Arbeitsrecht

Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung über die variable Vergütung

Aktenzeichen  37 BV 49/17

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 159058
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 256
BGB § 124 Abs. 1, Abs. 2, § 142 Abs. 1
BetrVG § 77 Abs. 4 S. 1, § 87 ABs. 1
TVG § 4 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG gelten Betriebsvereinbarungen zwar unmittelbar und zwingend. Diese gesetzliche Regelung wird durch das Günstigkeitsprinzip ergänzt. Günstigere einzelvertragliche Vereinbarungen gehen daher den belastenden Regelungen einer Betriebsvereinbarung vor. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Arbeitnehmer hat Ansprüche aus einem Einzelarbeitsvertrag, die über die Ansprüche aus der Betriebsvereinbarung hinausgehen. Das Günstigkeitsprinzip führt nicht zur Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Günstigere arbeitsvertragliche Regelungen bleiben auch dann, wenn sie auf eine Gesamtzusage zurückgehen, grundsätzlich gegenüber nachträglichen verschlechternden Betriebsvereinbarungen wirksam. Eine Verschlechterung der durch Gesamtzusage begründeten Rechte durch Betriebsvereinbarung kommt nur in Betracht, wenn die Geschäftsgrundlage der Gesamtzusage gestört ist, der Arbeitgeber sich dem Widerruf der Gesamtzusage vorbehalten oder sie unter dem Vorbehalt einer abändernden Neuregelung durch Betriebsvereinbarung gestellt hat, oder wenn die Neuregelung durch Betriebsvereinbarung zumindest bei kollektiver Betrachtung insgesamt nicht ungünstiger als die abgelöste Gesamtzusage ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Gründe

Die Anträge sind zulässig, jedoch unbegründet.
Im Einzelnen:
I.
Die Anträge sind zulässig.
1. Ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 ZPO besteht.
Ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 ZPO ergibt sich für die vorliegenden Anträge bereits daraus, dass die Betriebsparteien wissen müssen, ob die Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager noch anzuwenden ist. Dies gilt auch für die Zeit der Nachwirkung.
II.
Die Anträge sind unbegründet.
Die Anfechtung der Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager vom 22.02.2007 scheitert an der nicht eingehaltenen Anfechtungsfrist, § 124 Abs. 1 und Abs. 2 BGB. Daher liegt Nichtigkeit gemäß § 142 Abs. 1 BGB nicht vor.
Eine Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung ist weder für die gesamte Betriebsvereinbarung, noch für die Ziffern 2, 3, 4 und 12 gegeben. Hinsichtlich günstigerer Arbeitsbedingungen in Einzelverträgen gilt das Günstigkeitsprinzip. Die einheitlichen Regelungen in den Arbeitsverträgen sind betriebsvereinbarungsoffen gestaltet und im Übrigen hält die vorliegende Betriebsvereinbarung dem kollektiven Günstigkeitsvergleich stand.
1. Die Anfechtung der Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager vom 22.02.2007 durch den Betriebsrat scheitert an § 124 Abs. 1 und 2 BGB.
Gemäß § 124 Abs. 1 BGB muss eine Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung gemäß § 123 BGB binnen Jahresfrist erfolgen. Gemäß § 124 Abs. 2 BGB beginnt die Frist im Falle der arglistigen Täuschung mit dem Zeitpunkt, in welchem der Anfechtungsberechtigte die Täuschung entdeckt.
Vorliegend hatte der Betriebsrat spätestens seit dem 29.06.2015 Kenntnis darüber, dass die in der Betriebsvereinbarung geregelte Anwesenheitsprämie nicht immer zu 100%, unabhängig von der Anwesenheit des jeweiligen Mitarbeiters, gezahlt werde. Dies ergibt sich aus dem Schreiben des Herrn K. an den Betriebsratsvorsitzenden X. durch E-Mail vom 29.06.2015 (Anlage A12, Bl. 419 d.A.). Auch aus dem Antwortschreiben auf diese E-Mails vom 16.07.2015 durch den Betriebsratsvorsitzenden ergibt sich, dass die Kürzungen bei der Anwesenheitsprämie aufgrund der Regelungen in der Betriebsvereinbarung dem Betriebsrat bekannt waren. Da der Betriebsrat spätestens am 29.06.2015 Kenntnis erlangte von den Tatsachen, dass gegebenenfalls einzelne Mitarbeiter schlechter behandelt werden würden wegen der Anwesenheitsprämie wie zuvor, endete die Anfechtungsfrist ein Jahr später, d.h. Juni 2016. Die Anfechtungserklärung vom 20.02.2007 ist daher verspätet.
2. Die Betriebsvereinbarung Variable Vergütung vom 22.02.2007 ist nicht unwirksam, weder in Teilen noch im Gesamten.
a. Die Betriebsvereinbarung scheitert nicht an günstigeren Regelungen in Einzelarbeitsverträgen.
Gemäß § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG gelten Betriebsvereinbarungen zwar unmittelbar und zwingend. Diese gesetzliche Regelung ist jedoch unvollständig. Sie wird durch das Günstigkeitsprinzip ergänzt. Das in § 4 Abs. 3 TVG nur unvollkommen geregelte Günstigkeitsprinzip ist Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes Geltung beansprucht. Es gilt auch für das Verhältnis von vertraglichen Ansprüchen zu den Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung. Günstigere einzelvertragliche Vereinbarungen gehen daher den belastenden Regelungen einer Betriebsvereinbarung vor (BAG vom 05.03.2013 – 1 AZR 417/12, Rn 55, Juris).
Den Vortrag des Betriebsrates, dass es günstigere Regelungen in Einzelarbeitsverträgen nach wie vor gebe, als wahr unterstellt, ergibt sich für das vorliegende Verfahren, dass eine Betriebsvereinbarung an günstigeren Einzelarbeitsverträgen nicht scheitern kann. Insoweit gilt das Günstigkeitsprinzip. Ein Arbeitnehmer hat dann gegebenenfalls Ansprüche aus einem Einzelarbeitsvertrag, die über die Ansprüche aus der Betriebsvereinbarung hinausgehen. Das Günstigkeitsprinzip führt nicht zur Unwirksamkeit einer Betriebsvereinbarung.
b. Der antragstellende Betriebsrat geht bei den ursprünglichen arbeitsvertraglichen Regelungen nicht von einer Einheitsregelung aus. Sollte eine Einheitsregelung nicht vorliegen, so gilt das oben ausgeführte unter a.
Aber sollte eine Einheitsregelung vorgelegen haben, scheitert die Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager nicht an der vorhergehenden Einheitsregelung.
Eine durch eine Gesamtzusage begründete und deshalb auf einzelvertragliche Grundlage beruhende betriebliche Ordnung ist gegen Verschlechterungen grundsätzlich durch das Günstigkeitsprinzip geschützt. Dieses in § 4 Abs. 3 TVG nur unvollkommen geregelte Prinzip ist Ausdruck des aus dem arbeitsrechtlichen Schutzprinzip hergeleiteten Grundsatzes, dass arbeitsvertragliche Gestaltungsfaktoren, wie Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge im Verhältnis zu rangniedrigeren Regelungen, wie insbesondere einzelvertraglichen Abmachungen, Verbesserungen nicht ausschließen können. Sie können nur einseitig zwingendes Recht schaffen. Damit bleiben günstigere arbeitsvertragliche Regelungen auch dann, wenn sie auf eine Gesamtzusage zurückgehen, grundsätzlich gegenüber nachträglichen verschlechternden Betriebsvereinbarungen wirksam (BAG vom 17.06.2003 – 3 ABR 43/02). Von diesem Grundsatz lässt das Bundesarbeitsgericht seit der Entscheidung des Großen Senats vom 16.09.1986 nur die folgenden Ausnahmen zu: Eine Verschlechterung der durch Gesamtzusage begründeten Rechte durch Betriebsvereinbarung kommt in Betracht, wenn die Geschäftsgrundlage der Gesamtzusage gestört ist, der Arbeitgeber sich dem Widerruf der Gesamtzusage vorbehalten oder sie unter dem Vorbehalt einer abändernden Neuregelung durch Betriebsvereinbarung gestellt hat, oder wenn die Neuregelung durch Betriebsvereinbarung zumindest bei kollektiver Betrachtung insgesamt nicht ungünstiger als die abgelöste Gesamtzusage ist (BAG wie oben angegeben).
Vorliegend folgt das Gericht der Rechtsauffassung im Verfahren 11 Sa 10/17 vor dem Landesarbeitsgericht München. Das Landesarbeitsgericht München war der Rechtsauffassung, dass die Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager die arbeitsvertraglichen Vereinbarungen ändern konnte, da diese arbeitsvertraglichen Vereinbarungen als betriebsvereinbarungsoffen anzusehen waren.
Aber auch unabhängig davon, scheitert die Betriebsvereinbarung Variable Vergütung im Lager bereits deswegen nicht, da sie bei kollektiver Betrachtung insgesamt nicht ungünstiger ist als die zuvor vorliegenden Einheitsregelungen. Diese Betriebsvereinbarung hält dem kollektiven Günstigkeitsvergleich stand. Hierbei darf nicht ausschließlich auf die gezahlten Zulagen vor und ab Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung abgestellt werden. Zwar trägt die Arbeitgeberin vor, dass ab Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung im Monat August 2007 höhere Zulagen gezahlt worden sind als im Monat Juni 2007 vor der Geltung der Betriebsvereinbarung. Hierauf kommt es jedoch alleine nicht an. Es muss zusätzlich die Beschäftigungssicherung, welche in der Betriebsvereinbarung geregelt wurde, miteinbezogen werden. Die Betriebsvereinbarung ist als Gesamtpaket anzusehen. Es kommt nicht darauf an, ob ein einzelner Arbeitnehmer mal eine geringere Anwesenheitsprämie erhielt als in Zeiten vor der Betriebsvereinbarung. Es ist auch nicht relevant, ob die Beschäftigungssicherung ausgerechnet für diese Person entscheidend war. Es kommt auf den kollektiven Maßstab an. Kollektiv betrachtet ist das Gesamtpaket nicht ungünstiger wie die Einheitsregelung vorher.
c. Die Betriebsvereinbarung ist nicht wegen einer Sperrwirkung gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam.
Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG greift nicht, denn es handelt sich um eine Angelegenheit, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrates unterliegt (BAG vom 25.05.2016 – 5 AZR 135/16, Rz 47, Juris).
III.
Gegen diese Entscheidung hat der Betriebsrat das Rechtsmittel der Beschwerde zum Landesarbeitsgericht München nach der folgenden Rechtsmittelbelehrung. Die Arbeitgeberin hat gegen diese Entscheidung kein Rechtsmittel, da sie nicht beschwert ist.

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