Aktenzeichen RN 6 K 19.1137
Leitsatz
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Das Gericht kann mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Durch die Baugenehmigung vom 27. Mai 2019 liegt keine Rechtsverletzung des Klägers vor, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 59 f. Bayerische Bauordnung (BayBO) ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlichrechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Einem Nachbarn des Bauherrn steht ein Anspruch auf Versagung der Baugenehmigung grundsätzlich nicht zu. Er kann eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg anfechten, wenn Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn das Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf das Grundstück des Nachbarn fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94 – juris; BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris). Es ist daher unerheblich, ob die Baugenehmigung einer vollständigen Rechtmäßigkeitsprüfung standhält.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung wurde – zu Recht – im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO erteilt, da ihr kein Sonderbau i.S.v. Art. 2 Abs. 4 Nr. 1 bis 20 BayBO zu Grunde liegt. Maßgeblich für die Klage eines Drittbetroffenen ist die Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Baugenehmigung (vgl. BayVGH, U.v. 4.10.1991 – 2 B 88.1284 – juris). Vorliegend wurde die Baugenehmigung am 27. Mai 2019 erteilt, sodass die ab dem 1. September 2018 geltende Fassung des Art. 59 BayBO ausschlaggebend ist (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2018 – 15 ZB 18.764 – juris; VG München, U.v. 27.1.1999 – M 23 K 98.2778 – juris). Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüfte die Bauaufsichtsbehörde demnach die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 Baugesetzbuch (BauGB), den Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Nr. 1), beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Nr. 2) sowie andere öffentlichrechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlichrechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3).
Die angefochtene Baugenehmigung verletzt keine nachbarschützenden öffentlichrechtlichen Vorschriften innerhalb des Prüfumfangs.
1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens, das sich nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans befindet, bemisst sich nach § 34 BauGB, wonach ein Vorhaben zulässig ist, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB).
Als Wohngebäude fügt sich das streitgegenständliche Vorhaben seiner Art nach in seine durch Wohnbebauung und kleinere Gewerbebetriebe geprägte nähere Umgebung ein. Ob das Maß, die Bauweise und die überbaute Grundstücksfläche des streitgegenständlichen Vorhabens der Bebauung der näheren Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB entsprechen, kann im vorliegenden Fall dahinstehen. Nachbarn können sich bei einer Beurteilung des Bauvorhabens am Maßstab des § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich dieser Gesichtspunkte nur auf die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots berufen, weil die Regelungen über das Maß der baulichen Nutzung, über die Bauweise und die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, grundsätzlich nicht nachbarschützend sind (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris; BayVGH, B.v. 30.9.2014 – 2 ZB 13.2276 – juris).
2. Es liegt kein Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme vor, unabhängig davon, ob man das Rücksichtnahmegebot aus dem Begriff des „Einfügens“ in § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Baunutzungsverordnung (BauNVO) herleitet.
Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris). Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, ist abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, welcher das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5/93 – juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf die Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2010 – 2 CS 10.2137 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Kläger aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbar billigerweise noch zumutbar ist. Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich.
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben auf das Grundstück des Klägers eine erdrückende Wirkung ausüben könnte (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris). Eine solche Wirkung kommt ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung nur bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2018 – 15 ZB 17.36 – juris; BayVGH, B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris; BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 – 2 CS 12.2290 – juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris: elf- bzw. zwölfgeschossiges Gebäude in naher Entfernung zu zweieinhalbgeschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange Siloanlage bei einem 7 m breitem Nachbargrundstück). Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine erdrückende Wirkung auf das klägerische Grundstück nicht zu befürchten. Das streitgegenständliche Gebäude soll gemessen ab Fußbodenoberkante EG eine Traufhöhe von 12,01 m besitzen, gemessen ab Urgelände von zwischen 11,97 m und 12,16 m. Die parallel zur Grenze des Grundstücks des Klägers verlaufende Wand wird eine Länge von 7,49 m haben und einen Abstand zur klägerischen Grundstücksgrenze von 3,80 m einhalten. Das klägerische Wohngebäude weist eine Firsthöhe von 15,51 m auf und hält einen Abstand von ca. 3,50 m zur östlichen Grundstücksgrenze ein. Die parallel zur Grundstücksgrenze verlaufende Wand ist ca. 10,9 m lang. Auf beiden Grundstücken sollen sich nach Verwirklichung des Bauvorhabens (vgl. bspw. Ansicht Südost im genehmigten Plan „Grundrisse, Ansichten“) auch Nebengebäude bzw. Anbauten direkt an der Grenze befinden, wobei das bestehende Nebengebäude auf dem klägerischen Grundstück mit ca. 4 bis 4,8 m höher ist als das geplante Nebengebäude auf dem Baugrundstück mit 2,99 m (gemessen ab Fußbodenoberkante EG). Damit ist die Errichtung eines Bauvorhabens geplant, das hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung ähnlich, wenn nicht sogar weniger massiv ausfallen wird als das klägerische Wohngebäude. Eine unzumutbare einmauernde oder erdrückende Wirkung des streitgegenständlichen Vorhabens ist mithin nicht gegeben. Dabei wird nicht übersehen, dass sich durch das Bauvorhaben die Wohnsituation für den Kläger nicht unerheblich verändern wird, grundsätzlich ist das Interesse eines Grundstückseigentümers an der Erhaltung einer gegebenen Situation aber nicht schutzwürdig (vgl. BVerwG, B.v. 2.8.2007 – 4 BN 29/07 – juris).
Eine verstärkte oder auch erstmalige Einsichtsmöglichkeit führt nur in Ausnahmefällen zu einer Verletzung von Nachbarrechten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gibt es keinen nachbarrechtlichen Schutz vor der Verschlechterung der Aussicht sowie vor Einsichtsmöglichkeiten von benachbarten Grundstücken oder Häusern (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris; BayVGH, B.v. 15.3.2011 – 15 CS 11.9 – juris; BayVGH, B.v. 6.8.2010 – 15 CS 09.3006 – juris; BVerwG, U.v.13.6.1980 – 4 C 98.77 – juris). Insbesondere in bebauten innerörtlichen Bereichen gehört es zur Normalität, dass von benachbarten Grundstücken bzw. Gebäuden aus Einsicht in das eigene Grundstück und in Gebäude genommen werden kann. Die Grenze des Zumutbaren wird nur in Ausnahmefällen überschritten, wenn ein Vorhaben Einsichtsmöglichkeiten auf das Nachbargrundstück eröffnet, die über das hinzunehmende Maß hinausgehen, etwa wenn ein Balkon in unmittelbarer Nähe zu einem vorhandenen Schlafzimmerfenster errichtet werden soll oder wenn eine Dachterrasse aus kurzer Entfernung Einsichtsmöglichkeiten nicht nur in einen Innenhof, sondern auch in die Fenster eines Nachbargebäudes eröffnet (vgl. BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris; BayVGH, B.v. 6.4.2018 – 15 ZB 17.36 – juris; BayVGH, B.v. 27.10.1999 – 2 CS 99.2387 – juris; OVG Hamburg, B.v. 26.9.2007 – 2 Bs 188/07 – juris; Schleswig-Holsteinisches VG, U.v. 8.5.2014 – 8 A 197/12 – juris; OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 12.12.2011 – 2 M 162/11 – juris). Ein solcher Ausnahmefall ist im vorliegenden Fall – insbesondere auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Entfernungen (vgl. dazu bereits oben) – nicht gegeben. Zwar besteht durch die Baugenehmigung die Möglichkeit der zusätzlichen Einsichtnahme auf das Grundstück des Klägers, diese ist jedoch nicht unzumutbar, da sie nicht über die herkömmlichen Einsichtsmöglichkeiten hinausgeht. Das innerörtliche Grundstück des Klägers war schon bisher nicht vor Einblicken geschützt. In einer solchen Lage ist es einem Nachbarn zumutbar, wenn durch ein Bauvorhaben die Möglichkeit einer vermehrten Einsichtnahme entsteht.
Aufgrund der klägerseits im Genehmigungsverfahren dargebrachten befürchteten Belästigungen durch den Zu- und Abfahrtsverkehr bzw. den Parkverkehr hat die Klage ebenso wenig Erfolg, denn Nachbarn haben die von den Stellplätzen einer rechtlich zulässigen Wohnbebauung ausgehenden Emissionen im Regelfall hinzunehmen (vgl. BVerwG, B.v. 20.3.2003 – 4 B 59/02 – juris; BayVGH, B.v. 25.5.2010 – 15 CS 10.982 – juris). Für eine abweichende Beurteilung bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte. Die Grenze zur Rücksichtslosigkeit ist überschritten, wenn die Beeinträchtigungen und Störungen aufgrund besonderer örtlicher Verhältnisse das zumutbare Maß überschreiten und sich in der Umgebung des Baugrundstücks deshalb als unzumutbar darstellen. Das kann in Einzelfällen der Fall sein, wenn es aufgrund der örtlichen Verhältnisse zu chaotischen Verkehrsverhältnissen im unmittelbaren Umgriff des Nachbargrundstücks kommen wird (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 20.12.2013 – 1 ME 214/13 – juris zum An- und Abfahrtverkehr einer Kindertagesstätte in einer beengten Sackgasse; BayVGH, B.v. 20.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris). Solche chaotischen Verhältnisse sind unter Zugrundelegung einer Gesamtschau der gegebenen örtlichen Verhältnisse nicht zu erwarten. Ob die Stellplätze den Anforderungen des Art. 14 Abs. 2 BayBO entsprechen, kann im vorliegenden Fall dahinstehen, da diese Vorschrift allein dem öffentlichen Interesse an Verkehrssicherheit, aber nicht dem Schutz nachbarlicher Interessen dient (Simon/Busse/Nolte, BayBO, Stand: Dezember 2019, Art. 14 Rn. 2 – beckonline).
3. Der Kläger wird auch nicht im Hinblick auf die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächen in seinen Rechten verletzt. Die Regelungen des Art. 6 BayBO dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Schutz der angrenzenden Nachbarn, sodass der Nachbar grundsätzlich ein Recht darauf hat, dass dahingehende Abweichungen zu seinen Lasten nur unter Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilt werden (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris; Simon/Busse/Dirnberger, BayBO, Art. 66 Rn. 258 – beckonline).
Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind. Vorliegend wurde eine Abweichung in Richtung des klägerischen Grundstücks von H = zwischen 11,97 m und 12,16 m (aufgrund nach Nordwesten leicht ansteigenden Urgeländes) bei einem eingehaltenen Abstand von 3,80 m erteilt.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO müssen die Abstandsflächen auf dem Grundstück selbst liegen. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe, Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO, und beträgt 1 H, mindestens 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO), vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge genügt als Tiefe der Abstandsflächen ½ H, mindestens aber 3 m (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO). Die (mindestens) einzuhaltende Abstandsfläche von ½ H, hier also ca. 6 m, ist bei dem vorliegenden Abstand zur Grundstücksgrenze von 3,80 m nicht gegeben.
a. Der Kläger ist vorliegend bereits nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) daran gehindert, sich auf eine Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung zu berufen.
Bei einer qualitativ und quantitativ vergleichbaren Abstandsflächenüberschreitung sowohl des Bauherrn als auch des Nachbarn an derselben Grundstücksgrenze kann sich der Nachbar in der Regel nach dem in der gesamten Rechtsordnung geltenden Grundsatz von Treu und Glauben nicht darauf berufen, dass das Gebäude des Bauherrn die Maßgaben des Art. 6 BayBO nicht einhält oder zu Unrecht eine Abweichung erteilt wurde. Die beidseitigen Überschreitungen müssen etwa gleichwertig sein und dürfen nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris). Entgegen des Vorbringens des Klägers spielt es dabei keine Rolle, ob das Gebäude des Nachbarn seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet wurde oder Bestandsschutz genießt (vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris; VG München, U.v. 15.7.2019 – M 8 K 19.1250 – juris).
Die quantitative Vergleichbarkeit, bei der keine zentimetergenaue Entsprechung gefordert wird, sondern eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der Beeinträchtigungen (vgl. VG München, U.v. 15.7.2019 – M 8 K 19.1250 – juris m.w.N.), ist gegeben. Auf dem klägerischen Grundstück beträgt die vorliegende Abstandsfläche ca. 3,50 m bei mindestens einzuhaltenden ½ H von ca. 6,08 m (1 H = ca. 12,16 m gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1, 2, 4 BayBO), wobei die Wand eine Länge von ca. 10,9 m aufweist. Das streitgegenständliche Gebäude hält bei (an der vom Urgelände aus gemessenen höchsten Stelle der Wand) einzuhaltenden mindestens ½ H von 6,08 m einen Abstand von 3,80 m ein.
Auch die quantitative Vergleichbarkeit liegt vor. Keine Rolle spielen dabei etwaige (frühere) Genehmigungen des Nachbargebäudes oder Bestandsschutz. Anders wäre dies bspw. im Fall einer Abstandsflächenübernahme i.S.d. Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO, wofür keine Anhaltspunkte ersichtlich sind (vgl. VG München, U.v. 15.7.2019 – M 8 K 19.1250 – juris).
b. Darüber hinaus ist die erteilte Abweichung rechtmäßig.
Es kann dahinstehen, ob auch nach Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO und entgegen dem gesetzgeberischen Ziel der Neuregelung (vgl. LT Drs. 17/21574, S. 13) weiterhin eine Atypik für eine Abweichung von den Regelungen des Abstandsflächenrechts erforderlich ist, da eine Atypik jedenfalls vorliegt. Diese kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris). Vorliegend ergibt sie sich daraus, dass in der innerstädtisch dicht bebauten Umgebung des Baugrundstücks neben dem klägerischen Wohnhaus eine Vielzahl weiterer Gebäude die Abstandsflächen in ähnlichem Ausmaß nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem eigenen Grundstück einhält. Luftbildern sowie dem Katasterauszug nach ist dies bspw. auf den Grundstücken Fl.Nrn. 864, 863, 863/3 und 865 der Fall.
Auch die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der öffentlichrechtlich geschützten nachbarlichen Interessen ist gegeben. Die Beklagte hat im Bescheid ausführlich, sachgerecht und einzelfallbezogen zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen der Nachbarn abgewogen (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris) und ist in nicht nach § 114 VwGO zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass die durch das Vorhaben ausgelöste Beeinträchtigung der Besonnung, Belichtung und Belüftung des klägerischen Grundstücks zumutbar ist. In diese Abwägung miteinbezogen durfte auch die Tatsache, dass auch das klägerische Wohnhaus in vergleichbarem Umfang Abstandsflächen auf das Baugrundstück wirft (vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris), sowie ein Vergleich mit der umliegenden Bebauung (vgl. VG München, U.v. 15.7.2019 – M 8 K 19.1250 – juris). Im Übrigen wird auf die hier in gleicher Weise maßgeblichen Ausführungen unter Ziff. 2 Bezug genommen.
Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung in bauplanungs- oder bauordnungsrechtlicher Hinsicht drittschützende Normen verletzt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, sind nicht ersichtlich. Anhaltspunkte für die klägerseits unsubstantiiert behauptete Unbestimmtheit der Baugenehmigung (Art. 37 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz – BayVwVfG) sind nicht ersichtlich.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, da er keinen Antrag gestellt und sich somit keinem eigenen Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).