Aktenzeichen M 1 K 17.2147
BayVwVfG Art. 28 Abs. 1, Abs. 2
Leitsatz
1 Eine Anordnung der Baueinstellung ist zulässig, um ein Vorhaben, das nach den konkreten Umständen des Einzelfalls wahrscheinlich mit formellem und/oder materiellem Baurecht nicht vereinbar ist, bereits im Entstehen zu unterbinden. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Entscheidend für die Rechtmäßigkeit der Baueinstellungsverfügung ist, dass das Gesamtbauvorhaben zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht abgeschlossen war. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Sind für eine Baugenehmigungsfreiheit Berechnungen (hier der Grundfläche des Anbaus) entscheidend, die nahe der kritischen Grenze und basierend auf den nicht eindeutigen Bestimmungen der für die Grundflächenberechnung heranzuziehenden DIN-Norm sind, ist aufgrund der Unsicherheit und zur Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes von einer Baugenehmigungspflicht auszugehen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg.
Der Baueinstellungsbescheid vom 5. Mai 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Der Bescheid ist formell rechtmäßig.
Insbesondere durfte die Bauaufsichtsbehörde vor Erlass des Bescheides von einer Anhörung der Kläger absehen. Gemäß Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG ist der Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes grundsätzlich vorher anzuhören. Ausnahmsweise kann aber nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG von der Abhörung abgesehen werden, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Dieser Ausnahmetatbestand liegt in der Regel bei Baueinstellungsverfügungen vor, denn eine sofortige Entscheidung wird regelmäßig als im öffentlichen Interesse notwendig erscheinen, um den illegalen Weiterbau und damit möglicher Weise einen nicht mehr rückgängig zu machenden Verstoß gegen die Rechtsordnung zu verhindern (Decker in Simon/Busse, BayBO, 129. EL 2018, Art. 75 Rn. 24; ebenso Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 75 Rn. 9 mit dem Argument, eine Baueinstellung müsse im Interesse der Effektivität kurzfristig angeordnet werden). Ein von dieser Regel abweichender atypischer Fall liegt hier nicht vor. Im Übrigen hat das Landratsamt die nachträglichen Einwendungen der Kläger zur Kenntnis genommen und sich mit den Einwendungen im Hinblick auf die Fortgeltung der Einstellungsverfügung ausführlich auseinandergesetzt, so dass gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG ein etwaiger Anhörungsmangel geheilt wäre.
2. Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig.
Rechtsgrundlage für die Anordnung der Baueinstellung im Bescheid ist Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden, die Einstellung der Arbeiten anordnen.
a. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsgrundlage sind erfüllt.
aa. Die Vorschrift des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist ein Instrument präventiver Bauaufsicht. Im Interesse der Effektivität sollen Bauarbeiten, die nach den konkreten Umständen des Einzelfalls auf ein Vorhaben gerichtet sind, das wahrscheinlich mit dem formellen und/oder materiellen Baurecht nicht vereinbar ist, bereits in statu nascendi unterbunden werden. Als Voraussetzung für eine Baueinstellungsverfügung genügen deshalb objektive konkrete Anhaltspunkte, die es wahrscheinlich machen, dass ein dem öffentlichen Baurecht widersprechender Zustand geschaffen wird, nicht dagegen auch die tatsächliche Bestätigung dieser Vermutung (Decker in Simon/Busse a.a.O., Rn. 48; Schwarzer/König a.a.O., Rn. 7; BayVGH, U.v. 27.8.2002 – 26 B 00.2110 – juris Rn. 22).
Ein Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften liegt bereits im Verstoß gegen formell-rechtliche Vorschriften, insbesondere wenn ein Vorhaben ohne die erforderliche Baugenehmigung realisiert werden soll (Decker in Simon/Busse a.a.O, Rn. 34).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baueinstellungsverfügung ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor Gericht. Denn bei einer Baueinstellung handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Eine Baueinstellungsverfügung muss deshalb nicht nur im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig sein. Die Behörde muss auch in der Folgezeit die Verfügung unter Kontrolle halten und prüfen, ob neue sachliche oder rechtliche Gesichtspunkte eine Anpassung oder Aufhebung der Baueinstellung erforderlich machen (Decker in Simon/Busse a.a.O., Rn. 137 m.w.H. zur Rechtsprechung).
bb. In Anwendung dieser Grundsätze bestand im vorliegenden Fall die Gefahr, dass die Bauarbeiten auf ein Vorhaben zielen, für das keine Baugenehmigungsfreiheit besteht und das deshalb nach Art. 55 Abs. 1 BayBO der Baugenehmigung bedarf, welche aber weder beantragt noch erteilt wurde (formelle Illegalität).
Der vorgefundene Anbau bildet nach seinem äußerlichen Bild für den objektiven Betrachter eine bauliche Einheit. Der Anbau besteht aus einem gemauerten Hanganbau am bestehenden Anwesen mit einem darin enthaltenen Raum am Hangfuß (sog. „Kellerraum“), wobei dieser Raum nach der Erklärung der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung nunmehr fertiggestellt worden ist. Auf der ebenen Deckplatte dieses Hanganbaus befinden sich fünf gemauerte Stützpfeiler. Auf der Westseite der Deckplatte, zur Straßenseite hin, findet sich eine gemauerte Wand, die aus zwei im stumpfen Winkel zueinander liegenden Teilen besteht. Der eine Wandteil weist eine etwa in seiner oberen Hälfte befindliche, sich über die Länge des Wandteils hinziehende große rechteckige Öffnung auf, der andere Wandteil ist bis auf die obere Deckenbegrenzung offen und wird etwa in seiner unteren Hälfte durch einen Holzzaun aus schmalen Latten geschlossen. Der Einwand der Klägerseite, es handle sich bei dem so beschriebenen Anbau um zwei getrennt zu beurteilende Vorhaben, nämlich den Hanganbau mit Raum einerseits und das auf seiner Deckplatte in Realisierung befindliche Vorhaben der Errichtung einer Carport-Anlage mit zwei Stellplätzen und einem Gartenteil andererseits, findet im äußeren Erscheinungsbild der Anlage keine Bestätigung. Nach objektiver und auch funktionaler Betrachtung handelt es sich vielmehr um ein einheitliches Bauvorhaben, nämlich um eine Carport-Anlage mit einem gemauerten Hangfundament, in welchem ein Abstellraum für Gartenmöbel integriert ist. Der reine Hanganbau mit Raum ergibt für sich wenig Sinn außer dem, als Fundament für die Carport-Anlage zu dienen. Das hat die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung bei der Erläuterung der Genese des sog. „Kellerraums“ bestätigt. Danach sei Erdreich zur Errichtung der beabsichtigten Plattform erforderlich gewesen. Dadurch sei ein Hohlraum entstanden, welcher nicht durch neues Erdreich wieder verfüllt worden sei, welches extra hätte zugekauft werden müssen. Der Hohlraum sei dann belassen worden, um ihn als Abstellraum und Nebenraum zur Terrasse zu nutzen. Die Carport-Anlage wäre umgekehrt ohne dieses Hangfundament nicht möglich. Dass das Hangfundament mit Raum nach Angaben der Klägerseite zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits realisiert war, ändert an dem beschriebenen baulich-funktionalen Zusammenhang des zu realisierenden Gesamtanbaus nichts. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit der Baueinstellungsverfügung ist, dass das Gesamtbauvorhaben zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht abgeschlossen war.
Die beabsichtigte Carport-Anlage mit Hangfundament ist nicht nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO baugenehmigungsfrei. Nach dieser Vorschrift sind verfahrensfrei (d.h. baugenehmigungsfrei) Garagen einschließlich überdachter Stellplätze im Sinn des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO mit einer Fläche bis zu 50 qm, außer im – hier unbestritten nicht gegebenen – Außenbereich. Garagen einschließlich überdachter Stellplätze im Sinn des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO dürfen, neben anderen Voraussetzungen, höchstens eine mittlere Wandhöhe bis zu 3 m aufweisen. Die Grundfläche der Carport-Anlage (ohne den Gartenanteil) liegt nach den Berechnungen des Landratsamts bei 52,8 qm (Bl. 28 der Behördenakte), also über der kritischen Grenze von 50 qm. Nach den Berechnungen der Klägerseite liegt sie bei 49,96 qm (Bl. 21 der Gerichtsakte im Verfahren M 1 S 17.2148), also knapp unterhalb der kritischen Marke. Im vorliegenden Verfahren muss das Gericht nicht abschließend entscheiden, welche dieser Berechnungen zutreffend ist. Die Berechnungen der Kläger basieren auf selbst vermassten Planungsskizzen für das Vorhaben und hängen zudem von den nicht eindeutigen Bestimmungen der für die Grundflächenberechnung heranzuziehenden DIN 277 ab. Hier ist entscheidend, dass die Abweichung der beiden Berechnungen sehr gering ausfällt und die eigene Berechnung der Klägerseite nur um 0,04 qm unterhalb der kritischen Grenze liegt. Bei den erwähnten Unsicherheiten der Berechnung ist es deshalb gut möglich, dass die Grundfläche über 50 qm liegt und somit keine Genehmigungsfreiheit besteht. Wenn aber diese Möglichkeit besteht, ist nach dem bei einer Baueinstellung zu beachtenden Effektivitätsgrundsatz (siehe hierzu oben Nr. 2 a) aa)) im Rahmen von Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO von einer Baugenehmigungspflicht auszugehen (Decker in Busse/Simon a.a.O., Rn. 36). Jetzt schon festgestellt werden kann aber, dass die mittlere Wandhöhe für die Carport-Anlage die kritische Grenze von 3 m überschreitet. Den vor Ort vorgenommen Messungen des Baukontrolleurs (Bl. 26 der Behördenakte), die eine Überschreitung ergeben, hat die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung nur entgegengesetzt, dass dabei fälschlicherweise die Höhe der nach Ansicht der Klägerseite genehmigungsfreien Fundament mit in die Messung einbezogen und dadurch zu Unrecht eine größere mittlere Wandhöhe als 3,0 m gemessen worden sei. Wie oben ausgeführt, kann nicht zwischen einem separaten Hanganbau (incl. Raum) mit Deckplatte und der auf dieser Deckplatte als Fundamentplatte zu errichtenden Carport-Anlage unterschieden werden. Die Deckplatte zählt selbstverständlich zur Carport-Wand, da sie als Teil der Wand nach außen zur Straße als natürlichem Gelände hin in Erscheinung tritt.
Eine Genehmigungsfreiheit der beabsichtigten Carport-Anlage mit Hangfundament besteht auch nicht nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO. Nach dieser Vorschrift sind verfahrensfrei Gebäude mit einem Brutto-Rauminhalt bis zu 75 Kubikmeter, außer im – hier unstreitig nicht gegebenen – Außenbereich. Nach den eigenen Flächenberechnungen der Klägerseite (49,96 qm, Bl. 21 der Gerichtsakte M 1 S 17.2148) und selbst unter Zugrundelegung einer 3 m unterschreitenden, d.h. um die Dicke des Plattenfundaments gekürzten, mittleren Wandhöhe überschreitet der Bruttorauminhalt des Vorhabens, selbst wenn man den sog. „Kellerraum“ unberücksichtigt lässt, bei Weitem die kritische Grenze von 75 Kubikmeter.
Eine Genehmigungsfreiheit besteht schließlich nicht nach Art. 57 Abs. 2 Nr. 1 BayBO. Danach sind unbeschadet des Art. 57 Abs. 1 BayBO verfahrensfrei Garagen mit einer Nutzfläche bis zu 100 qm sowie überdachte Stellplätze im Geltungsbereich einer städtebaulichen oder einer Satzung nach Art. 81 BayBO, die Regelungen über die Zulässigkeit, den Standort und die Größe von Garagen enthält, wenn sie den Festsetzungen der Satzung entsprechen. Die Ortsabrundungssatzung der Gemeinde … für den Ort … vom 4. Januar 1983 (siehe Bl. 13 der Behördenakte), in dem das Vorhaben liegt, trifft keine Festsetzungen zu Garagen oder überdachten Stellplätzen.
b. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsnorm des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO vor, so liegt es im pflichtgemäßen Ermessen der Bauaufsichtsbehörde, ob sie eine Baueinstellungsverfügung erlässt oder nicht. Die Ermessensausübung ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO vom Gericht nur daraufhin zu überprüfen, ob die behördliche Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Die vom Landratsamt im Bescheid wiedergegebenen Ermessenserwägungen tragen die Entscheidung für eine Einstellung. Im Übrigen entspricht es regelmäßig dem von einer Baueinstellung verfolgten Zweck eines möglichst frühzeitigen Eingreifens in den Entstehungsprozess illegaler Vorhaben (siehe dazu oben Nr. 2 a), diese Einstellung auch auszusprechen, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen (sog. intendiertes Ermessen, siehe hierzu Decker in Simon/Busse a.a.O. Rn. 83 f.; siehe auch Schwarzer/König a.a.O. Rn. 6). Ein Ermessensfehler liegt auch nicht darin, dass sich der Bescheid nicht zur materiellen Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens verhält. Die Bauaufsichtsbehörde ist bei Erlass einer Baueinstellung wegen fehlender Baugenehmigung nicht verpflichtet, die Übereinstimmung mit dem materiellen Baurecht zu prüfen und von der Einstellung abzusehen, wenn sich diese Übereinstimmung ergeben sollte. Denn der Sinn eines gesetzlich angeordneten Genehmigungsverfahrens liegt gerade darin, dass die materiell-rechtliche Prüfung in diesem Verfahren nach Maßgabe der gesetzlichen Ausgestaltung dieses Verfahrens stattzufinden hat und mit einer förmlichen Entscheidung in Gestalt einer negativen oder positiven Baugenehmigung endet (Decker in Simon/Busse a.a.O. Rn. 90 f. und Rn. 139).
3. Nachdem auch die gesetzlichen Voraussetzungen des Art. 29, 31 und 36 VwZVG für die Androhung des Zwangsgeldes im Bescheid vorliegen, war die Klage insgesamt mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.