglich.
II.
In entsprechender Anwendung von § 22 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wird hiermit vorläufig entschieden, dass der Antragsteller bis zur Entscheidung über die Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG nicht als ehrenamtlicher Richter heranzuziehen ist.
1. Ein ehrenamtlicher Richter kann gemäß § 18 Abs. 3 S. 1 SGG auf Antrag hin aus seinem Amt entlassen werden, wenn einer der Gründe nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGG nachträglich eintritt. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 5 SGG ist ein derartiger Grund gegeben, wenn der ehrenamtliche Richter glaubhaft macht, dass wichtige Gründe ihm die Ausübung des Amtes in besonderem Maße erschweren. Nach § 18 Abs. 3 Satz 2 SGG bedarf es eines Antrags nicht, wenn der ehrenamtliche Richter seinen Wohnsitz aus dem Bezirk des Sozialgerichts verlegt und seine Heranziehung zu den Sitzungen dadurch wesentlich erschwert wird. Nach dem System der Norm ist ein derartiger Umzug ein Unterfall von § 18 Abs. 1 Nr. 5 SGG.
Wenn der Antragsteller tatsächlich für drei Jahre in China ist, wäre seine Heranziehung zu den Sitzungen bis zum Ende seiner Amtsperiode praktisch unmöglich. Für die Amtsentbindung wäre bei dieser Entfernung zum Gerichtsbezirk gemäß § 18 Abs. 3 S. 2 SGG kein Antrag nötig. Dieser Sachverhalt ist aber noch nicht glaubhaft gemacht. Außerdem ist dem Antragsteller rechtliches Gehör zu gewähren. Zugleich drohen dem laufenden Geschäftsbetrieb erhebliche Nachteile. Die Ladung des Antragstellers würde mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Erfolg bleiben und es müsste kurzfristig auf Ersatzrichter zurückgegriffen werden. In der anstehenden Ferienzeit ist das Gelingen derartiger kurzfristiger Nachladungen nicht gesichert, so dass öffentliche Sitzungen zu platzen drohen.
2. Nach § 22 Abs. 3 SGG kann die zuständige Kammer anordnen, dass ein ehrenamtlicher Richter bis zur Entscheidung über die Amtsentbindung oder Amtsenthebung nicht heranzuziehen ist. Den Sachverhalt einer Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG erfasst diese Regelung nach ihrem Wortlaut nicht. Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung liegen jedoch vor.
Voraussetzungen einer analogen Anwendung einer gesetzlichen Regelung auf einen Sachverhalt, der von der Norm nicht erfasst wird („das Gesetz ist zu eng“), sind
̶ der zu beurteilende Sachverhalt ist mit dem geregelten Sachverhalt vergleichbar,
̶ nach Sinn und Zweck der Norm ist dieselbe rechtliche Bewertung angezeigt und
̶ es besteht eine planwidrige Regelungslücke in der Norm (vgl. BSG, Urteil vom 09.12.2016, B 8 SO 15/15 R, dort Rn. 15).)
a) Der Sachverhalt einer Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG ist dem einer Amtsentbindung nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGG vergleichbar.
Eine Amtsentbindung nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGG kann erfolgen, wenn eine Voraussetzung für die Berufung eines ehrenamtlichen Richters nachträglich wegfällt, etwa ein Vertragsarzt seine Kassenzulassung zurückgibt oder ein Arbeitnehmer Beamter wird.
Eine Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG kann erfolgen, wenn nach der Ernennung zum ehrenamtlichen Richter einer der Ablehnungsgründe nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SGG eintritt, insbesondere durch Umzug der Wohnsitz aus dem Bezirk des Sozialgerichts verlegt wird und die Heranziehung zu den Sitzungen wesentlich erschwert wird, § 18 Abs. 3 S. 2 SGG.
In beiden Fallgruppen kann die Amtszeit des ehrenamtlichen Richters vorzeitig durch Beschluss beendet werden, weil sich in seinen persönlichen Verhältnissen nach der Berufung in das Amt Veränderungen ergeben haben. In beiden Fällen ist die Amtsbeendigung nicht zwingend. Auch bei der Amtsentbindung nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGG besteht angesichts des eindeutigen Wortlauts Ermessen (so zutreffend Keller in Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 12. Auflage 2017, § 22 Rn. 3). Dass es bei § 22 SGG keines Antrags des betroffenen ehrenamtlichen Richters bedarf, ist zumindest im vorliegenden Fall nicht von Belang, weil § 18 Abs. 3 S. 2 SGG einen Antrag für verzichtbar erklärt.
b) Nach Sinn und Zweck von § 22 Abs. 3 SGG ist dieselbe rechtliche Bewertung angezeigt.
§ 22 Abs. 3 SGG will die Zeit bis zur endgültigen Entscheidung über die Amtsbeendigung durch eine vorläufige Anordnung regeln. Dadurch soll, wenn eine Amtsbeendigung nahe liegt, Zeit für die Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts gewonnen werden und für diese Zwischenzeit Ladungen betroffener ehrenamtlicher Richter vermieden werden. Zugleich soll die einstweilige Anordnung die vorübergehende Nichtberufung einer förmlichen richterlichen Entscheidung zuführen, denn es wird in die Bestimmung des gesetzlichen Richters eingegriffen. Die endgültige Entscheidung über die Amtsbeendigung ist unanfechtbar, § 22 Abs. 2 S. 3 SGG. Bei einem Entlassungsverfahren nach § 18 Abs. 3 SGG stellt sich diese Situation in gleicher Weise.
c) Es besteht eine planwidrige Gesetzeslücke.
Die aktuelle Fassung des § 22 SGG wurde mit dem 6. SGG-Änderungsgesetz vom 17.08.2001 (BGBl. I S. 2144) geschaffen. Im Gesetzgebungsverfahren wurde in der Bundestagsdrucksache 14/5943 zu § 22 Abs. 3 SGG Folgendes ausgeführt:
„Absatz 3 ermöglicht entsprechend § 21 Abs. 5 Satz 5 und § 27 des Arbeitsgerichtsgesetzes eine vorläufige gerichtliche Anordnung bis zur endgültigen Entscheidung über die Amtsentbindung oder Amtsenthebung des ehrenamtlichen Richters.“
In § 18 SGG wurde lediglich beim Ablehnungsgrund § 18 Abs. 1 Nr. 2 SGG die Zahl acht durch die Zahl zehn ersetzt. Beschlussempfehlungen und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (Bundestagsdrucksache 14/6335) äußern sich nicht zu § 22 Abs. 3 SGG.
Es spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber gesehen hat, dass auch bei einer Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG ein Bedürfnis für eine einstweilige Anordnung bestehen kann oder der Gesetzgeber eine einstweilige Anordnung im Rahmen von § 18 Abs. 3 SGG bewusst vermeiden wollte.
3. Weil hier überwiegende Gründe für eine Entlassung nach § 18 Abs. 3 SGG sprechen, ein Antrag des betroffenen ehrenamtlichen Richters nicht erforderlich ist und die endgültige Entscheidung erst nach der schriftlichen Klärung der Verhältnisse möglich ist, ergeht analog § 22 Abs. 3 SGG diese vorläufige Anordnung.
Dieser Beschluss ist analog § 22 Abs. 3 Satz 2 SGG unanfechtbar.