Aktenzeichen 2 ZB 16.2066
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 3, Art. 63
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5
Leitsatz
1 Zwei im Rechtssinn unabhängige Grundstücke teilen nicht allein deshalb ein gemeinsames Schicksal in Bezug auf das Abstandsflächenrecht, weil sie (zufällig) demselben Eigentümer gehören. (Rn. 6) (red. LS Alexander Tauchert)
2 Die auf der Ebene von Treu und Glauben erforderliche Abwägung ist grundstücks- und objektbezogen vorzunehmen; für eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung weiterer von dem Vorhaben betroffener Grundstücke des Nachbarn ist damit kein Raum. (Rn. 9) (red. LS Alexander Tauchert)
3 Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen und weiter die Sachverhaltsermittlung anstoßender Anträge zu kompensieren. (Rn. 12) (red. LS Alexander Tauchert)
Verfahrensgang
M 8 K 15.459 2016-05-09 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antrag der Beigeladenen auf Zulassung der Berufung (§§ 124, 124a Abs. 4 VwGO) hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO) liegen nicht vor.
1. Die behaupteten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils vom 9. Mai 2016 bestehen nicht (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 7. Januar 2015 rechtswidrig ist und die Klägerin hierdurch in ihren drittschützenden Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klägerin ist im Hinblick auf ihr Grundstück mit der FlNr. 110/31 auch nicht nach Treu und Glauben daran gehindert, diesen Verstoß zu rügen.
a) Entgegen der Auffassung der Beigeladenen liegt keine atypische Situation vor. Die seitens der Beigeladenen geforderte Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von den Anforderungen der Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO kann mangels einer atypischen Fallgestaltung nicht zugelassen werden.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Zulassung einer Abweichung Gründe erfordert, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2002 – 2 CS 01.5 – juris; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris; U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris). Insoweit muss es sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. Bei der Zulassung einer Abweichung ist eine atypische Situation zu fordern. In besonderen städtebaulichen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch die Zulassung einer Abweichung rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris; U.v. 19.3.2013 – 2 B 13.99 – BayVBl 2013, 729). Soll auch in diesem Bereich eine zeitgemäße, den Wohnbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man im Einzelfall nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.503 – juris).
Die Beigeladene möchte eine Atypik für einen Neubau damit begründen, dass das Grundstück im innerstädtischen Bereich liege und viele Grundstücke die Abstandsflächen nicht einhielten (W. – …-Straße 12, 14, 16, 18, N. …straße 7 – 9a). Unabhängig davon, ob die Bebauung auf diesen Grundstücken in jedem Fall den Anforderungen des Abstandsflächenrechts genügt, ist für den Senat anhand der vorliegenden Pläne ersichtlich, dass das Geviert im Grundsatz durch eine nahezu geschlossene Blockrandbebauung geprägt ist. Im Geviertinneren befinden sich nur wenige Bauten, von denen die Hälfte nach dem amtlichen Plan eingeschossige (Neben-)Gebäude darstellen. Lediglich auf den FlNrn. 110/19 und 110/18 findet sich ein viergeschossiger rückwärtiger Anbau. Diese beiden Grundstücke sind jedoch wesentlich größer und tiefer als das streitgegenständliche Grundstück. Auf dem Grundstück FlNr. 110/15 befindet sich ein zweigeschossiger rückwärtiger Anbau. Die übrigen 11 Grundstücke im Quartier zwischen W. – …-Straße, G. …straße, N.-straße und W.-platz haben keine rückwärtigen Wohnhausanbauten, allenfalls vereinzelt eingeschossige Nebengebäude. Insofern ist die städtebauliche Situation dadurch geprägt, dass die Grundstücke im rückwärtigen Bereich nicht oder nur mit eingeschossigem Nebengebäude bebaut sind. Mit dem Erstgericht erkennt auch der Senat keine besondere städtebauliche Situation, die eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften rechtfertigt.
b) Entgegen der Auffassung der Beigeladenen ist die Klägerin nicht gemäß § 242 BGB daran gehindert, den Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften zu rügen. Die Beigeladene macht geltend, dass ein überwiegender Verstoß durch die Klägerin vorliege. Bei § 242 BGB sei auf das Verhalten des jeweiligen Grundstückseigentümers abzustellen. Zwar fallen nach der Berechnung der Beklagten 148,69 m² Abstandsflächen des Rückgebäudes der Klägerin auf das Vorhabensgrundstück, während dieses umgekehrt nur 103,1 m² auf das klägerische Grundstück mit der FlNr. 110/18 wirft. Das Erstgericht hat jedoch zutreffend erkannt, dass das strittige Vorhaben zusätzlich auf das klägerische Hinterliegergrundstück mit der FlNr. 110/31 Abstandsflächen von 46,6 m² wirft. Ein wechselseitiger Abstandsflächenverstoß scheide diesbezüglich aus, da dieses Grundstück unbebaut sei. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Erstgericht die Abstandsfläche von 46,6 m², die allein auf das unbebaute klägerische Grundstück mit der FlNr. 110/31 fällt, nicht in eine Gesamtabwägung mit einbezogen hat. Denn es handelt sich um zwei rechtlich getrennte und voneinander unabhängige Buchgrundstücke. Zwei im Rechtssinn unabhängige Grundstücke teilen nicht allein deshalb ein gemeinsames Schicksal in Bezug auf das Abstandsflächenrecht, weil sie (zufällig) demselben Eigentümer gehören. So ist es ohne weiteres denkbar, dass das Grundstück mit der FlNr. 110/31 von der Klägerin veräußert wird. Soweit die Beigeladene einwendet, dass man sich durch Grundstücksteilungen eine eigenständige Rechtsposition aufbauen könnte, ist darauf hinzuweisen, dass die Grenze der Anerkennung einer Grundstücksteilung der Rechtsmissbrauch ist. Dafür bestehen jedoch im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte.
c) Der Senat teilt die Auffassung des Erstgerichts, dass das Grundstück FlNr. 110/31 grundsätzlich bebaubar ist. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO dürfen sich Abstandsflächen sowie Abstände i.S.d. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden. Entscheidend ist, dass auf dem Grundstück nicht nur gegenwärtig, sondern auf nicht absehbare Zeit abstandsflächenpflichtige Anlagen nicht errichtet werden dürfen (vgl. BayVGH, B.v. 22.2.2011 – 2 ZB 10.874 – juris m.w.N.). Zwar ist der Beklagten und der Beigeladenen zuzugestehen, dass das Grundstück mit der FlNr. 110/31 im Geviertinneren liegt und derzeit ein Bauvorhaben wohl eine faktische Baugrenze überschreiten würde. Jedoch ist damit nicht die Unüberbaubarkeit dieses Grundstücks im Hinblick auf den massiven Eigentumseingriff, den die Erstreckung der Abstandsfläche auf benachbarte Grundstücke beinhaltet, mit der notwendigen Sicherheit festgeschrieben. Das Erstgericht hat hier völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass zum einen in einem Bebauungsplanverfahren eine Bebaubarkeit festgesetzt werden kann und zum anderen sich die faktische rückwärtige Baugrenze durch die tatsächliche Entwicklung im Geviertinneren verschieben kann. Das Verwaltungsgericht hat weiter damit argumentiert, dass gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen Nebenanlagen nach § 14 BauNVO zugelassen werden können, die nicht das Privileg des Art. 6 Abs. 9 BayBO in Anspruch nehmen können und somit abstandsflächenpflichtig sind. Überbaubar sei eine Fläche auch dann, wenn auf ihr eine andere bauliche Anlage, von der Wirkungen wie von einem Gebäude ausgehen und für die deshalb die Abstandsflächenvorschriften gelten, errichtet werden könne. Die Beigeladene hält das Szenario der Zulassung von Nebenanlagen für offensichtlich nicht gegeben. Unabhängig davon, ob die Möglichkeit der Zulassung von Nebenanlagen dazu führt, dass das Grundstück bebaubar ist, ist im vorliegenden Fall entscheidend, dass die faktische rückwärtige Baugrenze sich durch die tatsächliche Entwicklung im Geviertinneren verschieben kann und somit keine ausreichende notwendige Sicherheit für die Nichtüberbaubarkeit besteht.
d) Das Verwaltungsgericht hat keine Veranlassung gesehen, an der Darstellung der Klägerin zu zweifeln, dass die Erschließung des Hinterliegergrundstücks gesichert sei. Zum einen könne es über das klägerische Grundstück an der W.- …-Straße 16 erreicht werden, auf dem es sowohl nach den klägerischen Angaben wie auch nach dem amtlichen Lageplan eine Durchfahrt von der Straße in den rückwärtigen Bereich gibt. Zum anderen verfügt die Klägerin nach ihrem Vortrag über ein abgesichertes Durchfahrtsrecht auf der W.- …-Straße 18. Die Beigeladene macht geltend, der Lageplan sei diesbezüglich unrichtig und das Durchfahrtsrecht sei lediglich behauptet. Unabhängig davon, ob die Erschließung derzeit gesichert wäre, ist jedenfalls keine hinreichende rechtliche oder tatsächliche Sicherheit vorhanden, dass das Grundstück wegen einer fehlenden Erschließung auf Dauer nicht überbaut werden kann. Der Senat weist darauf hin, dass bereits bei einer Veräußerung an den Eigentümer des Grundstücks mit der FlNr. 110/15 – der Lageplan zeigt dort eine Durchfahrt – die Erschließung des Grundstücks FlNr. 110/31 wohl gesichert werden könnte.
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Das von der Beigeladenen in den Raum gestellte rechtliche Problem, ob im Rahmen der Fallgruppe des Ausschlusses von nachbarlichen Abwehransprüchen bei wechselseitigem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften auf der Seite des den jeweiligen Abwehranspruch geltend machenden Nachbarn lediglich dasjenige Grundstück in den Blick zu nehmen ist, von welchem der baurechtswidrige Zustand, der ihm die Berufung auf das jeweilige Abwehrrecht verwehrt, ausgeht, oder ob auch andere Grundstücke des abwehrenden Nachbarn im Sinn einer Gesamtabwägung in die erforderlichen Überlegungen einzubeziehen sind, wurde vom Verwaltungsgericht im erforderlichen Umfang ohne Schwierigkeiten geklärt. Die auf der Ebene von Treu und Glauben erforderliche Abwägung ist grundstücks- und objektbezogen vorzunehmen. Aus Sicht des Senats ergibt sich dies zwingend daraus, dass nach den baurechtlichen Bestimmungen sowohl des Bauplanungsrechts als auch des Bauordnungsrechts die Entscheidung über ein Bauvorhaben immer eine grundstücks- und objektbezogene Aussage darstellt (z.B. für die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB, vgl. BayVGH, U.v. 17.6.1998 – 2 B 97.171 – BayVBl 1999, 590; für die Tiefe der Abstandsflächen, vgl. BayVGH Großer Senat, B.v. 31.5.1990 – GrS 2/1989 – BayVBl 1990, 498). Auch das Verhalten des Nachbarn im Rahmen der Ausübung von Nachbarrechten bezieht sich immer auf ein konkretes Grundstück und ein konkretes Bauvorhaben. Für eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung weiterer von dem Vorhaben betroffener Grundstücke des Nachbarn ist damit kein Raum. Wie bereits ausgeführt, könnte das Grundstück FlNr. 110/31 auch jederzeit einen anderen Eigentümer erhalten.
3. Die Beigeladene meint, die Rechtssache habe wegen der oben aufgeworfenen Frage auch grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Dies führt nicht zur Zulassung der Berufung. Wie unter Ziffer 2. bereits aufgeführt, bedarf die von der Beigeladenen aufgeworfene Rechtsfrage keiner Klärung in einem Berufungsverfahren, da sich deren Beantwortung aus dem Gesetz hinreichend klar ergibt.
4. Die Entscheidung leidet nach Auffassung der Beigeladenen an einem maßgeblichen Verfahrensfehler (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO), weil das Gericht gegen die Verpflichtung zur Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) verstoßen habe. Denn das Verwaltungsgericht begründe den Umstand, dass es sich bei dem Grundstück FlNr. 110/31 nicht um ein unüberbaubares Grundstück i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO handeln solle, mit dem von der Klägerseite vorgetragenen, bestehenden und rechtlich gesicherten Durchfahrtsrecht über das Grundstück FlNr. 110/18 auf das Grundstück FlNr. 110/31. Ein diesbezüglicher Nachweis sei von der Klägerseite nicht vorgelegt worden. Das Gericht hätte im Rahmen einer ordnungsgemäßen Amtsermittlung die Vorlage eines entsprechenden Nachweises über die besagte rechtliche Sicherung einfordern müssen.
Das Gericht ist verpflichtet, den maßgeblichen Sachverhalt gemäß § 86 Abs. 1 VwGO angemessen aufzuklären (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 108 Rn. 4). Eine Verletzung der Aufklärungspflicht kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann mit Erfolg gerügt werden, wenn ein anwaltlich vertretener Beteiligter entweder im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung durch die Stellung eines Beweisantrags auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt hatte oder sich dem Verwaltungsgericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, U.v. 25.1.2005 – 9 B 38.04 – NVwZ 2005, 447; BayVGH, B.v. 27.11.2012 – 2 ZB 11.2855 – juris). Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen und weiter die Sachverhaltsermittlung anstoßender Anträge zu kompensieren. Von der Beigeladenen wurden in der mündlichen Verhandlung am 9. Mai 2016 weder Beweisanträge zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts gestellt, noch Defizite bei der Ermittlung des Sachverhalts substantiiert vorgetragen. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass selbst wenn eine Erschließung über das Grundstück FlNr. 110/18 nicht rechtlich gesichert sein sollte, dies – wie oben dargelegt – nicht zu einer dauernden Unbebaubarkeit des Grundstücks FlNr. 110/31 führen würde.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.