Aktenzeichen 1 CS 16.2396
Leitsatz
1 Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (wie BVerwG BeckRS 1979, 106251). (red. LS Andreas Decker)
2 Die bloße Möglichkeit der vermehrten Einsichtnahme oder der Erhalt einer Ruhezone stellt grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme dar. (red. LS Andreas Decker)
3 Eine Gebietsprägung lässt sich allenfalls aus der zulässigen Art der baulichen Nutzung im Sinne der Baunutzungsverordnung ableiten, nicht aber aus dem Maß der baulichen Nutzung. (red. LS Andreas Decker)
Verfahrensgang
11 SN 16.4671 2016-11-08 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Die von dem Antragsteller innerhalb der gesetzlichen Begründungsfrist geltend gemachten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Klage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren gegen die den Beigeladenen für die Errichtung eines Zweifamilienhauses erteilte Baugenehmigung aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird.
1. Der Teilbebauungs- und Baulinienplan vom 6. Dezember 1955 (im Folgenden: Baulinienplan) ist im Hinblick auf die überbaubaren Grundstückflächen funktionslos geworden. Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – BVerwGE 54, 5). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Eine Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit gesprochen werden (BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – NVwZ-RR 1997, 512).
Gemessen an diesen Anforderungen geht der Senat nach summarischer Prüfung von der Funktionslosigkeit des Baulinienplans aus. Aus dem vom Antragsgegner vorgelegten Plan, der den Baulinienplan mit der tatsächlichen baulichen Situation vergleicht, wird deutlich, dass die tatsächliche Bebauung sich hinsichtlich der Situierung der Baukörper von den Festsetzungen des Baulinienplans wesentlich unterscheidet. So überschreiten sämtliche Baukörper auf den nördlich und nordöstlich von der Z …straße gelegenen Grundstücken überwiegend massiv die vorgegebenen Baugrenzen. Ebenso halten die meisten Baukörper im Bereich nördlich der W …straße die Baugrenzen in beträchtlichem Umfang nicht ein. In der Gesamtschau ist daher ein großer Teil der innerhalb des Geltungsbereiches des Baulinienplans bestehenden Baukörper in erheblichem Maße außerhalb der vorgegebenen Baugrenzen situiert. In Anbetracht der Anzahl und des Umfangs der Abweichungen hat die Festsetzung der überbaubaren Grundstücksflächen ihre städtebauliche Gestaltungsfunktion verloren; ihre Verwirklichung ist auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen. Dabei ist auch aufgrund der Quantität und Massivität der Überschreitungen ein hoher Grad an Offenkundigkeit dieser Tatsache erreicht, insbesondere da nahezu jedes bebaute Grundstück in den Bereichen nördlich und nordöstlich der Z …straße sowie nördlich der W …straße die festgesetzten überbaubaren Flächen nicht einhält.
2. Das Bauvorhaben fügt sich nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Insbesondere ist entgegen der Auffassung des Antragstellers der näheren Umgebung eine rückwärtige Baugrenze, die vom Bauvorhaben überschritten werden würde, nicht zu entnehmen. Daher kommt es auf die Frage, ob eine (faktische) rückwärtige Baugrenze nachbarschützende Wirkung entfaltet, nicht mehr entscheidungserheblich an.
Als maßstabsbildend für die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist der das Baugrundstück umgebende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung eines Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, B.v. 13.5.2014 – 4 B 38.13 – NVwZ 2014, 1246). Auch wenn der danach maßgebliche Bereich bei der überbaubaren Grundstücksfläche in der Regel enger zu begrenzen sein wird als etwa bei der Art der baulichen Nutzung ist, bleibt die Frage der Reichweite der Prägung eine Frage des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 13.5.2014 a.a.O.). Anhand des Lageplans stellt der Senat für die maßgebliche Umgebung hier auf das Straßengeviert Z …straße – W …straße – W …straße – B … Weg ab, in östlicher Richtung soweit die Grundstücke im funktionslos gewordenen Baulinienplan und nicht im überplanten Bereich liegen. Dieser Abschnitt ist gekennzeichnet von einer homogenen Bebauung, die aus Wohngebäuden mit vergleichbar großen Grundflächen besteht, so dass von einer gegenseitigen Beeinflussung und Prägung dieser Grundstücke auszugehen ist. In diesem Bereich weist die Bebauung eine sehr unterschiedliche Situierung der Baukörper auf. So sind die Baukörper an der Nordseite der W …straße straßenfern mit unterschiedlichen, sehr ausgeprägten Bebauungstiefen gelegen, die vorwiegend sehr nah an die nördliche Grundstücksgrenze heranrücken (so insbesondere auf den FlNrn. …, … und …). Die Baukörper an der Südseite der Z …straße hingegen sind straßennah ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund besteht aufgrund der mitprägenden, straßenfernen Bebauung nördlich der W* …straße keine maßgebliche faktische Baugrenze im rückwärtigen Bereich der Grundstücke.
Selbst wenn man den Umgriff der maßgeblichen Umgebung enger fassen und nur auf die Grundstücke in nächster Umgebung südlich und östlich des Baugrundstücks beschränken wollte und somit die südwestlichen Grundstücke (insbesondere FlNr. …, … und …) außer Acht lassen würde, kann keine maßstabsgebende rückwärtige Baugrenze abgeleitet werden. Denn auch auf den südöstlich von dem Bauvorhaben gelegenen Grundstücken (FlNrn. … und …) ist eine straßenferne, im rückwärtigen Grundstücksbereich ausgerichtete Bebauung vorhanden.
3. Auch der Einwand der Antragsteller, das Bauvorhaben verletze im Hinblick auf seine Lage im rückwärtigen Grundstücksbereich das Gebot der Rücksichtnahme greift nicht durch.
Das in dem Begriff des „Einfügens“ enthaltene Gebot der Rücksichtnahme bezieht sich auf die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll (BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – NVwZ 1987, 128). Ein auch den Rahmen wahrendes Vorhaben ist ausnahmsweise unzulässig, wenn es nicht die gebotene Rücksicht auf die Bebauung der Nachbarschaft nimmt (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369). Die bloße Möglichkeit der vermehrten Einsichtnahme oder der Erhalt einer Ruhezone stellt grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB dar (BVerwG vom 24.4.1989 – 4 B 72.89 – NVwZ 1989, 1060; BayVGH vom 18.10.2010 – 2 ZB 10.1800 – juris Rn. 11). Es ist hier auch nicht erkennbar, dass der Antragsteller, insbesondere in Anbetracht der Größe seines Grundstücks und Gartenbereiches, abweichend von dem Grundsatz in rücksichtloser Weise von dem Bauvorhaben beeinträchtigt wäre.
Zudem hat das Verwaltungsgericht zutreffend eine erdrückende Wirkung durch das Bauvorhaben mit Verweis auf den Abstand zwischen dem Bauvorhaben und der Grundstücksgrenze des Antragstellers abgelehnt, weil die Einhaltung der landesrechtlichen Abstandsvorschriften regelmäßig dazu führt, dass aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt ist (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879) und auch keine sonstigen Anhaltspunkte hierfür bestehen.
4. Soweit der Antragsteller einen speziellen Anspruch geltend macht, die Gebietsprägung zu erhalten (§ 34 Abs. 2 BauGB, § 3, § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO), kann dies nicht überzeugen. Eine Gebietsprägung lässt sich allenfalls aus der zulässigen Art der baulichen Nutzung im Sinn der Baunutzungsverordnung ableiten (BVerwG, B.v. 13.5.2002 – 4 B 86.01 – NVwZ 2002, 1384; BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 2 ZB 11.2653 – juris Rn. 9).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladenen keinen eigenen Antrag gestellt haben, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 47 Abs. 1 GKG.