Baurecht

Baueinstellungsverfügung wegen Verstoßes gegen Abstandsflächenvorschriften

Aktenzeichen  M 11 K 15.1361

Datum:
14.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 6 Abs. 8 Nr. 2, Art. 55 Abs. 2, Art. 75 Abs. 1 S. 1
BauVorlV § 8 Abs. 4, Anlage 1

 

Leitsatz

Eine Baueinstellungsverfügung kann auch auf die Nichteinhaltung solcher Vorschriften gestützt werden, die – wie die Abstandsflächenvorschriften – im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Die Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Landratsamts vom 13. März 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO, wonach die Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Arbeiten anordnen kann, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden, liegen vor.
aa) Wie sich aus Art. 55 Abs. 2 BayBO ausdrücklich ergibt, kann eine Baueinstellungsverfügung auch auf die Nichteinhaltung solcher Vorschriften gestützt werden, die – wie die Abstandsflächenvorschriften – im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen sind.
Im vorliegenden Fall hält der geplante Balkon die Abstandsflächen nicht ein. Insbesondere kann er nicht aufgrund der Regelung in Art. 6 Abs. 8 Nr. 2c BayBO (Mindestabstand von 2 m zur gegenüberliegenden Nachbargrenze) als untergeordneter Vorbau außer Betracht bleiben.
Der Ansicht des Klägers, die Frage nach der Einhaltung der Abstandsflächen werde nicht neu aufgeworfen, kann nicht gefolgt werden. Dass die nachträgliche Errichtung eines Balkons bei unveränderter Situierung der Außenwand grundsätzlich eine abstandsflächenrechtliche Bewertung erfordert, folgt ohne weiteres aus Sinn und Zweck der Regelung in Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO. Die Auffassung des Klägers, der offenbar meint, eine Neubewertung sei bei Umbauten nur erforderlich, wenn die Gebäudeaußenwand versetzt wird, kann schon deshalb nicht richtig sein, weil ansonsten Balkone beliebiger Größe nachträglich errichtet werden könnten, ohne Abstandsflächenvorschriften beachten zu müssen. Zutreffend mag zwar der Einwand des Klägers sein, dass die Abstandsflächen des geplanten Balkons vollständig innerhalb der Abstandsflächen der Westwand des Gebäudes liegen. Zweck der Abstandsflächenvorschriften ist jedoch neben einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung jedenfalls auch der Wohnfriede (BayVGH, Urteil vom 03.12.2014 – 1 B 14/819 – juris Rn. 14). Der Balkon vergrößert die bereits jetzt durch das Zimmerfenster gegebenen Einsichtsmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück weiter und beeinträchtigt deshalb den Wohnfrieden mehr, als dies jetzt schon der Fall ist. Eine andere Einschätzung ist wegen des schon vorhandenen Balkons im Dachgeschoss bereits deshalb nicht geboten, weil der neu geplante Balkon im ersten Obergeschoss zu einer anderen Wohnung gehört und daher weiteren Personen neue bzw. vergrößerte Einblicksmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück bietet. Die Zulassung einer Abweichung ist daher erforderlich.
bb) Davon unabhängig ist die geplante Balkonerrichtung bereits formell rechtswidrig, weil der Kläger hierfür keine Baugenehmigung besitzt, eine solche aber erforderlich ist.
aaa) Die vorliegende Baugenehmigung vom 30. September 2014 für die Nutzungsänderung und den Umbau des Wohn- und Geschäftshauses auf dem Grundstück …-str. 13 in … beinhaltet nicht die Erlaubnis zur Errichtung des geplanten Balkons.
Was Inhalt und Gegenstand einer Baugenehmigung ist, wird, soweit Einzelheiten nicht aus dem Genehmigungsbescheid als solchem hervorgehen, insbesondere durch die eingereichten und mit dem Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen bestimmt. Nach § 8 Abs. 4 i. V. m. Anlage 1 der Bauvorlagenverordnung (BauVorlV) sind in den Bauzeichnungen vorhandene Bauteile grau, geplante Bauteile rot und zu beseitigende Bauteile gelb darzustellen. Dies ist insbesondere bei geplanten Änderungen an einer bestehenden baulichen Anlage relevant. Die Bauvorlagen konkretisieren mit dieser Farbdifferenzierung den Bauantrag in Bezug darauf, welche Bauteile überhaupt neu errichtet, welche beseitigt und welche in ihrem Bestand unverändert bleiben sollen. Wird der Bauantrag mit den in dieser Form eingereichten Bauvorlagen genehmigt, berechtigt die Baugenehmigung nur dazu, diejenigen Bauteile neu zu errichten, die in den Bauvorlagen auch in dieser Weise dargestellt sind. Die Baugenehmigung berechtigt bei Umbaumaßnahmen insbesondere nicht dazu, die als unveränderter Bestand gekennzeichneten Anlagenteile ebenfalls neu zu errichten. Das muss erst recht gelten, wenn als unveränderter Bestand gekennzeichnete Anlagenteile überhaupt nicht existieren.
Im vorliegenden Fall hat sich das Architekturbüro grundsätzlich an die durch Anlage 1 der BauVorlV vorgegebene farbliche Differenzierung gehalten, wie man insbesondere dem Grundrissplan entnehmen kann. Allerdings ist der an der Westwand des Gebäudes neu geplante Balkon im ersten Obergeschoss sowohl im Grundrissplan als auch in der Ansicht gerade nicht in dem erforderlichen Rotton dargestellt, sondern in demselben Grauton wie der bereits vorhandene Balkon im Dachgeschoss. Die Bauvorlagen stellen den streitgegenständlichen Balkon somit nicht als neu zu errichtendes, sondern als im Bestand bereits vorhandenes und unverändert bleibendes Bauteil dar. Die auf der Basis der Bauvorlagen erteilte Baugenehmigung schließt daher die Erlaubnis, diesen neuen Balkon im ersten Obergeschoss errichten zu dürfen, nicht ein. Auf die Frage, ob dies auf einem Versehen beruht, kommt es dabei nicht an. Die Bauaufsichtsbehörde muss sich bei Umbaumaßnahmen darauf verlassen können, dass die eingereichten Bauvorlagen zutreffend wiedergeben, welche Bauteile im Bestand bereits vorhanden sind und unverändert bleiben sollen und welche Bauteile neu errichtet werden, sei es, dass sie bisherige Bauteile ersetzen, sei es, dass sie, wie hier der neu geplante Balkon, zusätzlich errichtet werden. Die Verantwortung liegt insoweit beim Bauherrn und dem von ihm zu bestellenden Entwurfsverfasser (vgl. Art. 49, 50 Abs. 1 Satz 1, Art. 51 Abs. 1 Satz 2 BayBO).
bbb) Die geplante Balkonerrichtung ist gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO auch baugenehmigungspflichtig. Unabhängig von der Frage, inwieweit Art. 57 BayBO überhaupt anwendbar ist, wenn, wie hier, die Balkonerrichtung unselbstständiger Teil eines Gesamtvorhabens (Nutzungsänderung und Umbau des Wohn- und Geschäftshauses) ist (vgl. Simon/Busse, BayBO, Art. 57 Rn. 14 m. w. N.), besteht keine Verfahrensfreiheit. Es ist kein Tatbestand des Art. 57 BayBO einschlägig. Insbesondere ist der geplante Balkon keine bloße Terrassenüberdachung im Sinne des Art 57 Abs. 1 Nr. 1 g BayBO und auch kein unbedeutender Teil einer baulichen Anlage im Sinne des Art. 57 Abs. 1 Nr. 16 e BayBO (Simon/Busse, BayBO, Art. 57 Rn. 138 u. 377).
Die geplante Errichtung des Balkons war bzw. ist daher bereits formell rechtswidrig.
b) Das Landratsamt hat das ihm im Rahmen von Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO eingeräumte Ermessen in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Das durch Art. 75 Abs.1 Satz 1 BayBO eingeräumte Ermessen ist in der Weise „intendiert“, dass besondere Gründe vorliegen müssten, um eine andere Entscheidung als die Baueinstellung zu rechtfertigen (Decker, in Simon/Busse, BayBO, Art. 75 Rn. 83 f.). Solche Gründe gibt es hier nicht. Dass das Landratsamt bei Erlass der Baueinstellungsverfügung gemeint hat, die vorhandene Baugenehmigung decke auch die Errichtung des Balkons ab, ist unerheblich, weil das Fehlen der erforderlichen Genehmigung erst recht keine andere Entscheidung rechtfertigt und auch auszuschließen ist, dass das Landratsamt bei Kenntnis dieses Umstands vom Erlass der Baueinstellungsverfügung Abstand genommen hätte. Auch ist das Vorhaben nicht unter Einschluss der Zulassung einer beantragten Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) offensichtlich genehmigungsfähig. Die Ostwand des Hauses auf dem westlichen Nachbargrundstück Flnr. 28/1 hält zwar zum Vorhabensgrundstück ebenfalls die Abstandsflächen nicht ein. Wie aus dem Foto auf Bl. 77 d. Behördenakte zu sehen ist, enthält diese Außenwand des Nachbargebäudes (im Foto auf der linken Seite abgebildet) abgesehen von einer Dachluke keine Fenster, Türen oder Balkone. Von vornherein auf der Hand liegt es daher jedenfalls nicht, dass der Kläger über die bereits vorhandenen Einsichtsmöglichkeiten hinaus, die durch die vorhandenen Fenster und den Balkon im Dachgeschoss gegeben sind (vgl. Ansicht West der Bauvorlagen, wobei der fälschlich als Bestand dargestellte geplante Balkon wegzudenken ist), die Zulassung einer Abweichung für einen weiteren Balkon beanspruchen kann.
c) Die Zwangsgeldandrohung des streitgegenständlichen Bescheids ist ebenfalls rechtmäßig (vgl. Art. 31, 36 VwZVG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Absatz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 2 GKG).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

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